Samstag, 23. August 2014

Andre Vltchek: Wo ist Indien? Auf zwei Stühlen!

Andre Vltchek: Wo ist Indien? Auf zwei Stühlen!

Indien, wo bist Du? Bist Du wirklich im Lager der BRICS, kämpfst Du für eine neue, gerechte Welt, oder teilst Du gerade das Bett mit Deinem früheren Kolonialherren und seinem mächtigen Sprössling?
Indien, ein BRICS-Land, ist tatsächlich nirgends zu sehen, während Brasilien, Südafrika, Russland und China zunehmend feindseligeren Angriffen ausgesetzt sind. Indien hilft nicht, während die USA und Europa gerade alle Arten von “Oppositionsbewegungen” in Ländern fabrizieren, die dem Westen noch den Weg zu völliger, unwidersprochener globaler Vorherrschaft versperren.
Indien, ein BRICS-Land, schweigt, während China und Russland beide umzingelt, provoziert und angegriffen werden; zu einer Zeit, in der ihre Nachbarländer fortwährend gegen sie in Stellung gebracht werden, ideologisch wie militärisch.
Indien, ein BRICS-Land, scheint sich nicht daran zu stoßen, dass die USA ihre militärische Präsenz in Asien ausweiten, von Okinawa zu den Philippinen und Katar, oder dass Russland durch irre Propaganda dämonisiert und provoziert wird, und durch umnachtete Sanktionen, verhängt vom Westen, der selbst derjenige war, der die ukrainische Regierung stürzte und an ihre Stelle eine brutale faschistische Diktatur setzte.
Und während die westlichen Massenmedien in voller Fahrt Propaganda über die ganze Welt ausgießen, drucken die indischen Zeitungen und Magazine getreu die vielen giftigen Lügen und Erfindungen nach, wiederholen sie die Fernsehstationen, auf genau die gleiche Art und Weise, wie es die privat betriebenen phillippinischen und indonesischen Medien tun. Aber die Philippinen und Indonesien sind Vasallenstaaten des Westens und gehören nicht zu den BRICS, Indien aber doch, zumindest auf dem Papier.
Im Economic & Political Weekly, erschienen 2013, schrieb Atul Bhardwaj:
“Indien hat sich in einem anti-chinesischen Muster, das von den Vereinigten Staaten gesetzt wurde, selbst gefangen. Das hat zu einer Situation geführt, in der das Militär seinen Einfluss auf die Innen- und Außenpolitik zunehmend erhöht und der zivilen Regierung eine aggressive Haltung aufzwingt. Wenn Indien sein Streben nach dem Großmachtstatus nicht aufgibt und eine Außenpolitik verfolgt, die auf asiatischer Kooperation und Stärke aufbaut, wird es weiter als Kanonenfutter für die Ziele westlicher Strategie dienen.”
Das trifft zu, aber es ist nicht nur ein anti-chinesisches Muster; es ist das strikt pro-westliche Muster, das den herrschenden Eliten Indiens dient, und es ist das Muster aus Desinformation und Unwissenheit, das den Mitgliedern der unterpriveligierten Mehrheit aufgezwungen wird.
Ich fuhr zurück nach Indien, um zu sehen, wo das Land im Verhältnis zu BRICS wirklich steht. Ich habe mich für eine sehr ungeplante, chaotische, jazzige und spontane Reise entschieden. Ich wollte mit der Mehrheit Indiens reden; mit Leuten in Dörfern und Städten; sie fragen, was sie wirklich über BRICS wissen, über den neuen Wind der Freiheit und des Fortschritts, der überall in Lateinamerika weht, über den ungeheuren sozialen Wandel in China, und über ihr eigenes Leben in dem Land, das der Westen nach wie vor die “größte Demokratie der Welt” nennt.
***
Die zwei Dorffrauen sind von Kopf bis Fuss in buntes Tuch gehüllt, ganz und gar, anders als in Saudi-Arabien, wo nur die Augen sichtbar sind. Sie tragen riesige verbogene Zinnschalen auf ihrem Kopf, und diese Schalen sind voll mit Kuhmist.
Das Dorf heißt Karora und liegt fast 200 Kilometer nördlich von Neu Delhi, im Staat Haryana.
Hier wurde 2007 ein frisch verheiratetes Paar kaltblütig ermordet, nachdem die Versammlung der Dorfältesten, Panchayat, den ‘Schuldspruch’ verhängt hatte. Beide, das Mädchen (18) und der Junge (23) trugen keine andere ‘Schuld’ als dem selben Unterklan anzugehören.
Damals berichtete der Deccan Herald:
“Im Juni 2007 wurde das Paar von den Verwandten des Mädchen aus dem Bus Richtung Karnal gezogen und brutal ermordet. Ihre Körper wurden im Dorf vorgeführt und dann in einen Kanal geworfen.”
Wir kamen nicht hierher, um nur über Ehrenmorde und das schreckliche Los indischer Frauen zu reden; wir kamen in diese entlegene Ecke von Haryana, um über das zu diskutieren, was der Westen die ‘größte Demokratie der Erde’ nennt, und, vor allem, wie Indien wirklich in die BRICS passt, und über deren entschlossenen Kampf gegen westlichen Imperialismus und Marktfundamentalismus
Ja, Indien ist ein Teil der BRICS; aber auf dem Land ist es feudal, und in den Städten kapitalistisch. Es nähert sich immer mehr seinem Kolonialherren und dem großen Empire.
In Karora Village,  two women with covered faces
Karora, zwei Frauen mit verhüllten Gesichtern
Wir konnten den Gesichtsausdruck der beiden Frauen aus dem Dorf Karora nicht sehen, als wir sie nach Demokratie, Wahlen, Frauenrechten, Kastenunterdrückung und Ehrenmorden befragten. Aber die erste Frau fing, vor einer ganzen Armee von Zuschauern, tapfer, wenn auch zögernd an zu sprechen:
“Ich bin nur eine arme Frau vom Dorf, wie kann ich so etwas wissen? Ich muss 14 Stunden arbeiten, jeden Tag, um das Leben meiner Familie zu sichern. Mein Mann hat keine regelmäßige Arbeit, und er ist Alkoholiker. Ich habe ständig Sorgen, dass meine Kinder hungern müssen. Der Regierung sind Menschen wie wir egal und ich wüßte nicht, wer sonst helfen könnte. Ich habe viel Angst, also kann ich nicht mehr sagen über das Kastensystem oder Ehrenmorde. Frauen haben hier keine Freiheit.”
Die zweite Frau klang wie ihr Echo, und fügt noch hinzu:
Ich kenne die Familie des Paares, das weggelaufen ist, und das auf Anweisung des Panchayat gelitten hat, aber ich kann darüber nicht reden. Solche Dinge machen mir Angst. Frauen haben hier keine Freiheit. Die meisten von uns kämpfen ums Überleben, und ich weiß nicht, wie die Dinge besser werden könnten, in absehbarer Zeit. Und Demokratie: Ich weiß nicht, wie Wahlen die Lebensbedingungen in diesem Dorf verbessern könnten und ich weiß nichts über Volksbewegungen in anderen Ländern oder über das, was anderswo passiert.”
Schon bald mischte sich die Menge der Zuschauer in die Debatte ein.
Die Jugendlichen umringten uns, um den Grund für unser plötzliches Erscheinen herauszufinden.
Ein Junge namens Biswan, im schwarzen T-Shirt. erklärte:
“Mein Eindruck von dem, was sie ‘indische Demokratie’ nennen, und von den politischen Parteien, die an diesem Spiel teilnehmen, ist… das das ein Muster ist, um Stimmen für eine politische Partei zu erbitten, indem ihre Leute den Dörflern örtlichen Schnaps geben, einen Tag vor dem Wahltag, und dann verschwinden, um nicht wieder gesehen zu werden für die nächsten fünf Jahre. Wir haben hier keine Arbeit, noch kann hier jemand von dem Verdienst vernünftig leben. Ich habe nicht den Eindruck, dass diese Art Demokratie für uns taugt.. Wir haben immer noch keine wirkliche Freiheit.”
Und dann reden die Dorfjugendlichen alle gleichzeitig:
“Hier redet das Geld, wir haben alle eine gewisse Ausbildung, aber nur die, die irgendwelche Beamten bestechen können, schaffen es, eine reguläre Arbeit zu bekommen. Wir sind arme Dorfleute und kennen schon die Entwicklungen in unserem eigenen Land nicht, wie sollen wir da etwas über China, Lateinamerika und andere Länder wissen?”
Der verlorene Gesichtsausdruck der Dorfbewohner zeigte ihre Enttäuschung, sogar Resignation. Sicherlich sahen wir hier keine Hoffnung und keinen Enthusiasmus.
Unser Fahrer, Sunil, wirkte extrem unglücklich, hier zu sein. “In diesen Dörfern haben sie schon so viele Wagen abgefackelt, die jenen gehörten, die zum Fragen gekommen sind!”
Ich bestehe darauf, unsere Arbeit hier zu beenden, im Herzen des Staates Haryana. Der Fahrer schäumt vor Wut. Er fährt uns herum, verpasst die Autobahn einige Male, aber nachdem wir unser Navigationssystem aktivieren, gibt er auf und bringt uns schlicht dorthin, wohin wir wollen.
Später, in Delhi, ruft mich mein guter Freund und Kollege Anish an, und erklärt:
“Ehe er mich zu Hause absetzte, sagte er, er war so wütend auf Dich, er war bereit, gegen einen Baum zu fahren und uns alle umzubringen.”
“Uns umbringen?” Ich dachte, ich hätte mich verhört.
“Ja. Du musst wissen, er war ein Soldat, hat in Kaschmir gedient… Soviel hat er mir erzählt, gerade vor wenigen Minuten. Wir hatten einen Schwatz… Er sagte, er wäre vorm Kriegsgericht gewesen, weil er hier einige Zivilisten getötet hätte. In Kaschmir, 1996, war er auf einer Mission, um einige Mitglieder einer Gruppe von Aufständischen einzufangen, aber die Sache lief schief und die Leute, hinter denen er her war, waren geflohen… Also schoss er auf Zuvilisten, hat mehrere von ihnen getötet. Er sagte, er hat ein LMG im Haus gebraucht, zwei Magazine Munition leergeschossen und mindestens 3 Zivilisten getötet… Einfach so!”
“Warum fährt er Taxi?” fragte ich. “Sollte er dann nicht im Gefängnis sitzen?”
Anish kommentierte nur lakonisch:
“Als wir darüber redeten, war er deprimiert. Nicht wegen dem, was er getan hat, sondern weil er erwischt und bestraft wurde. Er sagte zu mir: ‘wäre es mir gelungen, wenigstens einen Aufständischen zu töten, wäre ich nie vors Kriegsgericht gekommen, selbst wenn ich Dutzende Zivilisten getötet hätte.”
Ich fragte mich, ob dieser Ansatz wirklich als inspiration für andere BRICS-Länder dienen könnte.
***
Einige 1500 Kilometer von Karora entfernt steht ein Monstergebäude, das dem reichsten Mann Indiens gehört, Mukesh Ambani, der vermutlich teuerste Wohnsitz, der je auf diesem Planeten errichtet wurde.
Arundhati Roy beschreibt Ambanis Heim in ihrem Buch “Kapitalismus – eine Geistergeschichte”:
“…Die siebenundzwanzig Stockwerke, drei Hubschrauberlandeplätze, neun Aufzüge, hängenden Gärten, Ballsälen, Aussichtszimmern, Sportsälen, sechs Parkgeschossen und sechshundert Dienstboten… In einer Nation von 1,2 Milliarden besitzen Indiens hundert reichste Menschen ein Vermögen, das einem Viertel des BIP entspricht.”
Aber all diese Milliarden zu besitzen ist nicht genug. Um zu herrschen, um die Gesellschaft gänzlich zu kontrollieren, muss diese kleine Gruppe moderner Rajas immer einen Weg finden, um ihr mittelalterliches, feudales Verhalten moralisch zu rechtfertigen.
Der wirkungsvollste Weg dahin ist durch beinahe völlige Kontrolle der Medien. Arundhati Roy fährt fort:
“Mukesh Ambani selbst ist 20 Milliarden Dollar wert. Er hält die Aktienmehrheit an Reliance Industries Limited (RIL)… RIL hat vor kurzem 95 Anteile von Infotel erworben, einem TV-Konsortium, das 27 Nachrichten- und Unterhaltungssender kontrolliert, einschließlich CNN-IBN, IBN Live, CNBC, IBN Lokmat und ETV, in fast jeder regionalen Sprache. Infotel besitzt die einzige landesweite Lizenz für das 4G Breitband, ein Hochgeschwindigkeits-Informationskanal, der, wenn die Technologie funktioniert, die Zukunft des Informationsaustausch sein könnte.”
Die Kritik an den indischen Eliten kommt nicht nur von Links. Kürzlich veröffentlichte das konservative britische Nachrichtenmagazin The Economist eine Titelgeschichte über Ambani: “Der ungeliebte Milliardär”, und stellte die rhetorische Frage: “warum Mukesh Ambani, Indiens reichster Mann, sein Reich reformieren muss”:
“Die Beziehung von Reliance zur Regierung ist noch beunruhigender. Anti-Korruptions-Aktivisten behaupten, Mr. Ambani sei die Macht hinter dem Thron von Indiens politischen Führern…”
In der indischen ‘Demokratie’ bezahlen die echten Herrscher des Landes Politiker, um an die Spitze zu kommen, während die Wähler für ihre Stimme gewissermaßen bezahlt werden, was dem Regime zupaß kommt. Die Massenmedien formen die öffentliche Meinung ununterbrochen, so dass sie genau dort bleibt, wo die Eliten sie haben wollen.
Von seiner verwunderlichen Toleranz gegenüber mittelalterlichen, unterdrückerischen ‘kulturellen Praktiken’ bis zur groben Brutalität gegenüber Frauen und ethnischen wie religiösen Minderheiten, ist Indien schwerlich ein Lichtblick für die anderen Nationen der BRICS oder gar den Rest der Welt. Wie seine Wirtschaft, seine Wahlgebräuche, seine Außenpolitik und sein Regierungssystem aufgebaut sind, ist der indische Staat viel näher an den MINT (Mexiko, Indonesien, Nigeria, Türkei – obwohl in dieser Gruppe auch Mexico ist, das, trotz allem, kulturell und historisch ins sozialdemokratische Lager gehört), einer Gruppe, die, würde es ihr gestattet, den BRICS beizutreten, deren politische und soziale Richtung sicher zerstören würde.
Aber der Westen ist immer extrem großzügig zu seinen Verbündeten und den wirtschaftlichen Fußtruppen. Er bewirbt und verherrlicht diese Länder, die bereit sind, ihr Volk zu opfern, es auf den Opferaltar des Marktfundamentalismus zu werfen.
Daher sind für den Westen Indonesien und Indien, zwei enorme und verarmte Länder, die wahren demokratischen und wirtschaftlichen Stars!
***
Das DLF Einkaufszentrum in Vasant Kunj ist ein Symbol des neuen Reichtums und beherbergt einige internationalen Spitzenmarken, von Armani bis Prada.
Es gibt ganze Armeen von Wachen, einige in weißen Butleruniformen, andere mit Gewehren bewaffnet. Fotografieren ist verboten. Die Überwachung ist lückenlos, wie an jedem anderen Ort, der von den Eliten frequentiert wird.
Rechts neben dem DLF Einkaufszentrum ist der Slum Khushampur Pahari, ein elender und rauher Ort. Kinder laufen ziellos und barfuß herum. Er ist nicht so schmutzig wie manche der größeren Siedlungen in Mumbai oder Kalkutta, aber dennoch sind die Leute hier sichtbar verzweifelt und benachteiligt.
Khushampur Pahari slum
Im Slum Khushampur Pahari 
Mr. Jagdish ist ein Tagelöhner, ohne feste Anstellung:
“Ich habe keine regelmäßige Arbeit und das System ist für die Reichen gemacht. Wir, die Armen, die die große Mehrheit in Indien sind, zählen nicht.”
Ich frage ihn nach dem Einkaufszentrum, aber er besteht darauf, es ‘dieses große Gebäude da’ zu nennen.
“Da gibt es dieses große Gebäude da, aber dahin gehe ich nicht. Sie haben es in der Nähe gebaut, aber man würde mir nie erlauben, hineinzugehen. Ich würde zusammengeschlagen, wenn ich versuche, dahin zu gehen.”
Er schaut in die Ferne:
“Wir kämpfen hier um die einfachsten Notwendigkeiten. Wir haben kein sauberes Trinkwasser, und vor jeder Wahl bieten sie uns freien Stromanschluss an und Wasser. Die Versprechen werden nie erfüllt; sie lügen uns an. Und sie haben immer gelogen, ob es die Kongresspartei ist oder die BJP…”
Über den Dächern der Siedlung hängen Strommasten und Drähte. Ich frage, ob es den Leuten hier gelingt, umsonst an Strom zu kommen, indem sie den Saft einfach stehlen, wie sie es in Peru oder Haiti tun, aber die Antwort ist ein resolutes ‘nein’. Sie werden ständig überwacht. Tatsächlich leiden die Leute hier unter völlig überteuerten Preisen der privaten Gesellschaft Reliance Energy (im Besitz von Anil Ambani, Bruder des reichsten Mannes des Landes, des oben erwähnten Mukesh Ambani), die die ganze Gegend mit Strom versorgt.
“Wir erhalten jeden Monat eine Rechnung von 1 000 Rupien (etwa 16 $),” erklärt ein älteres Ehepaar eine Tür weiter. “Dazu müssen wir noch Schmiergeld an die Beschäftigten der Stromfirma zahlen, um den Anschluss zu halten. Wir müssen in glücklicheren Vierteln um Wasser betteln, und nicht immer wollen uns die Leute dort helfen.”
Ein alter Mann in dem Haus verfolgt tatsächlich, was in der Welt geschieht:
“Ich nehme die Veränderungen wahr, die in China stattfinden, aber unsere Regierung tut nicht das Gleiche für uns. Hier stehen die Dinge so schlimm, dass wir, wenn wir ernsthaft krank werden, einfach sterben.”
“Und was ist mit der Demokratie?” frage ich.
“Demokratie ist für die Reichen.”
Mr. Jagdish schaltet sich ein: “Wie Du gehört hast, politische Parteien kommen hierher, und sie versprechen uns freien Strom und Wasser, aber nach den Wahlen passiert nichts. Die Demokratie funktioniert für uns nicht; das ist das Werkzeug für die Leute mit Geld, um an der Macht zu bleiben.”
Eine Straße hinunter bestätigt eine Frau mit Kind, dass es in dieser Siedlung keine Versorgung mit sauberem Wasser gibt.
Irgendwann fangen die kleinen, barfüssigen Kinder an, zu betteln.
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Arwind Kerjiwal
Arwind Kerjiwal
Der Manager des ITC-Hotels in Jaipur, Rajasthan, philosophiert:
“Arvind Kejriwal von der AAM Admi Partei (AAP) war sehr kritisch zu den privaten Medien, und die Massenmedien wurden sehr zornig auf ihn… Sie sehen; Arvind Kejriwal könnte die indische Antwort auf Lateinamerikas Führung werden!”
Also gehe ich und sehe mir ihn und seine Leute an.
Am 3. August 2014 hält in der alten Sternwarte, Jantar Mantar, in Neu Delhi, die Aam Aadmi Partei eine Massenversammlung ab, bestehend aus etwa 5 000 örtlichen Anwohnern, die Neuwahlen fordern. Es gab feurige Reden vom Podium, und der Führer der ÄÄP, Arwind Kerjawal, heizte der dichtgepackten Menge ein mit Losungen gegen die Korruption, schwor, er würde Reformen vornehmen, wenn er gewählt würde, zurück ins Amt. Er versprach auch, das Schicksal des gemeinen Mannes zu bessern. Der Schlachtruf des Tages war, die unterdrückende herrschende Klasse durch den demokratischen Wettkampf an der Wahlurne abzuschütteln.
Hier wissen die Leute aber sicher etwas über die BRICS und die lateinamerikanischen Revolutionen?
Aber das war nicht der Fall. Der Wahlkampf drehte sich fast ausschließlich um Korruption.
Mr. Pawan Das, ein Kabelhersteller aus dem Viertel Shahdara, redete über die Auswirkungen der AAP und ihres ehemaligen Premierministers Arvind Kejriwal, und seine vorherige, 49 Tage dauernde, Regierung in Delhi:
“Mir fiel auf, dass der Polizist in unserer Fabrik, der sonst jeden Monat 300 Rupien Schmiergeld von mir einsammeln kam, drei Monate lang nicht auftauchte. Als ich ihm begegnet bin, habe ich ihn angestachelt, doch sein erpresstes Geld einzusammeln, und fragte ihn, warum er nicht gekommen sei, um das Geld zu holen, und er antwortete, ausweichend, das er zu Wahlaufgaben versetzt sei. Ich antwortete: ‘Waren das wirklich Wahlaufgaben oder hattest Du Angst vor der Verfolgung, die durch Arvind Kejriwals starke Anti-Korruptions-Maßnahmen drohte?”
Aber BRICS oder der Kampf gegen westlichen Imperialismus – sicher nicht!
“Auf Nachfrage zu ihrer Position Indiens stärker werdendes Bündnis mit der amerikanischen Regierung und Indiens unschlüssige Haltung bei dem Treffen der BRICS betreffend, erklärten alle ihre Unkenntnis solche Dinge betreffend,” erklärte Anish in reichlich gewundener Sprache.
Dann trafen wir in Jantar Mantar einige Individuen, die ganz klar die Kunst, auf zwei Stühlen zu sitzen, vorführten.
Sowohl Mr. Deepak Lal als auch seine Frau verliehen ihrer liebsten Meinung über die Stärkung der Bindung an Amerika die Stimme:
“Es ist im Interesse Indiens, ein großer Partner bei der Schaffung von Alternativen zu dem von den USA gebotenen herschenden Paradigma zu sein, aber gleichzeitig sollten die Beziehungen zwischen Indien und den USA unbeeinträchtigt bleiben.”
Und ein anderes Paar setzte in noch kafkaeskerer Manier fort:
Die Beziehung zwischen den USA und Indien ist der Weg zu Indiens Aufstieg, zusammen damit, Verbindungen zu schaffen, die eine multipolare Welt entstehen lassen.”
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Sudhanva at his May Day Bookstore
Sudhanva im Buchladen May Day
Im May Day Buchladen in Neu Delhi, nach einer avantgardistischen Theatervorstellung, traf ich meinen Freund Sudhanva. Genosse Sudhanva Deshpande ist der Herausgeber von LeftWordBooks, und außerdem ein berühmter indischer Intellektueller und Autor. Er erklärte:
Du hast völlig Recht damit, die Frage zu stellen: “Wo ist Indien bei all dem?” Das ist eine sehr gute Frage, weil es wohlbekannt ist, dass sich, in den letzten Jahren, ein Jahrzehnt oder mehr, die indische Außenpolitik mehr und mehr den USA zugewandt hat. Vor einigen Jahren hat Indien den Indo-US-Nuklearhandel abgeschlossen. Das führte daheim, hier in Indien, zu einigem Widerspruch, aber die Regierung hat weitergemacht mit dem Vertrag. Die Hindu-Rechte hat sich mehr und mehr zu den USA hin orientiert. Die Regierung spricht sich auch für eine viel engere Bindung an Israel aus. Wie Du weisst, ist Indien heute der größte Kunde israelischer Waffen weltweit.”
“Früher dieses Jahr, im Mai, ist in den allgemeinen Wahlen die Partei der Hindu-Rechten, die Bharatiya Janata Partei (BJP) an die Macht gekommen. Sie wird von Narendrea Modi geführt, einem Mann, der allgemein als Komplize bei dem Pogrom an Muslimen in seiner Heimatstadt Gujarat im Jahre 2002 gesehen wird, als er dort Premierminister war. Sein Wahlkampf war sehr kraftbetont, eine richtige Macho-Kampagne… Er präsentierte sich selbst und seine Partei als aggressive Nationalisten. Der Vorwahlkampf war geprägt von antimuslimischer Gewalt und Rhetorik. Was die Außenpolitik angeht, gibt es schon lange einen Trend für eine immer stärkere Orientierung nach Westen, zu den USA. Bei der laufenden Aggression gegen Gaza, zum Beispiel, hat die indische Regierung eine Haltung der sogenannten ‘Äquidistanz’ eingenommen, von Israel wie auch der Hamas, und das ist wirklich… das compromittiert Indiens langjährige Unterstützung der Sache der palästinensischen Unabhängigkeit. Und das geht zurück bis auf die 1940er, als Indien selbst noch nicht unabhängig war.
Die Tatsache, dass Indien eine Kolonie war, und dass einen antikolonialen Kampf geführt hat – das alles scheint jetzt eine entfernte Erinnerung.”
Ich fragte Sudhanva nach den BRICS, konkret: “Ist es überhaupt möglich, dass Indien, dort, wo es jetzt steht, als Mitglied der BRICS angesehen werden kann und sollte?”
“Ich denke, jetzt versucht die indische Außenpolitik gerade, ihre Position zu vermessen,” antwortete er.
Und er fuhr fort:
Auf der einen Seite gibt es den Trend, sich immer mehr an die Seite der USA zu begeben, und immer engere Verbindungen mit Israel zu knüpfen. Also das ist auf der einen Seite. Auf der anderen Seite sind da die harten ökonomischen Realitäten. Und das ist es, was das indische Establishment zwingt, auf Formationen wie die BRICS zu schauen. Wenn das tatsächlich geschieht, dass die BRICS nicht nur ein ökonomischer Klub sind, sondern wenn sie anfangen, eine entschiedenere antiimperialistische Position einzunehmen, dann müsste das indische Establishment wirklich entscheiden, wo es steht. Ich kann mir nicht vorstellen, dass Indien demnächst sich gegen den Imperialismus stellt, von Lippenbekenntnissen abgesehen.”
Wir reden über die Vergangenheit, über die entschieden antiimperialistische Haltung Indiens in seiner nachkolonialen Periode. Nehru brachte dieses Land nach Bandung, Indonesien, 1955, wo die Bewegung der Blockfreien geschaffen wurde.
Sudhava erläutert:
“Indien hat die Bewegung der Blockfreien tatsächlich in den späten 1980ern aufgegeben. In gewissem Sinn kann man sagen, dass das, was in Delhi passiert ist, in den frühen 80ern, das war der Schwanengesang der Bewegung der Blockfreien… Tatsächlich wurde Indien immer ambivalenter der Idee der Blockfreiheit gegenüber, was dabei half, diese Bewegung zu beenden, weil Indien ein so bedeutender Teil war.”
Und dann nahm Indien in den frühen 90ern eine neoliberale Wende, und selbst die Vergangenheit wurde vergessen.
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Was kann von der jetzigen nationalistischen Regierung von Narendra Modi in Bezug auf die BRICS erwartet werden?
Benny Kuruvilla ist aus Kerala, ein anerkannter Experte zu den BRICS, und politischer Anführer der ‘Süd-Solidaritäts-Initiative’. Ich treffe ihn und seine chilenische Frau Susana Barria, eine Gewerkschaftsorganisatorin, nach einer Demonstration zur Unterstützung Palästinas, vor dem Kerala Haus, im Zentrum Neu Delhis.
Benny erklärt bereitwillig:
“Modi und seine Regierung wären gerne ein Teil der westlichen Allianz und der BRICS… das ist wirklich eine ultra-nationalistische Regierung, und sie muss ihrere Ideologie Geltung verschaffen… In der Vergangenheit war alles ganz anders: während des kalten Krieges war Indien Kuba sehr nahe, und der UdSSR. Jetzt, da Indien eine sehr deutlich rechte Regierung hat, zögert es, sich dem anti-westlichen Block anzuschließen. Ich glaube nicht, dass Indien der Idee folgen wird, dass das westliche Konzept beendet werden soll. Die linken Kräfte sind in Indien heute sehr schwach, und diese Regierung ist so glücklich darüber, Teil des Klubs der großen Jungs zu sein; für sie ist es der Platz an der Sonne! Was in den BRICS und in Lateinamerika geschieht, wird vor allem von der lokalen Intelligenz beobachtet; vor allem von der Oberklasse.”
Susana schien optimistischer und hoffnungsvoller, glaubte an Veränderung, und in gewisser Weise war, was sie sagte, ein Widerhall dessen, was mir Noam Chomsky vor einigen Jahren zur arabischen Welt gesagt hatte:
Schau, fünf Jahre ehe Hugo Chavez in Venezuela an die Macht kam, war alles düster, in vielen Teilen Lateinamerikas. Wir dachten nicht, dass sich alles so schnell wenden könnte. Wir sollten es nicht unterschätzen, dass sich Dinge sehr schnell ändern können.”
Aber Indien ist nicht Venezuela. Wir drei waren uns einig, dass die indische Linke zu ‘puristisch’ ist. Sie steckt in theoretischen Definitionen fest, was Kommunismus oder Sozialismus sein sollte. Für ihren Geschmack ist China nicht sozialistisch genug; die meisten der lateinamerikanischen Länder sind nicht wirklich rein marxistisch. Am Ende wird hier viel diskutiert, aber sehr wenig erreicht.
Gujarat 2002
Gujarat 2002
Am nächsten Tag fragte ich meinen Freund Anish Gopinathan, einen ehemaligen internationalen Banker, der einige Jahre in Dubai gearbeitet hat, ehe er, angewidert, zurück nach Indien kam und anfing Chinesisch zu lernen, Sprache und Kultur, ob das, was ich bisher so gefragt und gehört hatte, irgend einen Sinn mache. Er antwortete:
“Ja. 2002 war MP Modi Premierminister in Gujarat, während des Pogroms. Jahrelang gab es ein US-Einreiseverbot gegen ihn, sie weigerten sich, ihm ein Visum auszustellen. Dieses Verbot wurde um die Wahl herum aufgehoben…”
Das selbe geschah in Indonesien, gegen Prabowo, einen Ultra-Nationalisten, der in Indonesien wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit angeklagt wurde und vom US State Department auf die schwarze Liste gesetzt, aber schnell rehabilitiert wurde, als er Anfang dieses Jahres beinahe die Präsidentschaftswahlen gewann.
Anish schloss:
“Modi ist für das Business und für den Westen. Aber in einer Weise kann er auch manchmal gegen den Westen und für Indien stehen. Du hast oft von dem indischen kolonialen Kater gesprochen, als die indischen Eliten schamhaft die Kolonialzeit verklärten. Nun, Modi ist ein Politiker, der diesen Kater nicht verspürt… So besteht er beispielsweise darauf, auf internationalen Treffen Hindi zu sprechen. All unsere Eliten wurden im Westen konditioniert: Nehru, Indira Gandhi, Rajiv Gandhi, Manmohan Singh… Aber Modi nicht! Tatsächlich steht er für einen Bruch mit diesem kolonialen Kater… Aber der Preis dafür ist – er will einen Hindu-Staat!”
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Hindu-Staat… Wir flogen nach Varanasi, in die ‘heilige Stadt’ am Ufer des Ganges. Es ist eine deprimierende, unterdrückte und elendig arme Stadt, aber gleichzeitig der Ort, für den der jetzige Premierminister – Mr.Modi – gewählt wurde.
Wir gingen zum Kashi Vishwanath Tempel, um mit den Brahmanenpriestern über deren Vision für Indien zu reden.
Die Ergebnisse waren erschütternd.
Mr. Pandey redete mit uns vor zwei militärischen Wachen, die den Eingang zum Tempel schützten. Er war ein Brahmanenpriester, der seit seiner Kindheit mit diesem Ort der Verehrung verbunden war:
“Ich bin hier, ich bin ein Priester, weil… tatsächlich… ich konnte nirgends sonst einen Job finden. Wirklich, keine reguläre Arbeit für mich… Und also verdiene ich so meinen Lebensunterhalt… Für mich ist Religion wichtig, weil sie mir ein Einkommen verschafft.. Ich mag Amerikaner, weil sie hierher kommen, und uns Geld geben…Irgendwie fühle ich, dass sie sich gut dabei fühlen, uns Geld zu geben.. ich habe keine Ahnung von Entwicklungen in China, Russland oder Lateinamerika… Es ist mir wirklich egal.”
Mr. Shyama Prasad Sharma, der ebenfalls für den Tempel arbeitet, verdeutlichte seine Sicht:
“Lateinamerika? BRICS? Nein, wir haben keine Zeit für solches Zeugs. Wir sind hier beschäftigt, in diesem Tempel, mit Geschäft, mit Handel.”
Was mit etwas Höherem, Erleuchteterem als das?
Er geht davon.
Anish ist empört:
Das ist wie ein Marktplatz; eine Marktgesinnung. Es ist wie ein Fischmarkt, oder ein Gemüsemarkt, oder eine Börse! Keine Zeit für irgendwelche großen Fragen im Leben! Das ist es, wofür die BJP kämpft. Hindu-Staat… Das ist genau, was die Mullahs in Pakistan in ihren in ihren Madrasahs zu schaffen versuchen. Eine kalte, religiöse Gesellschaft; der Code einer primitiven Gesellschaft…”
Verzweifelt nähern wir uns einem einfachen Mann, einem Verkäufer für vegetarisches Essen. Sein Name ist Mr. Anoop Upadhyaya, und er bringt die Dinge wieder in eine Perspektive;
Ich habe für Modi gestimmt, weil meine Eltern es mir befohlen haben. Ich erwarte nicht viel Verbesserung von seiner Regierung. Wenn sie nur ein Viertel dessen liefern, was sie uns versprochen haben, wäre ich zufrieden. Wir sind immer ‘Bhajpa’ (BJP) … Das ist, was wir sind. Wir denken nicht darüber nach, wir stellen es nicht in Frage.”
Wir fragen nach den BRICS.
Er reagiert nicht, als würden wir über irgend einen entfernten Planeten reden.
in Varanasi - believers and the army
In Varanasi, Gläubige und die Armee
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An irgendeinem Punkt hatte ich genug und drückte den Wunsch aus, eine altmodische Schule aufzusuchen um mit Lehrern zu reden, die schon dort waren und lehrten, ehe Indien in die pragmatisch-unbewusste Zone eintrat.
Ich wurde nach Bhigan gebracht, gleich über die Grenze der Hauptstadt, am Rande des Staates Haryana, in eine gut organisierte, saubere und optimistisch aussehende Grundschule.
Ich weiß nicht, ob das, was ich sah, wahr war, oder ob meine Freunde nur nett zu mir sein wollten und ein Schauspiel geschaffen haben, ähnlich wie in dem Film ‘Goodbye Lenin’.
Die Erzieher und der Rektor – Mr. Kuldeep Singh Chavhan, wie auch der Geschichts- und der Sportlehrer – waren äußerst freundlich, sachkundig und unterstützend.
Wir alle verliehen unserer Bewunderung für die Sowjetunion Ausdruck, und dann verdammten wir den westlichen Imperialismus.
“Freundschaft mit Russland!” rief einer der Lehrer.
“Israel ist der Unterdrücker! Die USA stehen hinter Israel!!
Dann sprach der Rektor:
“Wir sind uns wohl bewusst, dass die USA versuchen, Indien durch ihre multinationalen Gesellschaften zu kaufen!”
Dann redete ich.
Das fühlte sich an wie eine Szene aus längst vergangener Zeit, noch ehe ich zur Welt kam…
Wir haben uns nicht umarmt oder geküsst. Wir haben nicht gesungen. Aber es fühlte sich fantastisch an.
Ein Hund hat draußen gebellt.
Die Kinder sind aus der Schule gekommen. Wir redeten noch immer.
Dann fragte ich nach BRICS.
“Da ist eine Sache,” gab der Rektor zu. “Ich weiß nichts von einer Zusammenarbeit der BRICS mit Indien.”
“Aber…” heulte ich:”Indien ist ein Mitglied der BRICS.”
Schweigen.
“Aber Modi war in Brasilien!”
“Ich weiß nicht” sagte der Rektor traurig.
‘Besser, wir singen!’ dachte ich.
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Vom geografisch anderen Ende des Landes, aus den ärmsten Dalit-Dörfern um Kanchipuram in Tamil Nadu, schrieb mir mein lieber Freund Venkat (er wollte, dass nur sein Vorname in diesem Bericht auftaucht), ein in Cambridge ausgebildeter Brahmane, der so erschüttert war von der Hilflosigkeit der Armen, dass er sich gegen alles wandte, wofür die Oberkaste und die Eliten stehen:
Die soziale und politische Landschaft Indiens hat sich in Jahren nicht verändert. Wie ein fernes Trugbild kommen und gehen neue Regierungen und geben den ausgedörrten Seelen Hoffnung, die schon bald zum Sterben zurückgelassen werden, ehe die Hoffnung aus ihren Augen verschwindet!
Die neue Mittelklasse, die dem Wachstum der IT zu verdanken ist, wurde oft gepriesen und es wurde über sie berichtet, aber das ist nur ein kleiner Prozentsatz, obwohl in einem Land dieser Größe selbst solch kleine Prozentsätze eine enorme Anzahl bedeuten!
Der normale Mensch auf dem Land kämpft noch immer, durchzukommen, und hofft immer noch auf das ‘Paradies’, das jeder Politiker verspricht! Es gibt keine Zeit, zu lesen, zu denken und über andere Fragen zu diskutieren, die die Nation und die Welt betreffen. Cricketstars, Filmstars und schleimige Politiker faszinieren üblicherweise die indischen Medien, weil die Massenmedien sich nur um Einschaltquoten kümmern und nicht darum, was Leute denken und brauchen!
Also Diskussionen über BRICS oder das, was in Syrien oder Irak passiert, spielen keine Rolle. Viele Dorfbewohner akzeptieren die Stereotypen, die die westlichen Medien geschaffen haben. Beispielsweise – die USA sind das Land des Reichtums; China bedeutet billige Waren, Lateinamerika – Che auf deinem T-Shirt und Zigarren, Afrika – Hunger und gefährliche Krankheiten, Mittlerer Osten – nur Krieg!
Das Erziehungssystem ist so kommerzialisiert, dass tatsächlich in großer Zahl indische Jugendliche erzeugt werden, denen selbst die Fähigkeiten, die die Industrie will, abgehen!
Solange unseren Kindern keine ‘wirkliche’ Erziehung gegeben wird, haben wir in der Zukunft vielleicht keine ‘denkende’ Bevölkerung. Aber nur wenn die Leute gebildet werden, können wir auf eine größere kritische Masse von Intellektuellen hoffen, die das Land führen können.”
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symbol of Indian democracy (1)
Symbol der indischen Demokratie
Nachdem unsere Bordpässe am Gate gescannt wurden und ehe wir das Flugzeug betraten, mussten die Passagiere drei weitere militärische Sperren durchschreiten! Das ganze Verfahren wirkte durch und durch kafkaesk. Dieser verwirrte, frustrierte ‘Polizeistaat’ nutzte sein Militär, seine Polizei und andere bewaffnete Kräfte, um seine eigenen Bürger einzuschüchtern und in Schach zu halten. Das tut er schon seit Jahrzehnten, auf die offenste und verachtenswerteste Weise.
Ich erinnere mich noch, wie in Gujarat, nach diesem schrecklichen sektiererischen Pogrom des Jahres 2002, den Morden im Akshardham Tempel, sowohl der damalige Premierminister Atal Bihari Vajpayee als auch Sonia Gandhi sich zu einem Besuch in der Gegend entschlossen. Eine enorme Menge versammelte sich, um die Politiker willkommen zu heißen. Es war eine sehr friedliche Menge, die vor allem aus armen Neugierigen bestand. Aber die Polizei fing an, die Leute wüst mit Knüppeln zu schlagen, nur ‘vorsorglich’, wurde mir gesagt, als wäre das die natürlichste Sache der Welt: ‘Die größte Demokratie der Erde an der Arbeit’. Niemand wagte es, gegen eine solche Behandlung zu protestieren.
Nachdem ich mit so vielen geredet hatte, scheint mir, dass die Armen es jetzt sehr klar sehen: in den Dörfern und den Slums, lachen sie oder weinen oder gestikulieren zornig, wann immer das Wort ‘Demokratie’ vor ihnen geäußert wird. Viele der Armen (und das ist die große Mehrheit des Landes) haben keine Zweifel, dass sie in einem Land leben, dessen Herrscher und Oligarchen sich, gestützt vom Sicherheitsapparat, von ihrem Schweiß, ihrem Elend und ihrem Blut nähren.
Die ‘gebildeten Klassen’, einschließlich der meisten Intellektuellen aus der indischen ‘Linken’, leben in einer fortgesetzten und großen Täuschung. Die meisten klammern sich verzweifelt an die Vorstellung, die von den alten und neuen westlichen Kolonialherren verbreitet wird: dass Indien tatsächlich die größte Demokratie auf Erden sei.
Selbst jene Einzelpersonen in Indien, die klar sehen, dass sowohl die europäischen wie die Nordamerikanischen ‘Demokratien’ zunehmend zu nichts anderem als einer enormen Farce werden, wagen es nicht, zuzugeben, dass ihr eigenes, indisches, Mehrparteiensystem (dem Westen nachgeäfft), in dem alle größeren politischen Parteien von den Konzerninteressen gelenkt werden, wie auch die meisten der Massenmedien, völlig daran gescheitert ist, die Interessen der indischen Mehrheit zu vertreten.
‘Demokratie’ ist keine geheime und schwierige wissenschaftliche Formel. Es bedeutet nur, auf Griechisch, ‘die Herrschaft des Volkes’. Und selbstredend fühlen die meisten der lange leidenden indischen Bürger, mit denen ich geredet habe, nicht, dass sie ihr eigenes Land regieren!
***
Unmittelbar ehe ich von Delhi abflog, saß ich unerwartet rechts neben einem Mitglied der neuen örtlichen Eliten. Ein Sikh-Mann, der mit der üblichen Frageliste begann: woher ich komme, wo ich lebe, was ich arbeite? Pflichtbewusst und ruhig antwortete ich. Dann bot er mir seine Kurzbiografie: er war ein Fabrikant und besass drei Wohnsitze in drei verschiedenen Erdteilen: einen in Indien, einen in Bangkok und einen in Vancouver. “Ich bringe meine Familie jetzt nach Bangkok zurück,” erklärte er. “Ich habe ein wundervolles Haus dort. Es ist so ein großartiger Ort zum Leben.”
“In letzter Zeit ist es dort ziemlich kompliziert,” schlug ich neutral vor. “Nach dem Putsch..”
Meine Bemerkung erschütterte ihn: “Warum sagst Du das? Es ist alles ganz einfach. Vor eineinhalb Monaten war es schwierig, aber nachdem die Armee übernommen hat, ist alles großartig.”
“Für Dich, vielleicht,” sagte ich. “Und für die Thai-Eliten, wie für ihre westlichen Puppenspieler.”
Er gab mir diesen Blick, der andeutete, dass ich für ihn nicht mehr als ein Stück Dreck sei; dieser Blick, der zunehmend in den Gesichtern dieser neuen indischen Eliten auftaucht, in diesen 5-Sterne-Einkaufszentren und Hotels, in Indien selbst, aber auch in Ländern wie Thailand und Malaysia, die jetzt von korrupten indischen Staatsdienern und Geschäftsleuten überschwemmt werden.
Das Gespräch endete: danach weigerte er sich überheblich, auf irgend etwas, das ich sagte, zu antworten, ignorierte meine Versuche, zumindest die grundlegende Höflichkeit zu wahren und zu jemand nett zu sein, der den Sitz neben mir einnahm.
Ich fragte ihn nicht über BRICS. Ich wusste, was er antworten würde: “Sie sollen alle zur Hölle fahren!” oder irgend etwas in der Art.
***
Die BRICS-Länder müssen einen hohen Standard halten, wenn sie in dieser Welt etwas entscheidend verändern wollen. Ihre Entschlossenheit, gegen Kolonialismus, Imperialismus und für wirkliche Freiheit für die Länder weltweit zu kämpfen, kann und darf nicht verwässert werden.
Wenn Staaten wie Indonesien, mit Regierungen voller Kriegsverbrecher und Massenmörder, und einem der unmenschlichsten wirtschaftlichen/sozialen Systeme auf Erden, beitreten dürfen, wenn die Türkei, ein Mitglied der NATO und einer der engsten Verbündeten des Westens im Nahen Osten, mit mehreren westlichen Militär- und Luftwaffenstützpunkten, beitreten darf; wenn Indien, das schamlos mit dem Westen zusammenarbeitet, während es auf zwei Stühlen sitzt, seine Mitgliedschaft behalten darf, dann werden die BRICS schon bald sowohl ihre Schlagkraft als ihren moralischen Vorteil verlieren.
Wenn ein solches Szenario Wirklichkeit wird, würde die Welt eine Alternative verlieren, und das wäre eine ungeheure Tragödie.
Indien ist wichtig. Sein Volk ist wichtig! Es ist eine große und bedeutende Nation. Es war einmal ‘unsere Nation’. Es stand einmal fest gegen Kolonialismus und Imperialismus. Auf viele Arten, und in vielen seiner Teile, tut es das noch.
Indien sollte erwachen. Es ist nötig. Es sollte gegen das unterdrückerische System rebellieren, das heimische wie das globale. Und es sollte eine stolze BRICS-Nation werden: mit ganzem Herzen, nicht nur auf dem Papier!
Andre Vltchek ist ein Romanschriftsteller, Filmemacher und investigativer Journalist. Er berichtete ueber Kriege und Konflikte aus Dutzenden von Laendern. Das Ergebnis ist sein neuestes Buch: Fighting Against Western Imperialism” (“Der Kampf gegen den Westlichen Imperialismus”)‘Pluto’ publizierte seine Discussion mit Noam Chomsky:  On Western Terrorism (ueber Westlichen Terrorismus). Sein umstrittener und vom Imperium heftig kritisierter politischer Roman “Point of No Return”  (“Punkt des nicht_mehr_umkehren_Koennens”) wurde neu editiert und ist verfuegbar. “Oceania” ist sein Buch ueber Westlichen Imperialismus im Sued-Pazifik. Sein provokantes Buch ueber nach-Suharto Indonesien und das Markt-fundamentalistische Modell heisst “Indonesia – The Archipelago of Fear” (“Indonesien – Das Archipel der Angst”). Sein Dokumentarfilm, “Rwanda Gambit” (“Ruanda-Gambit”) thematisiert die Geschichte Ruandas sowie die Pluenderung der VR Kongo. Nachdem er viele Jahre in Lateinamerika und Ozeanien gelebt hatte wohnt,  arbeitet und wirkt Vltchek momentan in Ost-Asien und Afrika. Er ist erreichbar via seine Webseite und Twitter.

4 Kommentare:

  1. "Für ihren Geschmack ist China nicht sozialistisch genug; die meisten der lateinamerikanischen Länder sind nicht wirklich rein marxistisch"-
    gott sei dank kann man da sagen. wo wäre china ohne die direktinvestitionen aus dem westen und den (kapitalistischen) handel?

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    1. Handel hat nichts mit Kapitalismus zu tun, sondern gibt es bereits in den ursprünglichsten Dorfgemeinschaften.
      „China ist nicht sozialistisch genug“ – in Indien leiden 20 % des Volkes an Unterernährung, vor ein paar Jahrzehnten war die Situation in China vergleichbar. Heute gibt es zwar immer noch hunderte Millionen Arme, aber keine Hungernden mehr, und eine Mittelschicht von mehreren hundert Millionen Menschen die sogar Autos fahren und als Touristen in andere Länder reisen (davon profitiert übrigens die deutsche Wirtschaft, denn die Deutschen können sich immer weniger die im eigenen Land produzierten Autos leisten). Vielleicht würde ein bisschen „Sozialismus“ den Indern ganz gut tun.
      „die meisten der lateinamerikanischen Länder sind nicht wirklich rein marxistisch" – es geht auch nicht darum, eine vor 150 Jahren erdachte Ideologie auf Punkt und Komma genau umzusetzen.
      Jeder Staat sollte dafür sorgen, dass menschliches Leid in seinem Land so weit wie möglich vermieden wird, also seinen Bürgern eine Unterkunft, Nahrung, Bildung und medizinische Versorgung zukommen lassen, auch im Interesse des Staates selber.
      Der Unternehmer Wolfgang Grupp (Trigema) sagte mal bei einer Fernseh-Diskussion, bei der es auch um Unternehmenssteuern ging, in etwa: ich würde gerne die höheren Steuersätze wie in den 70-ern zahlen, wenn ich dieselben Rahmenbedingungen wie zu der Zeit hätte.
      Vor 10 Jahren hat die rot-grüne Regierung einen gewaltigen Sparkurs bei Renten und Sozialversicherungen eingeführt, Infolge dessen brach die Binnen-Nachfrage gewaltig ein, und die Verschuldung ist seit dieser Zeit enorm gewachsen, 20 Millionen Bürger könne sich nur noch das Lebensnotwendige kaufen und fallen als Konsumenten für hochwertiger Produkte aus. Dafür liefern wir viele Güter auf Kredit an Staaten, die diese Kredite niemals begleichen werden. Welchen Sinn ergibt das? Oder in den „kapitalistischen“ USA, wo einerseits viele in Wohnwagen, Zelten oder unter Brücken schlafen, während anderseits ganze Stadtviertel (Detroit) verwaisen.
      Ich halte den Wirtschaftskurs für falsch, immer mehr allgemeine Einrichtungen („Volkseigentum“) wie Krankenhäuser, Wasserwerke, etc. an private Konzerne zu verschleudern und dann nur noch für immer weniger Menschen bezahlbar werden. Der Privatisierungswahn bringt nicht mehr Wohlstand für alle, sondern viel Wohlstand für wenige und Armut für die Mehrheit.

      „Der wichtigste Wirtschaftsgrundsatz der kapitalistischen Demokratien: Das Volk ist für die Wirtschaft da und die Wirtschaft ist für das Kapital da. Und wir haben nun diesen Grundsatz umgedreht: das Kapital ist für die Wirtschaft da und die Wirtschaft ist für das Volk da.“ Mit dem Zitat mach ich mich sicher unbeliebt, aber ich halte den Satz für richtig.

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    2. Nachtrag:
      Nicht die freie Marktwirtschaft des liberalistischen Freibeutertums einer vergangenen Ära, auch nicht das ‘freie Spiel der Kräfte’ und dergleichen Phrasen, mit denen man hausieren geht, sondern die sozial verpflichtende Marktwirtschaft, die das einzelne Individuum wieder zur Geltung kommen lässt, die den Wert der Persönlichkeit obenan stellt und der Leistung dann aber auch den verdienten Ertrag zugutekommen lässt, das ist die Marktwirtschaft moderner Prägung.
      Ludwig Erhard, das Zitat ist ein halbes Jahrhundert alt, wäre noch heute die Lösung der EU-Krise

      Die hervorstechenden Fehler der wirtschaftlichen Gemeinschaft, in der wir leben, sind ihr Versagen, für Vollbeschäftigung Vorkehrungen zu treffen und ihre willkürliche und unbillige Verteilung des Reichtums und Einkommen. – John Maynard Keynes (1883-1946, brit. Nationalökonom

      Der Kapitalismus basiert auf der merkwürdigen Überzeugung, dass niederträchtige Menschen aus niederträchtigen Motiven irgendwie für das allgemeine Wohl sorgen werden.
      - John Maynard Keynes

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  2. Dieser Artikel ist ja mal völlig daneben, verhetzerisch.

    Es wäre unmöglich gewesen für Indien - wie auch für China - sich von den weltimperialistisch terrorisierenden nord-westlichen Regimes unabhängig zu halten, wenn es sich nicht zum Teil die Marktwirtschaft angeeignet hätte, wie im Nord-Westen. Nebenbei bemerkt: wer war es denn, der ein völlig ausgebeutetes, verarmtes Indien ohne nennenswerte Industrie hinterlassen hatte?

    Auch dieses unabhängige Indien kann nicht zufriedenstellend an einem Tag erbaut werden. Aber das ist im Bau.

    Indien weiß, auf welcher Seite es steht, geografisch und eben auch geopolitisch. Es lässt sich strategisch nur nicht gern in die Karten gucken.

    Völlig verständlich nach all den Problemen, welche das weltimperialistische englische Regime dort hinterlassen hatte.

    'Barfüßige Kinder' - wie schön! Ich selbst bin vor ein paar Jahren im Sommer noch barfüßig durch die Stadt gelaufen, also in Deutschland, hab das aber wieder sein gelassen, wegen den vielen Scherben alkoholwütiger verzweifelter.

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