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Freitag, 2. September 2011

Willkommen beim Kolonialismus 2.0


Und willkommen zu ein wenig Geschichtsunterricht, den wir alle dringend nötig haben, da das, was wir in Schulen und Unis gelernt haben, zum größten Teil aus Fälschungen, Verschweigen und Lügen besteht. Der Neuseeländer Rakesh Krishnan Simha hilft uns auf die Sprünge (sein Original-Artikel vom 29. August 2011 liegt hier.)



Der Angriff auf Libyen durch eine Koalition von hauptsächlich westlichen Ländern wirft eine Frage auf: Hat der Kolonialismus eine Art von Comeback? Da ihre Ökonomien in Zeitlupe zusammenbrechen, kann man sich nur schwer vorstellen, dass westlichen Länder überall in der Welt Land an sich reissen wollen, wie sie es vor 300 Jahren taten. Aber so unwirklich es scheint, es ist so.
Wenige werden Tränen um Gaddafi weinen [ganz im Gegenteil] weil es sein Ungestüm war, das Libyen seine Freiheit kostet; von größerer Besorgnis ist die Tatsache, dass nach 40 Jahren der erhebliche Ölreichtum des Landes wieder unter westliche Kontrolle gelangt. Auch das irakische Öl fließt wieder nach Westen. Iran könnte sehr gut das nächste Ziel der amerikanischen und britischen Kriegsflugzeuge sein.
Ironischerweise ist es dann, wenn der Westen schwach ist, dass die aufstrebenden Nationen in Asien und Afrika Grund haben, sich Sorgen zu machen. Kolonialismus 2.0 ist nicht nur eine Redensart; es ist einfach Ökonomie: die Reichen müssen immer auf der Hut sein vor den Verzweifelten.
Im 18. und 19. Jahrhundert, als die Welt kolonisiert wurde von Ländern wie Spanien, Britannien, Frankreich, Belgien, Portugal und den Hölländern, waren Indien und China die zwei reichsten Länder der Welt, die zusammen 50 Prozent des Bruttoinlandsproduktes (BIP) aufbrachten. Und dennoch gerieten die beiden riesigen asiatischen Länder unter die kolonialen Knobelbecher.
Wenn man glaubt, die Kolonisierung begann, als der Osten dekadent war und der Westen aufstrebend, dass Indien und China ihre Armeen vernachlässigten und die ausländischen Bedrohungen, die an ihren Küsten lauerten, ignorierten, dann könnte man nicht falscher liegen. Beide Länder hatten mächtige Armeen und Kriegsflotten, die von fähigen Befehlshabern geführt wurden.
Militärischer Vorsprung
Anfang des 17. Jahrhunderts besiegte der legendäre Flottenadmiral Indiens, Kanhoji Angre, die britischen, holländischen und portugiesischen Flotten auf hoher See. 33 Jahre lang, bis zu seinem Tod 1729, blieben die Inder unbesiegt. Die Briten waren so beleidigt, dass sie ihn einen Piraten nannten.
Die indischen Schiffe jener Zeit waren so fortschrittlich in ihrem Schnitt und ihrer Haltbarkeit, dass die Briten sie in ihrer Flotte einführten. In der Schlacht von Trafalgar 1805 war das Flaggschiff HMS Victory von Nelson ein in Indien gebautes Fahrzeug.
Laut Webseite der indischen Marine, „brachte das die britischen Schiffsbauer an der Themse derart in Rage, dass sie gegen die Verwendung von indischen Schiffen für den Handel aus England protestierten. Folglich wurden geeignete Maßnahmen ergriffen, um die indische Schiffsbauindustrie zu zerstören“.
Das südindische Königreich Mysore war das erste Land in der modernen Geschichte, das Raketen im Krieg verwendete, und sie benutzten sie mit tödlicher Präzision gegen die Briten in der Schlacht von Guntur 1780. Die zutiefst geschockte britische Armee ergriff schleunigst die Flucht vom Schlachtfeld. Ein paar nicht explodierte Raketen wurden später in das königliche Arsenal von London verfrachtet, wo sie William Congreve, der britische Waffenexperte, durch reverse engineering zur Grundlage modernen Raketenbaus in Europa machte.
Die meisten indischen Herrscher hatten auch gute geopolitische Kenntnisse. Zum Beispiel erlaubten sie europäischen Händlern nicht, Garnisonen zu unterhalten oder im Inland Handel zu treiben. Als Thomas Roe, der Emissär des britischen Monarchen, 1616 in Westindien landete, ließ man ihn ein Jahr warten, bevor der indische Kaiser ihm eine Audienz gewährte. Drei Jahre später, kehrte Roe, trotz vielen Flehens und so mancher Bücklinge, ohne ein Handelsabkommen zurück, da der Kaiser keinen Witz darin sah, mit einem Land Handel zu treiben, dass nicht ein Produkt oder Bedarfsartikel Indien zu bieten hatte. [Dieselbe Geschichte wird vom chinesischen Kaiser erzählt.]
Das schmale Ende des Keils
Ein kleiner Ausrutscher eines schwachen Kaisers jedoch ließ die Horden herein. Hundert Jahre nach Roes Abgang hatte die englische Botschaft eine Glückssträhne, als es einem ihrer Mitglieder, William Hamilton, ein Arzt mit zweifelhaften medizinischen Kenntnissen, gelang, eine Gallionsfigur von einem Kaiser von starken Schmerzen in der Leiste zu befreien. Der Kaiser unterschrieb dankbar ein Dekret, das den Briten Handelsrechte im Inland, Steuerbefreiung und das Recht, Garnisonen zu unterhalten, gewährte. Der Rest ist, wie man sagt, Geschichte.
Laut Rajesh Kochhar, Professor Emeritus am indischen Institut für Wissenschaftserziehung und Forschung in Chandigarh: „Diese Ausnahmebewilligungen gaben den englischen Händlern kommerzielle Vorteile, nicht nur über andere europäische Gesellschaften sondern auch über indische Händler. Noch wichtiger war, dass die verschiedenen offiziellen Konzessionen den Briten einen Grund gaben, sie, wenn notwendig, mit militärischer Gewalt zu verteidigen.“ Klingt bekannt oder?
Die Rückkehr des Ostens
Heute steigt der Osten wieder auf. Die Ökonomen sind verblüfft über den nie dagewesenen Fluss von Gütern, Geldern und Reichtum in den Osten. Magid Igbaria, ehemaliger Professor für Management-Informations- Systeme an der Uni Tel Aviv, schrieb in 'The Virtual Workplace': „Außer den vergangenen 500 Jahren der Menschheitsgeschichte, war der Reichtum der Welt gemessen in menschlichem Kapital und Gütern in Asien konzentriert. In den vergangenen 500 Jahren war der Reichtum der Welt im Westen konzentriert. Heute werden die großen Konzentrationen von menschlichem Kapital, Finanzkraft, Produktionskraft und Informationskraft wieder im Osten akkumulieret.“
Tatsächlich wird vorhergesagt, dass Indien in 30 Jahren die USA überholt, obwohl es jetzt erst den vierzehnten Teil der US-Ökonomie ausmacht. Das ist eine unglaubliche Rate an Reichtumszuwachs. Die Frage ist, ob die USA und Europa einfach dem Geschehen zuschauen werden. Im Gegenteil, es gibt konzertierte Anstrengungen der US-geführten Koalition, diesen Trend zu stoppen. Hier ein paar Methoden des Westens, um an der Spitze zu bleiben:
Basis-Instinkte (das englische base kann auch niedrig bedeuten): Heute hat die US-geführte Koalition mehr als 750 Basen rund um die Welt. Trotz riesiger Kosten ist die Ausdehnung der militärischen Macht grundlegend für ihre Hegemonie. Eine Meute europäischer Länder sind dem US-Militär bei seinen Missgeschicken in der Welt gefolgt. Kein Imperium der Geschichte hat jemals eine derart umfassende Kontrolle versucht. Zu Plinius' Zeiten haben das römische, indische und chinesische Imperium in ihren Einflusssphären koexistiert und versuchten niemals, einander zu destabilisieren. Die guten alten Zeiten.
Teile und herrsche: Die Amerikaner spielen Indien als eine größere „regionale“ Macht hoch in Allianz mit dem Westen. Das ist nicht nur beleidigend für die Inder (wieso sollte Indien eine regionale Macht sein?), sondern jagt den Chinesen auch einen Schrecken ein. Die Kommunisten [?] in Beijing kommen mit vorhersehbaren Erklärungen und fordern Indiens Teilung, was seinerseits wieder die Inder China als natürlichen Feind betrachten lässt. Erstaunlicherweise hatten China und Indien in den vergangenen 2500 Jahren nicht einmal ein Scharmützel, bis die Engländer die Szene betraten und die Saat der Grenzprobleme säten.
Der Klima-Popanz: Nachdem der Westen mehr als hundert Jahre lang die Umwelt verpestet hat, will er jetzt, dass Indien und China ihre Emissionen senken. Dies ist der schwach verhüllte Versuch, die schnell wachsenden Wirtschaften zu bremsen. Indiens Umweltminister Jairam Ramesh hat eine Kehrtwendung gemacht, und jetzt scheinen seine Ansichten den westlichen Interessen zu entsprechen, was dazu führte, dass einige indische Spitzenunterhändler angewidert den Dienst quittiert haben.
Newsweek, das Sprachrohr des Pentagon in der Maske des Journalismus, war sehr zufrieden mit Ramesh und nannte ihn den „globalen Felsen für Klimawandel“.
Das Dollar-Gambit: Würde man sich nicht allmächtig fühlen, wenn man die Lizenz erhielte, US-Dollars zuhause auf dem Drucker herzustellen? Während der Rest der Welt sein Leben hart verdienen muss, drucken die Amerikaner einfach Dollars, um ihre Rechnungen zu bezahlen. Braucht man ein paar hundert Milliarden Dollar, um den Krieg in Irak zu bezahlen? Will man venezolanisches Öl kaufen? Russisches Titan? Kein Problem. Die US-Münze dreht die Kurbel und Milliarden von Dollars rollen aus den Pressen. Aber selbst diesen Schein hat man in den vergangenen Jahren fallengelassen – jetzt werden Billionen Dollars in den Büchern der US-Bundesbank elektronisch erzeugt. So einfach ist das.
Es gibt noch einen Weg, wie der Dollar-Handel gegen die Interessen der nicht-westlichen Länder arbeitet. Länder wie China und Russland investieren ihre Gewinne in US-Staatsobligationen [das war einmal!]; diese Dollars werden von den Amerikanern verwendet, um ihre globale militärische Vorherrschaft aufrechtzuerhalten, zunehmend modernere Waffen zu erzeugen und ihre Alliierten mit Bargeld, Waffen und Sicherheitsschirmen zu belohnen.
WTO (Welthandelsorganisation): der russische Premier Vladimir Putin hat sie „archaisch, undemokratisch und unflexibel“ genannt und beherrscht von einer kleinen Gruppe entwickelter Länder, die dem Protektionismus anhängen. Eins ihrer Ziele ist es, die landwirtschaftlichen Märkte Asiens, also auch Indiens, zu öffnen. Zufällig hat Indien die höchste Bauern-Selbstmordrate der Welt.
Verweigerung von Nukleartechnik: Das 11. Gebot lautet: Du sollst nicht nukleare Technologie erwerben. Indische und japanische Atomwissenschaftler haben den schnellen Brüter perfektioniert (der mehr nuklearen Brennstoff erzeugt als er verbraucht, weshalb man nicht im Ausland schwer zu bekommendes Uran suchen muss). Beide Länder haben jedoch, wahrscheinlich unter US-Druck, still und leise ihre Technologie ad acta gelegt. [Jaja, aber sichere Reaktoren können sie nicht bauen.]
Weltraum-Krise: Amerikas Weltraumambitionen sind vorläufig auf Eis gelegt wegen starker Einsparungen. Indien hat die größte Anzahl (177) Satelliten im Weltraum. Das weiß die NASA; sie sucht nach gemeinschatlichen Projekten mit der Indischen Raumforschungsorganisation, die verlässliche Raketen hat und etwa 20000 Ingenieure und Wissenschaftler. Wenige wissen, dass Indien in den 90er Jahren die Russen zu einer Rolle in der Internationalen Raumfahrtstation ersuchte, aber die Amerikaner sagten nein. Jetzt will die NASA kostenlos in indischen Raketen mitfliegen, und Indiens nichtsnutzige Politiker sind glücklich, zu Diensten zu sein.
General Manuel Noriega war einmal in Panama der beste Mann der CIA und machte ihre dreckige Arbeit: Drogenhandel, organisierte Kriminalität, Morde. Die CIA wollte aber die totale Kontrolle in Panama und deshalb invadierte man 1989 das Land und beschuldigte ihn, genau das getan zu haben, was zu tun man ihm befohlen hatte. Während er eine 20-jährige Haftstrafe in einem US-Gefängnis absitzt, schrieb er diesen denkwürdigen Satz: „Wenn jemand bereit ist, ein Land zu kaufen, gibt es jemanden, der dazu bereit ist.“ Für viele Länder im Osten ist das größte Problem, dass es reichlich Kollaborateure wie Noriega auf einflussreichen Posten gibt, die bereit sind, ihr Land für ein paar Millionen Dollar auf einer Schweizer Bank zusammen mit Green Cards (Wohnsitzerlaubnis in den USA) für ihre Familien zu verkaufen.
In der ersten Ära des Kolonialismus haben die damals dominanten Länder im Osten ihre Wirtschaft und ihr Land den vergleichsweise rückständigen westlichen Ländern innerhalb weniger Jahrzehnte geöffnet und endeten als Kolonien. Unter dem Deckmantel der Globalisierung und des „freien“ Handels könnte es mit Kolonialismus 2.0 genau so gehen.


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