Donnerstag, 17. November 2011

Lehren aus Island: Das Volk kann die Macht erringen



Wie der schnelle Fortschritt in Island seit dem Kollaps der Banken zeigt, wird das 21. Jahrhundert das Jahrhundert des gemeinen Mannes sein, von uns

von Birgitta Jónsdóttir am 15. November 2011
Der holländische Innenminister sagte in einer Rede am Tag der freien Presse in diesem Jahr: „Das Gesetze-machen ist wie eine Soße, niemand will wirklich wissen, was drinnen ist.“
Er bezog sich darauf, wie teuer das Gesetz freie Information ist, und schlug vor, dass die Journalisten nicht so viel Regierungsinformation verlangen sollten. Seine Worte legten eins der Kern-Probleme unserer Demokratien offen: zu viele Leute kümmert es nicht, was in die Soße eingeht, nicht einmal die sogenannten Gesetzgeber, die Parlamentarier.
Wenn die 99% unsere Macht, unsere Gesellschaften fordern, dann müssen wir irgendwo anfangen. Ein erster wichtiger Schritt ist, die Verbindungen zwischen den Multis und dem Staat zu kappen, um den Prozess der Gesetzgebung transparenter und für jedermann zugänglicher zu machen, der wirklich wissen oder dazu beitragen will. Wir müssen wissen, was in dieser Gesetzessoße ist; das Monopol der Lobbyisten der Multis muss enden – besonders, wenn es um Gesetze geht, die die Banken und das Internet regeln.
Die isländische Gesellschaft besteht nur aus 311000 Seelen, weswegen wir eine relativ kleine Bürokratie haben und schneller reagieren können als in anderen Ländern. Viele haben Island als das ideale Land für Experimente mit neuen Lösungen in einer Ära der Verwandlung angesehen. Ich stimme dem bei.
Wir hatten die erste Revolution nach dem Finanzkrach 2008. Dank des Mangels an Transparenz, wegen Korruption und Nepotismus hatte Island die größte finanzielle Herdschmelze in der Menschheitsgeschichte, und das hat uns zutiefst erschüttert. Das isländische Volk merkte, dass alles, worauf wir unser Vertrauen gesetzt hatten, uns betrogen hatte. Eine der Forderungen während der folgenden Proteste – bei denen wir unsere Regierung los wurden, den Manager der Zentralbank und den Chef der Finanzbehörde – war, dass wir unsere Verfassung neu schreiben müssten. „Wir“, d. h. die 99%, nicht die Politiker, die uns betrogen hatten. Eine weitere Forderung war, dass wir wirklich demokratische Werkzeuge haben sollten, wie etwa, sofort ein nationales Referendum fordern und das Parlament auflösen zu können.
Als Aktivistin, Web-Entwicklerin und Poetin, habe ich nie davon geträumt, ein Politiker zu sein und wollte auch nie Mitglied einer Partei sein. Das hat sich in diesen außergewöhnlichen Zeiten geändert. Ich half, eine politische Bewegung aus verschiedenen Graswurzel-Bewegungen nach der Krise zu schaffen. Offiziell haben wir uns 8 Wochen vor den Wahlen gegründet mit einer Struktur, die auf Konsens und Horizontalität beruhte. Wir hatten keine Führer, aber wechselnde Sprecher; wir definierten uns nicht als links oder rechts, sondern um eine Agenda herum, basierend auf demokratischen Reformen, Transparenz und Rettungsaktionen für das Volk, nicht die Banken. Wir gelobten, dass niemand länger als 8 Jahre im Parlament sein sollte und dass sich unsere Bewegung auflösen sollte, sobald unsere Ziele innerhalb von acht Jahren erreicht wären. Wir hatten kein Geld, keine Experten; wir waren schlicht einfache Leute, die die Nase voll hatten und die die Macht innerhalb und außerhalb des Systems wollten. Wir erhielten 7% der Stimmen und vier von uns betraten den Bauch des Ungeheuers.
Viele große Dinge sind in Island geschehen seit dem Schock von 2008. Unsere Verfassung wurde neu geschrieben vom Volk für das Volk. Eine Verfassung ist so ein wichtiger Maßstab für das, in was für einer Art Gesellschaft die Leute leben wollen. Es ist der soziale Kontrakt. Sobald er verabschiedet ist, wird unsere neue Verfassung dem Volk mehr Macht geben und uns bessere Mittel geben, um jene an der Macht zu zügeln. Die Grundlage der Verfassung wurde von 1000 Leuten gelegt, die willkürlich aus dem nationalen Register gegriffen wurden. Wir wählten 25 Leute, um die Vision in Worte zu fassen. Die neue Verfassung liegt jetzt im Parlament. Es liegt jetzt an den 99%, eine nationale Abstimmung zu verlangen, damit wir im Parlament genau wissen, was das Volk will, und das werden wir befolgen. Wenn die Verfassung durchgeht, werden wir fast alles erreicht haben, was wir uns vorgenommen haben. Unsere Agenda lag auf mehreren offenen Plattformen; direkte Demokratie war der Norden unseres politischen Kompasses bei allem, was wir tun.
Doch die Mittel für die direkte Demokratie zu haben, ist noch nicht genug. Wir müssen Mittel und Wege finden, die Leute zu inspirieren, bei der Schaffung der Wirklichkeit, in der sie leben wollen, mitzuwirken. Dies kann nur geschehen, indem man die direkte Demokratie vor Ort bringt. Dann werden die Leute die unmittelbare Auswirkung dessen, was sie eingegeben haben, spüren. Wir brauchen keine größerem Systeme, sondern müssen sie kleiner machen, damit sie uns wirklich dienen und wir sie wahrhaftig gestalten können.
Die Hauptstadt Reykjavik hat eine Plattform für direkte Demokratie geschaffen, wo jeder einen Vorschlag in ein Gemeindeforum legen kann über Dinge, die in der Stadt gemacht werden sollten. Der Stadtrat muss die wichtigsten fünf Vorschläge aufgreifen und jeden Monat durchführen. Und der logische Schritt danach ist, dass man dasselbe System für die Ministerien schafft.
Durch Gespräche, die ich mit Leuten von Occupy London hatte, wurde klar, dass wir alle in denselben Bahnen denken. Alle Systeme sind am Ende: die Banken, die Erziehung, Gesundheit, die sozialen und politischen Systeme - die logischste Sache wäre, mit einem neuen System zu beginnen, das auf anderen Werten als nur Konsumismus basiert, der zur Maximierung des Profits und Selbst-Zerstörung führt. Wir sind stark, die Macht gehört uns: wir sind viele, die anderen sind wenige. Wir leben in einer Zeit der Krise. Lasst uns diese Zeit anpacken, denn es ist die einzige Zeit, in der wirkliche Veränderungen durch die Massen möglich sind.
Das Original liegt hier.

1 Kommentar:

  1. Hallo,

    SolaBona hat mir mitgeteilt, dass diese Seite der ehemalige Mowitz vom Tagesschauforum ist.
    Besten Dank noch für die gut recherchierten und wertvollen Infos.
    Manchmal muss man sich fragen, warum so viele schlimme Dinge auf dieser Welt passieren und vielen Dingen steht man einfach fassungslos gegenüber. Gerade über Libyen habe ich mich sehr aufgeregt, so dass ich Schmerzen im linken Arm bekam. Ich habe den Glauben an eine Gerechtigkeit hier auf Erden irgendwie verloren.
    Aber es gibt das Gesetz von Aussaat und Ernte.
    Ich bin mir sicher, dass viele Dinge sich irgendwann rächen werden, zumindest werden es solche Verbrecher mit dem Verlust von Empfindungen bezahlen, wo in der Bibel vom anderen Tod gesprochen wird.
    Jetzt erst mal ausruhen und die Aufregung nicht zu einem Dauerzustand werden lassen, weil man sich sonst selbst schadet. Ich weiß aus eigener Erfahrung, dass das manchmal schwer ist. Aber es muss sein.

    Gute Erholung und hoffentlich auf ein Wiedersehen.

    Berthold Bilz

    PS: Übrigens war ich der Jeremia beim TS-Forum

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