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Dienstag, 5. Februar 2013

STALINGRAD 'Die Kommunisten fielen überproportional im Kampf'

Die 'Stalingrad-Protokolle' sind ein bahnbrechendes Geschichtswerk über die erste Entscheidungsschlacht im 2. Weltkrieg - den Wendepunkt - aus russischer Sicht. Hier wird außerdem eine These vertreten, die ich vor sehr langer Zeit bereits aufgestellt habe: Dass das Absinken des theoretischen Niveaus in der Sowjetunion, das relativ schnelle Umsichgreifen revisionistischer Ideen und bürgerlicher Verhaltensweisen auf den enormen Blutverlust in den Reihen der Kommunisten - und zwar der besten - zurückzuführen ist. Sie waren es, die in der vordersten Reihe kämpfen und meist als erste fielen. Hier wird diese These erstmals statistisch belegt.

Tageszeitung junge Welt
02.02.2013

Gespräch mit Jochen Hellbeck führte Reinhard Jellen. Über die sowjetische Sicht auf die Schlacht um Stalingrad, die Rolle der KPdSU, Strategien der Kriegsführung und heutige Historikerdebatten.

Das Foto zeigt Angehörige eines Stalingrader Arbeiterbatail
Das Foto zeigt Angehörige eines Stalingrader Arbeiterbataillons bei Abwehrkämpfen auf dem Industriegelände, September 1942
Jochen Hellbeck, geboren 1966 in Bonn, hat in Berlin, Leningrad, Bloomington und New York Geschichte und Slawistik studiert und lehrt an der Rutgers State University of New Jersey (USA).

RJ: Herr Hellbeck, was kann man aus Ihren »Stalingrad-Protokollen« erfahren, was man bislang in Deutschland so nicht wußte?

JH: Ich sehe den fundamentalen Beitrag der Stalingrad-Protokolle darin, daß sich dem deutschen Leser zum ersten Mal in dieser Fülle und Gegenständlichkeit die sowjetische Wahrnehmung und Verarbeitung der Schlacht darbietet und deswegen die Geschichte von Stalingrad, die bislang überwiegend nur als deutsche Geschichte geschrieben wurde und eine deutsche Choreographie, nämlich die des Angriffs, des Kessels, der Verteidigung und der Vernichtung besaß, jetzt um die sowjetische Choreographie erweitert wird. Insofern können wir Stalingrad nun nicht mehr als »rein deutsche« Angelegenheit betrachten, sondern müssen, wenn wir über Stalingrad reden, beide Seiten im Blick behalten.

RJ: Angesichts der von Ihnen ausgewerteten Aussagen der Rotarmisten: Was hat der Mythos von der Schlacht um Stalingrad, in dem ein deutscher »Opfergang« wegen der angeblich drückend überlegenen Sowjetmacht behauptet wird, was hat diese Legende also mit der Realität zu tun?
JH: Die Deutschen waren zu Beginn der Schlacht überlegen: Stalingrad stand Anfang September 1942 offen und schutzlos vor den Deutschen, und die Wehrmacht hätte auch in den ersten Septembertagen die Stadt nehmen können. Es wurden lediglich einige wenige Arbeiterbataillone, die nur unzulänglich vorbereitet und sehr schlecht ausgerüstet waren und dementsprechend Verluste erlitten, den Deutschen entgegengeworfen. Allerdings war zu dieser Zeit die Sorge im deutschen Generalstab groß, daß die Versorgung mit Nachschub ins Stocken geraten könnte und man außerdem in verlust­reiche Straßenkämpfe verwickelt werden könnte. Deswegen hat man mit dem Sturm auf die Stadt gewartet. Insofern ist der Beginn der Schlacht eine Phase, die durch ein Ungleichgewicht der Kräfte zugunsten der Deutschen gekennzeichnet ist. Nach der großen sowjetischen Gegenoffensive vom 19. November änderte sich das natürlich, hier griff die Sowjetunion mit über einer Million hervorragend ausgerüsteten Soldaten an, die von Artillerie und Panzern unterstützt wurden. Auch die sowjetischen Luftstreitkräfte waren andere als im Sommer. Dennoch muß man im Blick behalten, daß in der Phase dazwischen, im Oktober bis Mitte November, die sowjetische Seite in Stalingrad mit nur sehr wenig Soldaten auskommen mußte und der Nachschub nur notdürftig funktionierte. Gerade hier ist es interessant zu sehen, wie von sowjetischer Seite gekämpft wurde.

RJ: Die von Ihnen edierten Protokolle basieren auf Befragungen von Sowjetsoldaten durch Angehörige einer Moskauer Historikerkommission, sie entstanden zum Teil noch während der Schlacht, zum Teil kurz danach. Wie sind Sie überhaupt auf diese Dokumente gestoßen?

JH: Per Zufall. Ich beschäftige mich seit langem schon mit sowjetischen Selbstzeugnissen aus der Stalinzeit, mit Tagebüchern und Briefen, und so bekam ich von einem russischen Kollegen vor mittlerweile fast zehn Jahren den Tip, mich doch einmal in den Keller des Instituts für russische Geschichte der Akademie der Wissenschaften in Moskau zu begeben, dort lägen interessante Protokolle. Mir war damals nicht klar, daß dies Gesprächsprotokolle direkt aus dem Krieg waren, und es hat denn auch Jahre gedauert, bis ich mit russischen Kollegen das Projekt angehen konnte. Aber als es soweit war, haben wir mit ihnen eine wichtige Entdeckung gemacht.

RJ: War Stalingrad überhaupt von solcher strategischer Bedeutung für die Deutschen, und warum wurde der Kampf um diese Stadt zu einer Entscheidungsschlacht im Zweiten Weltkrieg?

JH: Sie war für die Deutschen nicht von herausragender strategischer Bedeutung. Sie war ja nur ein Teil der Offensive auf den Kaukasus. Gleichzeitig war sie aber doch wichtig, weil Stalingrad ein bedeutendes sowjetisches Rüstungszentrum für den T-34-Panzer und Artilleriegeschosse war. Hitler hoffte zudem, mit Stalingrad nicht nur einen bedeutenden Produktionsstandort zu zerstören, sondern die Wolga – eine wichtige Verkehrsarterie von Süden nach Norden – abzuschneiden. Aber im Laufe der Schlacht entwickelte die Stadt eine wichtige symbolische Bedeutung, die in erster Linie mit ihrem Namen zu tun hatte. In dem Maße wie Hitler sich öffentlich festlegte, Stalingrad einzunehmen und zu vernichten, rückte dies auch in das Blickfeld der Weltöffentlichkeit und machte die Bedeutung der Schlacht sehr viel größer. Erst in der Endphase der Schlacht ist dann klargeworden, inwieweit Stalingrad einen psychologischen Umkehrpunkt des Zweiten Weltkrieges darstellte.

RJ: Sie berichten, daß während der Schlacht weit weniger sowjetische Soldaten wegen »Kampfunwilligkeit« hingerichtet wurden als bisher angenommen und daß die moralische Verfassung der Roten Armee bemerkenswert gut war. Wie ist es zu den historischen Fehlschlüssen gekommen?

JH: Angeblich wurden allein in der 62. Armee (die ja nur eine von mehreren Armeen war, die Stalingrad verteidigten) 13500 sowjetische Soldaten während der Schlacht erschossen. Diese gigantische Zahl von Soldaten soll während der Verteidigung der Stadt auf Veranlassung des Kommandeurs Tschuikow hingerichtet worden sein. Ich halte sie für unglaubwürdig. Antony Beevor, der diese Zahl in seinem auflagenstarken Buch publiziert hat, kann sie nicht hinreichend belegen. Es gibt keine triftige Belegstelle. Was die Quellen zeigen, ist, daß die Gewalt beim Zusammenhalt der Roten Armee zwar eine große Rolle spielte, aber sie war nicht der einzige oder ausschlaggebende Faktor. Tschuikow gibt im Gespräch mit den Moskauer Historikern zu Protokoll, daß er eigenhändig mehrere Kommandeure und Kommissare, die sich in den ersten Tagen der Schlacht ohne seinen ausdrücklichen Befehl an das andere Wolgaufer zurückgezogen hatten, vor der versammelten Truppe erschossen habe. Ich denke, daß der exemplarische Charakter dieser Exekutionen wichtig war, das sollte Wirkung erzeugen, was es ja auch getan hat. Aber insgesamt ist die Größenordnung deutlich geringer, was sowjetische Geheimdokumente aus dem Archiv des heutigen FSB auch belegen. Dort ist von knapp 1 200 Exekutionen wegen Fahnenflucht die Rede, die zwischen August und Oktober 1942, also in der kritischsten Phase der Verteidigung von Stalingrad, in den Armeen der Stalingrader und der Don-Front vollstreckt wurden. Daß die Zahl der Hinrichtungen bislang so stark übertrieben wurde, liegt an zwei Dingen: Zum einen existiert das Klischee des nur von hinten mit der gezückten Pistole in den Kampf getriebenen stumpfen Rotarmisten, der selbst überhaupt keine Motivation hatte zu kämpfen. Das hatten bereits die Nazis propagiert, die ja selbst glaubten, daß nur die Kommissare Träger kommunistischer Ideen in der Truppe waren. Man hat nicht erkannt, wie stark die vom Stalinschen Regime lancierten Ideen im Krieg zündeten und nicht begriffen, daß der Kommunismus im Krieg sich wesentlich vom Vorkriegskommunismus unterscheidet. Denn jetzt sah die sowjetische Bevölkerung einen sehr gegenständlichen Gegner, der erbarmungslos angriff und mordete und deswegen bekämpft werden mußte. Das war viel plastischer als der japanische Spion und ähnlich fiktive Feinde aus der Propaganda vor dem Krieg. Das gab dem System eine ganz andere Legitimation. Die antifaschistische Einstellung wurde verstanden und aufgegriffen. Im Krieg wurden auch nicht Soldaten gefördert, die Stalins »Kurzen Lehrgang« auswendig aufsagen konnten, sondern Soldaten, die sich in der Schlacht am besten bewährt hatten. Sie wurden reihenweise in die Kommunistische Partei aufgenommen und anderen Soldaten als Vorbilder vorgeführt.

RJ: Muß die bislang gängige Sicht in Deutschland auf die Rote Armee in dieser Schlacht revidiert werden?

JH: Ob sie grundsätzlich revidiert werden muß, weiß ich nicht, aber mir scheint doch, daß man zu Teilen nun ein ganz anderes Bild der Roten Armee gewinnt. Das gängige Klischee in der deutschen und westlichen Forschung von einer Armee primitiver Bauernsoldaten entspricht nicht der Realität. 1943 ist die Rote Armee seit 25 Jahren der militärische Arm einer Erziehungsdiktatur, die sich zum Ziel setzte, aus Bauern kultivierte Stadtmenschen zu machen und deswegen bemüht war, alles Bäuerliche von ihnen abzustreifen. Es wurde gegen den bäuerlichen Fatalismus gearbeitet und versucht, die Soldaten zu an sich selbst arbeitenden, an die Zukunft glaubenden, modernen Menschen zu erziehen. Das zeigte auch Effekte: Diese Werte fanden einen Widerhall, und so hatte der Rotarmist insgesamt auch ein anderes Profil als das einer inartikulierten und ausdruckslosen Kampfmaschine. Da müssen Sie nur in den Protokollen lesen, wie differenziert, individuell und interessant sich diese Menschen ausdrücken.

RJ: Wie wichtig war die Kampfmoral der Roten Armee, und welche Rolle spielte dabei die Kommunistische Partei?

JH: Die Kampfmoral schätze ich speziell auch für die erste Phase der Verteidigung, aber auch für die spätere Phase als sehr wichtig ein. Die erste Phase ist ja dadurch gekennzeichnet, daß überhaupt nur wenige Sowjetsoldaten – Tschuikow spricht im Interview davon, daß einige seiner Divisionen im September zum Teil nur noch 200 bis 300 kampffähige Soldaten zählten – zur Verteidigung der Stadt noch übrig waren, die nicht nur mit Gewaltandrohung, sondern auch mit Propaganda immer wieder in die Schlacht geschickt wurden. Beispielsweise wurden Bürgerkriegsveteranen an die Front geholt. Die politischen Offiziere robbten bis in die letzten Minuten vor einem Kampfeinsatz in die Schützengräben und hielten dort improvisierte kleine Veranstaltungen ab. Immer wieder wurde in Einzelgesprächen der Versuch unternommen, die Soldaten zu motivieren. Und nach der Kampfhandlung wurde diese Motivationsarbeit weiter fortgesetzt, um den Soldaten klarzumachen, was die Schlacht im weltgeschichtlichen Rahmen bedeutet. Diese Arbeit ist eine ganz besondere, gerade auch, wenn man sie mit der Art vergleicht, wie Soldaten in anderen Armeen des Zweiten Weltkrieges vorbereitet wurden.

RJ: Wie war es um den politischen und ideologischen Internalisierungsgrad der deutschen Soldaten bestellt?

JH: Das ist eine Frage, die unter Historikern im Zuge der Diskussion um das Buch »Soldaten« zur Zeit viel Beachtung findet. Ich denke, daß manche Forscher vielleicht zu stark auf einen scheinbar unpolitischen Zustand des deutschen Soldaten abheben beziehungsweise anhand der Feldpostbriefe aus dem Kessel von Stalingrad sogar eine Privatisierung des Gedankenguts konstruieren. Ich halte das methodologisch für fragwürdig. Man muß sehen, wie Soldaten 1939 dachten, wie sie sich 1940, am Höhepunkt des Naziregimes, sahen und wie sich ihre sprachlichen Äußerungen über größere Zeitläufe hinweg entwickelten. Hier nur den kleinen Ausschnitt der außerordentlichen Krise der Einkesselung zu nehmen, könnte ein verfälschtes Bild ergeben.

RJ: Welchen Einfluß hatte die sowjetische Propaganda auf das Kampfverhalten der Deutschen?

JH: Der Einfluß war wahrscheinlich ein geringer. Das wird von den Propagandaoffizieren, die auch in den Protokollen zu Wort kommen, bestätigt. Sie kommen immer wieder zu dem Schluß, daß die Parolen des Antifaschismus nur sehr gering bei den deutschen Soldaten verfangen. Ein deutscher Soldat gab in der Gefangenschaft zu Protokoll, daß er sich sehr wundere, daß hier immer von Faschisten die Rede sei. Die Faschisten wären doch die Italiener. Die fehlende Selbstwahrnehmung als Faschisten war ein großes Problem. Einige spezifische Propagandamittel waren jedoch höchst erfolgreich: So etwa eine Postkarte mit dem Bild eines kleinen weinenden Kindes, das einen Soldatenbrief liest, wobei man im Hintergrund einen toten deutschen Soldaten erkennt. Überschrieben ist das Bild mit den Worten: »Papi ist tot«. Diese Postkarte wurde bei vielen Deutschen im Kessel gefunden. Auf sowjetischer Seite kam man zum Schluß, daß die Deutschen zwar hartherzig und zerstörerisch seien, aber man sie mit solchen Postkarten gut an ihrer Sentimentalität packen konnte.

RJ: Sönke Neitzel und Harald Welzer haben im vergangenen Jahr in ihrem Buch »Soldaten« die Aussagen von kriegsgefangenen Wehrmachtsmitgliedern zu der These verdichtet, daß sich die Deutschen beim Vernichtungskrieg im Osten mit seinen ungeheuren zivilen Opfern nicht anders verhalten hätten als Soldaten anderer Nationen auch und dementsprechend ideologische Motivationsmuster keine wichtige Rolle spielen würden. Können Sie diese These bestätigen?

JH: Dem kann ich nicht zustimmen. Wenn man den ganzen Krieg einbezieht, erkennt man große Unterschiede, wie deutsche Soldaten während des Westfeldzuges kämpften und wie sie sich im Osten verhielten. Das gilt auch für die 6. Armee, die vor dem Angriff auf die Sowjetunion auch in Frankreich stationiert war. Hier kann man sehen, wie unterschiedlich sich Soldaten ausdrückten und sich verhielten. Man kann bei den Soldaten Respekt vor der westlichen und romanischen Kultur in Frankreich ausmachen. Dem Gegner bzw. der Kultur im Osten erwiesen sie hingegen gar keinen Respekt. Von Kultur wird ja hier auch gar nicht gesprochen, sondern von Barbarei und Primitivität. Das ist alles Ausdruck einer offenen Ideologisierung. Ebenso der Kommissarbefehl und der Kriegsgerichtsbarkeitserlaß, beides Maßnahmen, die unmittelbar vor dem Angriff auf die Sowjetunion getroffen wurden und die Soldaten dazu ermunterten bzw. explizit aufforderten, »Bolschewisten« zu töten. Insofern hat der Krieg im Osten einen durch und durch ideologischen Charakter.

RJ: In Ihrem Buch habe ich gelesen, daß die Kommunisten in der Roten Armee sehr wichtig waren, weil sie sich durch großen Einsatz ausgezeichnet haben. Der letzte Wunsch vieler schwer verwundeter Sowjetsoldaten war sogar, in die Kommunistische Partei aufgenommen zu werden. Warum?

JH: Das geht auf die Zeit im russischen Bürgerkrieg zurück, als die Rote Armee gegründet wurde. Sie wurde als eine politische Armee geschaffen; neben der militärischen existierte eine politische Hierarchie, jeder militärische Rang hatte einen politischen Offizier von gleichem militärischen Rang zur Seite, der letztlich das Sagen hatte. Das bedeutet zum einen, daß Kommunisten in der Armee stark präsent waren und zum anderen auch, daß sie die Aufgabe hatten, sich an vorderster Front zu bewähren und die einfachen Soldaten zu mobilisieren. Das war ihr Selbstverständnis. Es gab natürlich Kommissare, das kann man den Archiven entnehmen, die diesem Wunschbild nicht entsprachen, und sie wurden als Drückeberger an den Pranger gestellt. Ich glaube aber nicht, daß man hieraus ableiten kann, was einige Forscher tun, daß die Kommissare sich überwiegend gedrückt hätten. Die Statistiken zeigen, daß Kommunisten überproportional im Kampf fielen, eben weil sie als erste loszustürmen hatten. Insgesamt denke ich, ist die Präsenz und der Einsatz von Kommunisten in der Roten Armee in der jüngeren Forschung unterschätzt worden, weil man eine zynische Sicht auf die kommunistische Ideologie pflegt, wie man sie selbst aus aus der späten Sowjetzeit kannte, als der Kommunismus bereits abgewirtschaftet hatte. Von dieser Zeit aber auf die Einstellungen sowjetischer Bürger im Krieg zu schließen, halte ich für einen Fehler.

RJ: Wurden 1937 die Kommunisten in der Roten Armee nicht massenweise liquidiert?

JH: Die Stalinschen Säuberungen haben die Spitze dezimiert. Dessen ungeachtet aber wurden die sowjetischen Streitkräfte zum Krieg hin massiv ausgebaut – ihre Stärke verdreifachte sich bis zum Jahr 1941 auf fünf Millionen Soldaten. Dabei wurden massenhaft jüngere Kommunisten in die Armee gebracht, die ihre Schulbildung nach 1917 erfahren hatten beziehungsweise dann erst geboren wurden. Das brachte einen neuen kommunistischen Schub. Die Säuberungen in der Roten Armee richteten sich auch nicht primär gegen Kommunisten. Der 1937 hingerichtete Marschall Tuchatschewski etwa war adliger Herkunft und hatte bereits als Offizier in der zaristischen Armee gedient. Stalin verdächtigte solche Leute, daß ihre Loyalität nicht ihm, sondern dem Feind galt.

RJ: In Ihrem Buch wird unter anderem von Massakern an Frauen, Alten und Kindern und Vergewaltigungen von seiten der Deutschen berichtet. Wie wurde die russische Zivilbevölkerung in Stalingrad von den Deutschen behandelt?

JH: Es gibt dokumentierte Fälle von Vergewaltigungen, Mißhandlungen und Mord, doch geben diese Dokumente nur punktuelle Einblicke in Verbrechen deutscher Soldaten, die wohl viel verbreiteter waren. Viele wichtige russische Quellen sind noch nicht erschlossen worden. In einigen Fällen lesen sich dank der Stalingrad-Protokolle bekannte deutsche Perspektiven auf neue Weise. Beispielweise der deutsche Vorstoß zur Wolga nördlich von Stalingrad am 23. August 1942, den man aus der Divisionsgeschichte einer deutschen Panzerdivision kennt. Diese Geschichte beschreibt das idyllische Dorf am Wolgaufer, die schattigen Kastanienhaine, in denen die müden Soldaten Ruhe suchten, bevor die Rote Armee einen Gegenangriff startete und die schönen Gärten verwüstete. In der westlichen Geschichtsforschung wird diese von deutschen Veteranen herausgegebene Geschichte kritiklos übernommen. Sowjetische Dokumente zeigen indessen, daß eine der ersten Taten der deutschen Soldaten in diesem Dorf darin bestand, alle jungen Frauen zusammenzutreiben und ein Bordell einzurichten. Alle jungen Frauen dieses Dorfes, das hat eine sowjetische Kommission noch im Dezember 1942 festgestellt, waren vergewaltigt worden.

Jochen Hellbeck wertete für seine jüngste Buchveröffentlichung »Die Stalingrad-Protokolle« über 200 Aufzeichnungen von Gesprächen mit Rotarmisten aus, die jahrzehntelang nahezu unbeachtet im Keller des Instituts für russische Geschichte in Moskau lagerten. Die Interviews waren von drei Wissenschaftlern geführt worden, die einer 1941 ins Leben gerufenen »Kommission zur Geschichte des Vaterländischen Krieges« angehörten. Die Soldaten, vom Muschkoten bis zum General, sollten ungefärbt über ihre Gedanken, Gefühle und Erlebnisse berichten – als Vorbild für andere und als Zeugnis für die Nachwelt. Überliefert ist mit ihren Aussagen, die teils während, teils nach der Schlacht mit den faschistischen Aggressoren protokolliert wurden, ein bedeutendes Zeitzeugendokument, das heutigen Lesern die sowjetische Sicht auf diesen Wendepunkt im Zweiten Weltkrieg, auf berührende Weise nahebringt.


Jochen Hellbeck: Die Stalingrad-Protokolle - Augenzeugen berichten aus der Schlacht. S Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2012, 608 Seiten, 26 Euro

Weitere Veröffentlichungen von Jochen Hellbeck: »Tagebuch aus Moskau 1931–1939« (1996), »Autobiographische Praktiken in Russland« (2004), »Revolution on My Mind: Writing a Diary under Stalin« (2006). Sein 2012 erschienener Band »Die Stalingrad-Protokolle. Augenzeugen berichten aus der Schlacht« sorgte international für großes Aussehen.

Quelle - källa - source

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