Dieser Artikel von Diana Johnstone wurde hervorragend von meinem Freund Klaus Madersbacher übersetzt und auf seiner antikrieg-Seite veröffentlicht. Das Original wurde am 31. August 2011 hier veröffentlicht.
Die derzeit aktuelle Ideologie zur Rechtfertigung des aggressiven Angriffskriegs basiert auf einer dogmatischen Gegensätzlichkeit von Demokratie und Diktatoren. Die Kriegstreiberpartei im Westen hat das Zentrum von internationalem Recht und Ordnung von den Vereinten Nationen verschoben auf einen exklusiveren Klub von „Demokratien,“ welche allein die entsprechende „Legitimität“ besitzen. Im Zentrum dieses Klubs befinden sich die englisch sprechende Welt plus Israel, die Europäische Union und Japan. Es ist davon auszugehen, dass diese „Internationale Gemeinschaft“ von Demokratien als einzige das moralische Recht hat zu entscheiden, wann der Führer eines Landes außerhalb dieses reizenden Kreises als „Diktator“ denunziert und mit Hilfe einer Bombenkampagne der NATO gestürzt werden darf.
Diese
Ideologie geht davon aus, dass Demokratien die
Menschenrechte respektieren, während Diktatoren per
definitionem Verbrecher sind, die systematisch gegen die
Menschenrechte verstoßen und „Völkermord am
eigenen Volk“ im Sinn haben könnten. Bestimmte
Kleinigkeiten wie zum Beispiel die Tatsache, dass die
Vereinigten Staaten von Amerika die größte
Gefängnispopulation der Welt haben, sowohl in absoluten
Zahlen wie in relativer Hinsicht, und Gefangene als
billige Arbeitskräfte für die Rüstungsindustrie
benützen, haben in dieser dualistischen Weltsicht nichts
zu suchen.
Die
Massenmedien halten diese Zwiespältigkeit aufrecht,
indem sie einseitig über Länder berichten, die als
„Diktaturen“ bezeichnet werden – unter
denen sich auch solche befinden, deren Führer in der Tat
gewählt sind, wie etwa Venezuela, Russland, Serbien
unter Milosevic, Belarus, die aber versuchen, eine
Politik zu betreiben, die dem Diktat der selbsternannten
„Internationalen Gemeinschaft“ zuwiderläuft.
Nicht alle diese Länder werden militärisch angegriffen,
aber das Image, das da aufgebaut wird, macht es leicht,
einen militärischen Angriff zu rechtfertigen, wenn die
Zeit dazu gekommen ist.
Die
selektive Berichterstattung reduziert das Land auf den
„Diktator” und eine Minderheit von „Kämpfern
für die Demokratie“. Der „Diktator“ wird
hingestellt als Verbrecher ohne gute Seiten, auf denen
möglicherweise die öffentliche Unterstützung in seinem
eigenen Land beruhen könnte.
Der
Fall Libyen
Am
Beispiel Libyens sieht man, wie es funktioniert. Eine
Jahrzehnte lange einseitige Berichterstattung verfestigte
das Bild des libyschen Anführers Muammar Gaddafi als das
eines verrückten Kriminellen. Für die Öffentlichkeit
in den Ländern des Westens, deren einzige Kenntnis
Libyens aus westlichen Medienberichten stammt, sollte
offenkundig sein, dass die Menschen in Libyen einhellig
einen solchen Führer loswerden wollten.
Es liegt
auf der Hand, dass es in Libyen Leute gibt, die Gaddafi
hassen und ihn loswerden wollen. Nicht klar ist
allerdings, was diese an seine Stelle setzen wollen und
wie repräsentativ sie überhaupt für die Bevölkerung
insgesamt sind.
Im
Westen bildete in den letzten Jahren der Bombenanschlag
von Lockerbie den hauptsächlichen Grund, Gaddafi zu
hassen. Zwei Jahrzehnte lang wurde die Anschuldigung,
dass der libysche Anführer verantwortlich sei für den
terroristischen Bombenanschlag auf den PanAm-Flug 103 im
Jahr 1988 über Lockerbie in Schottland, von den
Massenmedien im Blickfeld der Öffentlichkeit behalten.
Im
vergangenen Februar behaupteten Führer der beginnenden
Rebellion in Libyen in Interviews mit westlichen Medien,
sie hätten schriftliche Beweise dafür, dass Gaddafi die
terroristische Attacke angeordnet hat, die den Tod von
270 Menschen zur Folge hatte. Mustafa Abdel Jalil, der
ehemalige libysche Justizminister, der die „Nationale
Übergangsregierung“ (NTC – National
Transitional Council) in Benghazi anführt, sagte dem
Daily Telegraph: „die Befehle sind von Gaddafi
selbst erteilt worden.“
Wenige
im Westen werden dagegenhalten, dass, wenn die
NTC-Führer wirklich über derartige Beweise verfügen,
sie Jahrzehnte lang Komplizen bei dem Verbrechen waren.
Die Medien des Westens werden auch nicht die Frage
stellen, warum der gerissene Gaddafi „schriftliche
Beweise“ für die Anordnung eines terroristischen
Anschlags 23 Jahre lang herumliegen ließ.
Diese
Behauptungen dienen dazu, die NTC-Führer mit den
Mächten des Westens zu verbünden, namentlich den
Vereinigten Staaten von Amerika und dem Vereinigten
Königreich, und eine gemeinsame rechtliche Verbindung
zwischen ihnen zu suggerieren gegen „den Verbrecher
Gaddafi.“ Sie tragen dazu bei, die Fiktion von
„legitimen, repräsentativen Anführern des
libyschen Volkes“ aufzubauen, deren Ansichten über
Menschenrechte, Demokratie und die Untaten des bösen
Diktators Gaddafi mit den westlichen Ansichten
übereinstimmen, wie sie von den Politikern und Medien
des Westens zum Ausdruck gebracht werden.
Stillschweigend
wussten die Menschen in Libyen also insgesamt, dass ihr
Anführer ein Massenmörder ist. Das muss ein Grund sein,
aus dem die anständigen Bürger ihn loswerden wollen.
Aber stimmt das?
Lockerbie
in Libyen
Mein
Besuch in Libyen im Januar 2007 zur Teilnahme an einer
internationalen Konferenz über den Internationalen
Strafgerichtshof gab mir die Möglichkeit, im privaten
Rahmen Gespräche mit einer Reihe von gut gebildeten
Libyern zu führen, die eindeutig mehr über den Westen
wussten als der Westen über sie. Ich interessierte mich
besonders dafür, einen Eindruck von der Meinung des
libyschen Normalbürgers über zwei Themen zu bekommen,
die zu dieser Zeit die Sichtweise des Westens betreffend
Libyen dominierten: Lockerbie und die Sache mit den
bulgarischen Krankenschwestern. Ich sollte erwähnen,
dass ich niemals in die Nähe Gaddafis kam, und dass die
Konferenz veranstaltet wurde von Akademikern, die
unterschiedliche Meinungen über wichtige Themen
vertraten, die auch oft von der des Führers abwichen,
was aber keinen zu kümmern schien. In der Angelegenheit
Lockerbie entdeckte ich jedoch zwei allgemein weit
verbreitete übereinstimmende Linien.
Zum
ersten glaubte niemand, dass Libyen die Verantwortung
für den Bombenanschlag von Lockerbie trägt. Es wurde
als Gewissheit betrachtet, dass Libyen aus politischen
Gründen zu Unrecht beschuldigt worden war.
Andererseits
war klar, dass die Sanktionen, die der Westen gegen
Libyen verhängt hatte, um es für die angebliche Schuld
zu bestrafen, zu Beschwernis und Unzufriedenheit geführt
hatten. Der Westen hat die Macht, einerseits Sanktionen
zu verhängen, und andererseits seine Vorstellungen als
ernstzunehmende Einmischung in die heimische Politik der
betroffenen Länder zu tragen, nachdem viele Menschen,
besonders die jungen, in einem „normalen“ Land
leben wollen und die Anführer ablehnen könnten, welche
bewirken, dass sie vom Westen als Pariahs behandelt
werden. Aus diesem Grund war die allgemeine Auffassung,
dass Gaddafi letztlich dem Druck des Westens nur
nachgegeben habe, die Verantwortung – nicht jedoch
die Schuld – für Lockerbie zu übernehmen, um die
Aufhebung der unpopulären Sanktionen zu erreichen. Die
Tatsache, dass er zustimmte, zwei libysche Bürger einem
westlichen Gericht zu übergeben, das sie für das
Verbrechen verurteilen sollte, und über zwei Milliarden
Dollars als Schadenersatz für die Opfer zu bezahlen, war
ausdrücklich keine Eingeständnis von Schuld, sondern
vielmehr eine Antwort auf die Erpressung durch die
Großen Mächte, um die Beziehungen zu normalisieren und
um die allgemeinen Lebensbedingungen zu verbessern.
Das
überraschte mich nicht, da ich im Lauf der Jahre viel
über den Fall Lockerbie gelesen hatte. In der Tat ist
viel geschrieben worden, das die Schwäche der
Argumentation der Strafverfolgung offen legte, welche auf
einem völlig unplausiblen Szenario beruhte (eine Bombe,
mit der ein transatlantischer Flug in die Luft gejagt
werden sollte, wurde angeblich über die Flughäfen in
Malta, Frankfurt und London geschickt), technisches
„Beweismaterial,“ das von Agenten der CIA
manipuliert worden war, und einen Zeugen, der reichlich
belohnt wurde für eine Aussage, die nicht den Tatsachen
entsprach. Über das alles wurde schon viele Male
gesprochen, zum Beispiel von Andrew Cockburn im
CounterPunch Newsletter, oder in der London Review of
Books vom britischen Anwalt Gareth Peirce. Die Tatsache,
dass der Fall wiederholt durch sorgfältige Analysen als
wahrscheinliche Justizfarce aufgeblättert wurde, machte
nicht den leisesten Eindruck auf die Massenmedien und die
Politiker, die weiterhin Gaddafi als das Monster
bezeichnen, das das Massaker von Lockerbie angeordnet
hat.
Man
könnte hinzufügen, dass zum Zeitpunkt des Ereignisses
im Jahr 1988 weitgehend angenommen wurde, dass der Iran
die Attacke angeordnet hatte als Vergeltung für den
Abschuss eines iranischen Passagierflugzeugs über dem
Persischen Golf. Als die Vereinigten Staaten von Amerika,
nachdem sie von ihrer antiiranischen Allianz mit dem Irak
zum Krieg gegen Saddam Hussein übergingen, sich dafür
entschieden, stattdessen Libyen zu beschuldigen, wurde
nie ein Motiv angegeben. Aber wenn ein „Diktator“
als Monster hingestellt wird, dann braucht es kein Motiv.
Er tat es, weil das die Art von Dingen ist, die
bösartige Diktatoren halt so machen.
Gegen
die beiden beschuldigten Angestellten der Libyan Airline,
die in Malta arbeiteten, wurde im Jahr 2000 ein Verfahren
durchgeführt von drei schottischen Richtern, ohne
Geschworene, in einem eigens gebauten Gericht in den
Niederlanden. Einer der Libyer wurde freigesprochen und
der andere, Abdel Basset al-Megrahi, wurde schuldig
gesprochen und zu 27 Jahren Gefängnis verurteilt. Der
Beobachter der Vereinten Nationen bei diesem besonderen
Verfahren, Hans Köchler, bezeichnete den Schuldspruch
als „unfassbar,“ „willkürlich, ja
irrational“ und erwähnte besonders eine „Atmosphäre
von internationaler Machtpolitik,“ die sich durch
das Verfahren zog.
Am 12.
November 2006 zitierte der Glasgow Sunday Herald den
obersten Rechtsberater des Außenministeriums Michael
Scharf, welcher als Anwalt des Antiterrorismusbüros der
Vereinigten Staaten von Amerika tätig war, als die
beiden Libyer wegen des Bombenanschlags angeklagt wurden,
der den Fall bezeichnete als „so voller Löcher,
dass er war wie ein Schweizer Käse“ und sagte, dass
dieser nie vor Gericht hätte kommen dürfen. Er
behauptete, dass CIA und FBI den Vertretern des
Außenministeriums versichert hätten, die Sache gegen
die beiden Libyer sei hieb- und stichfest, die beiden
Agenturen aber in Wirklichkeit schon lange vor dem
Verfahren wussten, dass ihr Starzeuge „ein Lügner“
war. Aber große Mächte können nicht klein beigeben.
Ihre geheiligte „Glaubwürdigkeit“ steht auf
dem Spiel. Kurz gesagt, sie müssen weiterhin lügen, um
den Anschein der Unfehlbarkeit aufrecht zu halten.
In der
Zeit, in der ich in Tripoli war, versuchte das
Verteidigungsteam des verurteilten Libyers Berufung gegen
das Urteil bei einem höheren Gericht einzulegen. Ich
konnte eine der Anwältinnen in Megrahis
Verteidigungsteam erreichen. Ich verbrachte lange Zeit in
ihrem Büro und versuchte, ihre Zurückhaltung zu
überwinden, über den Fall zu sprechen. Schließlich war
sie bereit, mit mir zu sprechen, wenn ich versprach,
unser Gespräch bei mir zu behalten, um nicht eine
Beeinträchtigung der Berufung zu riskieren. Jetzt haben
sich die Umstände drastisch geändert.
Hier ist
kurz, was sie mir sagte:
Die
schottischen Richter standen unter enormem Druck, die
beiden Libyer zu verurteilen. Immerhin war deren Schuld
seit Jahren von den Vereinigten Staaten von Amerika
hinausposaunt worden zusammen mit der Forderung, sie
„der Justiz zuzuführen.“ Ein spezielles
Gericht war eingerichtet worden mit dem offensichtlichen
Zweck, sie zu verurteilen. Die Beweise, die eine
Verurteilung vor einem ordentlichen schottischen Gericht
erfordert, waren allerdings einfach nicht vorhanden. Das
Beste, was die Richter sich zu tun getrauten, war einen
der Beschuldigten freizusprechen und die Verantwortung
für den Freispruch des zweiten an eine höhere Instanz
abzutreten. Zur Bestürzung des libyschen
Verteidigungsteams umging das angerufene Berufungsgericht
die riskante Angelegenheit, indem es sich für nicht
zuständig erklärte. Es wurde also eine Berufung an ein
anderes Obergericht vorbereitet, ergänzt mit neuen
Beweisen, die die Position der Anklage noch
aussichtsloser machten.
Und
tatsächlich beschloss fünf Monate später, am 28. Juni
2007, die schottische Berufungskommission für
Strafsachen, die den Fall seit 2003 untersucht hatte,
dass Abdel Basset al-Megrahi eine zweite Berufung gegen
seine Verurteilung zu gewähren sei. Die Kommission gab
bekannt, sie habe sechs verschiedene Gründe für die
Annahme gefunden, dass seine Verurteilung ein Fehlurteil
gewesen sein könnte. Diese Ankündigung verursachte eine
Sensation in den kleinen Kreisen, die die Angelegenheit
verfolgten. Es sah so aus, als wäre die schottische
Justiz mutig genug, um sich durchzusetzen und Anhörungen
zuzulassen, die die Fälschungen der CIA ans Licht
bringen würden.
Solche
Sachen mögen in Filmen geschehen, in der realen Welt
läuft es anders.
Ein
schäbiger Handel
Was dann
geschah, trug bei zu der Vorbereitung des NATO-Angriffs
auf Libyen in diesem Jahr.
Die Zeit
verging. Es war zwei Jahre danach, im April 2009, als die
Berufung endlich so weit war, um in Gang zu kommen.
Inzwischen ging jedoch hinter den Kulissen eine geheime
Mauschelei vor sich, zwischen durchgesickerten
Nachrichten und Gerüchten.
Am 21.
August 2009 wurde Abdel Basset Ali Mohmed al-Megrahi, der
an einer Krebserkrankung im Endstadium litt, von der
schottischen Justizministerin Kenny MacAskill aus dem
Gefängnis in Schottland entlassen, und ihm gestattet,
„heimzukehren, um zu sterben.“
Es
geschah, dass im Jahre 2007 Tony Blair nach Libyen
reiste, um mit Gaddafi über ein britisch-libysches
Abkommen zu verhandeln, in dem es um Recht, Auslieferung
und Gefangenenüberstellung ging. Gemäß diesem
Gefangenenüberstellungsabkommen verlangten die libyschen
Behörden, dass Megrahi aufgrund seiner Krankheit
nachhause geschickt werden solle.
Der
Haken lag darin, dass das
Gefangenenüberstellungsabkommen nur zur Anwendung kommen
konnte, wenn keine rechtlichen Schritte mehr ausständig
waren. Um also in dessen Genuss zu kommen, musste Megrahi
seine Berufung zurückziehen.
Die
Angelegenheit wird durch die Tatsache kompliziert, dass
er formell aus Gründen des „Mitleids”
entlassen wurde. So oder so, der Handel war eindeutig:
al-Megrahi konnte nachhause fahren, aber mit der Berufung
war es aus. Hans Köchler, der Sonderbeobachter der UNO
beim Lockerbie-Verfahren, war der Meinung, dass Megrahi
wahrscheinlich einer „moralisch himmelschreienden“
Erpressung ausgesetzt worden sein wird, um seine Berufung
gegen seinen Willen zurückzuziehen.
Der
schäbige Aspekt dieses Handels ist, dass er Megrahi um
das Recht brachte, seine Ehre wiederherzustellen,
während die Täuschungsmanöver der CIA offiziell im
Dunkel blieben. Es gab nichts, was dem Protestchor von
Hillary Clinton abwärts entgegengesetzt werden konnte,
welcher Schottland beschimpfte, weil es „den
Lockerbie-Bomber freigelassen hat“. Zwei Jahre
danach führten Nachrichten, dass Megrahi immer noch
nicht gestorben ist, zu weiterer Entrüstung bei den
Medien des Westens, die das als Beweis betrachteten, dass
das Vereinigte Königreich „den Lockerbie-Bomber
für libysches Öl verkauft hat“. Natürlich muss
der Eindruck vermittelt werden, dass der gerissene
libysche Diktator die naiven, aber gierigen Briten mit
Tricks dazu gebracht hat, ihre Grundsätze für Erdöl zu
verkaufen.
Es ist
allerdings genauso wahrscheinlich, dass es der naïve
libysche Diktator war, der von den skrupellosen Briten in
den Glauben hineingetrickst wurde, er habe ein „Gentleman´s
Agreement“ getroffen. Statt eine Berufung
abzuwickeln, die das Risiko einer heftigen Blamage der
Autoritäten des Westens in sich barg, konnte Megrahi
entlassen und die Angelegenheit vergessen werden. Der
öffentliche Jubel über Megrahis Rückkehr in die Heimat
wurde in Libyen gedämpft, aber die Medien des Westens
gaben vor, schockiert zu sein, weil ein verurteilter
Massenmörder wie ein Held willkommen geheißen wurde. In
Wirklichkeit wurde er zuhause diskret begrüßt als ein
unschuldiger Mann, der unrechtmäßig verurteilt worden
war, nicht als Massenmörder. Und wann immer er sich
Gehör verschaffen konnte, hat er seinen Wunsch
wiederholt, seinen guten Namen wiederherzustellen.
Die
bulgarischen Krankenschwestern
Das
andere Thema, über das ich mich erkundigte, als ich 2007
in Tripoli war, war die Misere der bulgarischen
Krankenschwestern. 2004 waren fünf bulgarische
Krankenschwestern und ein palästinensischer Arzt, die in
einem Krankenhaus in Benghazi arbeiteten, zum Tode
verurteilt worden, weil sie angeblich Kinder mit dem
HIV-Virus infiziert hatten. Jeder im Westen, ich
eingeschlossen war der Meinung, dass das ein empörendes
Unrecht sei. Als ich diese Angelegenheit bei sehr
westlich orientierten liberalen libyschen Intellektuellen
zur Sprache brachte, war ich voller Erwartung, auf Kritik
an dem Diktator zu stoßen, der die wehrlosen Mediziner
drangsalierte. Ich war sehr überrascht, als die Reaktion
ziemlich anders ausfiel.
„Natürlich
sind sie unschuldig,“ sagte ich.
Der
Gentleman, mit dem ich mich unterhielt, den ich locker
als anti-Gaddafi beschreiben könnte, schüttelte seinen
Kopf. „Das ist nicht so eindeutig,“ antwortete
er. Und so begann ich zu lernen, was einige Monate
später von Harriet Washington in einem Kommentar in der
New York Times erläutert wurde, nämlich:
„Die Beweise gegen das bulgarische
medizinische Team, wie etwa mit HIV verseuchte Ampullen,
die in ihren Wohnungen gefunden wurden, erschienen Leuten
im Westen grotesk. Aber die libyschen Anklagen wegen
medizinischer Pflichtverletzungen einfach abzutun
bedeutet, eine Gelegenheit nicht zu nützen, verstehen zu
lernen, warum ein gefährlicher Argwohn gegenüber der
Medizin in Afrika so weit verbreitet ist.
„Afrika hat eine Zahl hochkarätiger
westlicher medizinischer Schurken beherbergt, welche
absichtlich tödliche Substanzen unter dem Vorwand zur
Anwendung brachten, Heilung herbeizuführen oder
Forschung zu betreiben.“
Meine
Gespräche in Libyen überzeugten mich nicht von der
Schuld der bulgarischen Krankenschwestern, aber sie gaben
mir einen neuen Einblick in die libysche Sichtweise. Auf
dem afrikanischen Kontinent war es sogar für sehr
rational denkende Menschen leicht zu glauben, dass
ausländisches medizinisches Personal hätte bezahlt
worden sein können, um Kinder zu infizieren, sei es für
experimentelle Zwecke, oder um das öffentliche
Gesundheitssystem zu „destabilisieren.“ Zum
zweiten stellte sich heraus, dass das kein Fall war, in
dem „der Diktator Gaddafi“ Unschuldige
verfolgte. Verhaftung, angebliche Folter und Verurteilung
der bulgarischen Krankenschwestern erfolgten durch die
Behörden in Benghazi. Tatsächlich beschwerte sich der
bulgarische Premierminister Boyko Borisov am vergangenen
11. März, dem Tag nach der Anerkennung des Nationalen
Übergangsrates der Rebellen durch Frankreich als „einzige
legitime Vertretung des libyschen Volkes“ bei einem
europäischen Gipfel, dass Schlüsselpersonen dieses
Rates in Benghazi „diejenigen Leute sind, die die
bulgarischen Krankenschwestern acht Jahre lang gefoltert
haben und dass uns das fast $60 Millionen an Zahlungen
für die Schadensgutmachung an die infizierten Kinder und
deren Familien gekostet hat.“
Im
Januar 2007 wurde mir auch von Leuten in Tripoli
versichert, dass die Todesurteile gegen die
Krankenschwestern nie vollstreckt würden. Das stimmte.
Im August des selben Jahres wurden sie durch die
Gaddafi-Familie befreit und ihnen gestattet, nach
Bulgarien heimzukehren, nach einer sehr publik gemachten
Reise der damaligen Gemahlin des französischen
Präsidenten Sarkozy, Cecilia, nach Libyen. Diese
Freilassung wurde präsentiert als endgültige
Aussöhnung zwischen Gaddafis Libyen und
Europa.
Ich
verzichtete seit Jahren darauf, über diese Dinge zu
schreiben, da ich den Eindruck habe, dass ich nicht genug
über Libyen weiß. Jetzt sehe ich jedoch andere, die
noch weniger wissen, und lauthals die Unterstützung der
Rebellen durch die NATO in einem Bürgerkrieg
befürworten, dessen wirkliche Gründe und Konsequenzen
verworren sind.
Meine
erste Schlussfolgerung besteht in dem Hinweis, dass die
Tatsache, dass ein Land keine Demokratie westlichen Stils
ist, noch keineswegs bedeutet, dass alles, was dort
geschieht, von einem „Diktator” „diktiert”
wird. Der Begriff „Diktator“ dient der Faulheit
der Medien und der Politiker, die sich nicht darum
kümmern und sich nicht bemühen, die Zusammenhänge in
einer unbekannten Gesellschaft zu untersuchen.
Meine
zweite und letzte Schlussfolgerung ist, dass wir im
Westen weder das Recht noch die Fähigkeit haben, diese
unbekannten Gesellschaften wie etwa in Libyen, die wir
als „Diktaturen“ abtun, zu „verbessern“.
Während die Finanzkrise droht, die Lebensbedingungen in
großen Teilen des Westens unter diejenigen zu drücken,
die in Gaddafis Libyen herrschten, bevor die NATO dort
interveniert hat, läuft unsere westliche „Demokratie“
Gefahr, scheibchenweise auf einen rein ideologischen
Vorwand reduziert zu werden, um die Länder anderer
Völker anzugreifen, auszuplündern und zu
verwüsten.
Diana Johnstone ist Autorin von Fools’ Crusade (Narrenkreuzzug).
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