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Samstag, 23. November 2013
INDONESIEN UND CHILE, zwei Staatsstreiche und heute?
Einar Schlereth
24. November 2013
André Vltchek hat gestern einen Artikel bei Counterpunch veröffentlicht, den er „Chilean Socialism 1: Indonesian Fascism 0“ (Chilenischer Sozialismus – Indonesischer Faschismus: 1 : 0) nannte. André kann man gut und gerne als Spezialist für beide Länder bezeichnen, da er in beiden gelebt und gearbeitet hat und in Indonesien heute noch lebt. In seinem langen Essay bietet er eine Fülle von selbst erlebten Stories und auch Fakten.
Es ist natürlich verführerisch, zwei Länder, die beide einen blutigen Staatsstreich erlebt haben – Indonesien 1965 durch Suharto und Chile 1973 durch Pinochet, die beide von der CIA unterstützt wurden – miteinander zu vergleichen und zu untersuchen, welche Richtung sie genommen haben.
Doch leider hinkt der Vergleich gewaltig, ja man kann sagen, dass beide Fälle Welten auseinander liegen. Das liegt nicht nur daran, dass man Chile keineswegs als sozialistisches Land bezeichnen kann, nach einer 4-jährigen Amtsperiode der sozialdemokratischen Michelle Bachelet-Jeria, die schon 4 Jahre zurückliegt. Ihre neue wird wahrscheinlich nach einem Jahr beginnen. Aber dieser Punkt ist hier eigentlich nebensächlich.
Was André einleitend über den Staatsstreich in Jakarta sagt, ist allerdings von höchster Bedeutung. Er hält fest, dass es nicht nur einfach ein Coup war, wie hunderte andere auch davor und danach, unterstützt von der CIA, der MI5 und den westlichen Medien, sondern es war ein detailliert in den USA ausgeklügeltes Experiment, das wider Erwarten sehr erfolgreich verlief, weswegen es seither als Blueprint für viele andere Staatsstreiche diente. Es ging um Folgendes:
Man ermorde 2-3 Millionen Menschen – Kommunisten, Sozialisten, Nationalisten, Demokraten – zerstöre die gesamte Kultur, die Medien, das Erziehungswesen, Gesundheitswesen, verpasse der übrigen Bevölkerung eine gründliche, andauernde Gehirnwäsche, führe einen extremen Markt-Kapitalismus resp. Globalisierung ein, setze gefügige Marionetten ein, die jeden Piepser an Widerspruch gnadenlos auslöschen und übergebe die Reichtümer des Landes dem ausländischen Kapital und einheimischen Gangstern. Man erreichte, was man wollte.
Ein Land, das bar jeder Kultur, jeder Solidarität und Nächstenliebe ist, arm zum Erbarmen und reich zum Kotzen, mit zerstörter Infrastruktur in sämtlichen Bereichen, ohne Industrie, ohne Erfinder, ohne Denker, ohne Schriftsteller, Künstler und einer völlig ignoranten Bevölkerung, total verblödet durch die staatliche Propaganda und extremen Islamismus.
Nun, dieses Vorbild wurde genauso im Irak, in Libyen, im Kongo, in Albanien, in Somalia angewandt, wo ebenfalls nur noch Trümmer übrig sind. Und in anderen Ländern, wie Syrien und Jemen, tut man sein Bestes, dass es auch so weit kommt. Dieses Konzept sollte von allen Intellektuellen der 3. Welt und vor allem von ihren Führern gründlichst studiert werden, was nicht einfach ist, da nach wie vor alles getan wird – Medien, Universitäten, westlichen Staatsmännern – um die Details zu vertuschen, auszuradieren, zu verdrehen und mit Lügen zu ersetzen und Indonesien gar als ein nachahmenswertes Modell darzustellen. Und man lasse sich nicht von dem Sturz Suhartos verleiten und der sogenannten Einführung von Demokratie. Das ist eine Farce. Suharto ist zwar weg und begraben, aber sein Modell lebt weiter.
Danach schildert André den Staatsstreich 1973 in Chile. Gewiss geschahen dort viele identische Dinge. Mord, Folter, Vergewaltigung, dort unter christlichem Vorzeichen. Aber André macht einen entscheidenden Moment aus: Als dem großen Musiker und Sänger Jara die Hände gebrochen und ihm seine Guitarre hingeworfen und „Nun spiel!“ zugebrüllt wurde. Und Jara sang „Venceremos!“, bis man ihm mit Kugeln den Mund schloss. Dies sei der Moment gewesen, meint André, an dem die beiden Länder verschiedene Wege gingen. In Chile begann der lange Weg des Kampfes um Freiheit und in Indonesien der lange Weg in die Unfreiheit, die Unterwerfung.
Und hier will ich ansetzen und André bei seinen Vergleichen folgen, was die Menschen in beiden Ländern durchgemacht haben und was aus ihnen heute geworden ist.
André sagt, in Indonesien gab es keinen Widerstand, die Menschen weinten und bettelten um ihr Leben. In Chile gingen tausende junge Männer und Frauen in die Berge und kämpften unter dem Banner der MIR (Linke Revolutionäre Bewegung). Auch wenn die MIR überlebte bis zum Ende der Diktatur, konnte sie doch keinen wesentlichen Einfluss auf den Lauf der Dinge ausüben.
Aber, obwohl André so lange in Indonesien gelebt hat, hat er nichts davon gehört, dass im Grunde das gleich dort passierte. Einige tausend Männer und Frauen entkamen und konnten sich in die Bloraberge zurückziehen, um mit dem Guerillakrieg zu beginnen. Sie konnten sich kaum ein Jahr halten, bevor sie von der riesigen indonesischen Armee total aufgerieben wurden. Obwohl Indonesien die drittgrößte kommunistische Partei (PKI) der Welt hatte, war sie durch die Parteiführung und die revisionistischen Theorien eines Chruschtschow vom 'friedlichen Übergang zum Sozialismus' theoretisch entwaffnet worden. Sie hatte nicht die kleinste Vorbereitung für Illegalität und bewaffneten Kampf getroffen.
André sagt dann, dass „hunderttausende Chilenen das Land verließen und über die ganze Welt verstreut lebten … wo sie ihr Leben dem Kampf widmeten“. Eine gelinde Übertreibung – mögen es 10 oder 20 Tausend gewesen sein, dann ist es viel.
Aber ich will nicht um Zahlen streiten, sondern hierzu sagen, dass hier jeder Vergleich aufhört. Chile ist im Vergleich zu Indonesien sehr viel reicher gewesen und hatte eine gebildete Bevölkerung. D. h. es gab eine recht große Mittelschicht, die es sich leisten konnte zu fliehen. Die gab es nicht in Indonesien. Und abgesehen davon, wohin hätten sie fliehen sollen?
Da kommen wir zum alles entscheidenden Punkt: die Chilenen waren Weiße und immerhin Christen und die Indonesier waren Braune und obendrein Moslems, „Schwarzköpfe“, wie die Schweden gerne sagen. Die Chilenen wurden überall hilfreich aufgenommen, da es überall Solidaritätskomitees gab. Sie waren gut ausgebildet und konnten relativ schnell Arbeit finden und sich einleben. Viele heirateten in der BRD, der DDR und hier in Schweden. Schriststeller, wie mein Freund Antonio Skármeta, wurden publiziert und nahmen an dem öffentlichen Leben teil, wurden sogar Politiker.
Dieser Weg war den Indonesiern definitiv verschlossen. Selbst wenn der weltberühmte Schriftsteller Pramudya Ananta Toer oder der Dichter W. S. Rendra in die BRD kamen, wo ich das Glück hatte, beide kennenzulernen, war das kein Ereignis für die Medien. Sie konnten lediglich in kleinen linken Kreisen Lesungen geben. 5000 Indonesier in der BRD? Undenkbar.
Nun ein weiterer Punkt, wo ein Vergleich inkompatibel ist. André schreibt: „In Indonesien starben 1965/66 zwischen 2 und 3 Millionen Menschen, in Chile betrug die Zahl 3 bis 4 Tausend. Selbst wenn man es in Verhältnis zur Bevölkerungsmenge setzt, ist der Unterschied überwältigend.“ Genau. Im Fall Chiles 0.04 % (10 Mill.im Jahr 1973), im Fall Indonesiens sind es 3 % der Bevölkerung (100 Mill. im Jahr 1965). Das ist 75 mal mehr. Viele Menschen haben mir erzählt, dass es kaum eine Familie gab, die nicht betroffen war. Zu den Toten müssen Millionen Verwundete, Gefangene, vergewaltigte Frauen gerechnet werden. Das ist ein ungeheurer Blutzoll. Ein Terror, der in jedes Hirn gebrannt wurde. Engels hat einmal geschrieben, dass der deutsche Untertanengeist auf den unglaublichen Terror nach den verlorenen Bauernkriegen zurückzuführen sei. Das ist denkbar und könnte die Unterwürfigkeit der indonesischen Bevölkerung nach den Ereignissen von 1965 erklären, auch wenn man sie empörend findet.
Es kommt eine weitere Erklärung hinzu. 1965 waren die Medien im Westen noch fest in der Hand der Herrschenden. Als ich 1968 aus Schweden nach Deutschland zurückkehrte, mitten hinein in den Studentenaufruhr in Frankfurt und dort die Studentführer Krahl, die Wolff-Brüder etc drängte, doch was zu Indonesien zu machen, betraute man mich mit der Aufgabe, weil sie keine Ahnung hatten. Doch in den drei Jahren hatte sich das Bild von dem „Kommunisten-Putsch“ schon in den Hirnen festgefressen, so dass es fast unmöglich war, Solidarität für das indonesische Volk zu wecken.
Das war 1973 völlig anders. Da war der Studentensturm einmal um die ganze Welt gebraust und hatte, wenn auch nur für kurze Zeit, etwas bewegen können. Es gab Solidaritäts-Bewegungen zu Hauf. Speziell Lateinamerika war in Europa „entdeckt“ worden durch viele Filme und Übersetzungen von Literatur – Neruda, Márquez, Galeano etc. - und die vielen chilenischen Intellektuellen, die nach Europa kamen und tätig wurden.
Der Tod Nerudas hat viele Menschen zutiefst bewegt. Zwar bekam auch er nicht den Nobelpreis – so wenig wie Nazim Hikmet, Majakovski, Artur Lundkvist (dessen wunderbaren Nachruf auf Neruda, ein viele Seiten langes Gedicht, ich übersetzen und auch veröffentlichen konnte), Pramudya Ananta Toer, die ja alle Kommunisten waren – aber er war doch weiten Kreisen bekannt und vertraut. Sie alle waren im gewissen Sinne die 'Unsrigen' – sie hatten eine europäische Sprache und Religion und sie waren weiß, nicht zu vergessen.
Last not least währte die Pinochet-Diktatur nur knappe 17 Jahre. Und Suharto war 33 Jahre an der Macht und danach änderte sich wieder gar nichts. Die Diktatur der Generäle hält bereits fast 50 Jahre an. Die meisten Menschen in Indonesien sind jung und sie haben niemals etwas anderes erlebt, gehört oder gesehen. Und wir dürfen nicht die enorme Macht des extremistischen moslemischen Klerus vergessen, der mit reichlich Geld von den saudischen Wahabiten geschmiert wird. Das zu verstehen, dürfte Europäern doch eigentlich nicht so schwer fallen, wo Europa die finsteren Zeiten der Inquisition und der Allmacht des Papstes über Jahrhunderte durchlitten hat.
Nimmt man all diese Faktoren zusammen, dann muss einem das Ergebnis als fast unausweichlich erscheinen. Aber ich kann die Wut und Empörung von André Vltchek auf das Volk durchaus verstehen, zumal er dort lebt und auch bei allem Bemühen nicht den blassesten Hoffnungsschimmer am Horizont erkennen kann.
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