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Mittwoch, 31. Januar 2018

Das Lügen verbieten


TFFR Nr. 1-2/1998



Jan Myrdal


Aus dem Schwedischen: Einar Schlereth

Jan Myrdal bei einer kürzlichen Diskussion

Ich fange ganz allgemein an: Gewiss gehört die Presse-Freiheit, wie auch die übrigen Freiheiten zu unserem offiziellen gesellschaftlichen Katalog von Freiheiten, den formellen Freiheiten. Dass wir alle das Recht haben, eine Zeitung zu gründen und herauszugeben, wenn wir wollen, aber das gibt uns nicht das reale Recht, es zu tun.

Letztlich geht es um die großen politischen Widerssprüche zwischen Süden und Norden in der Welt und zwischen den Klassen in den Nationen und gerade die Sicht vom Charakter der Freiheiten und dem Kampf darum, die formalen Freiheiten in reelle zu verwandeln.

Diese formellen Freiheiten sind historisch, sie sind nicht ursprünglich, naturgegeben. Sie sind zeitbestimmt. Die aufrührerischen Freiheiten des bürgerlichen Dritten Standes. Sie wurden nicht von denen da oben denen da unten gegeben. Die formellen Freiheiten waren das Resultat eines langen Volkskampfes.

Dass sie formell sind, bedeutet nicht, dass es Formalitäten sind. Das Gesetz für Rede- und Pressefreiheit ist kein Fetzen Papier. Jetzt gibt es viele, die die Politik der Koalitionsregierung im 2. Weltkrieg als eine Politik von Kollaborateuren bezeichnen; Schweden wird als Marionetten-Staat bezeichnet, Per Albin als ein Pétain. Aber wir waren ja dabei und kritisierten die nachgiebige Politik (Per Albin bat meinen Vater, dafür zu sorgen, dass ich darüber schweigen solle) und wir wissen, dass das nicht stimmt. Die Eingriffe, die grauen Zettel, das Transport-Verbot, ja. Aber Berlin konnte bei weitem nicht alles durchsetzen, was die deutsche Legation forderte. Die Koalitionsregierung konnte mit starker Unterstützung des Volkes auf die formalisierten formellen Rede- Pressefreiheit – Gesetze verweisen.

Jetzt ist es wichtig festzuhalten gerade an den formalisierten formellen Freiheiten, denn es geht in unserem Land und im ganzen unsrigen Teil der Welt – wo der Dritte Stand einst siegte – eine große ideologische Umstellung vor sich.

Nehmen wir einige Beispiele: Pastor Stanley Sjöberg veranstaltete in seiner Kirche eine informative Diskussion mit iranischen Theologen. Was hielten sie davon, wenn jemand abtrünnig wird? Das waren allgemein wichtige Fragen.

Aber iranische Emigranten, Aktivisten „vom PEN“, schlugen Krawall. Sie wollten die Diskussion verhindern. Das ist rechtswidrig. Der Staatsanwalt leitete eine Untersuchung ein.  Aber da schrieb eine lange Reihe von Kulturarbeitern einen Aufruf, dem zufolge nicht der Krawall, sondern die Untersuchung ein Übergriff wäre. Die iranischen Theologen dürften sich in Schweden nicht über ihre Religion äußern.

Es hat mehrere ähnliche Fälle gegeben. Der französische Revisionist Faurisson sollte auf einer Veranstaltung reden. Es war eine rechtliche Veranstaltung. Es gab eine Erlaubnis. Er wurde misshandelt und die Veranstaltung gesprengt. Sogar den Sverigedemokraten (eine rechte Partei) und anderen wurden iher Versammlungen gesprengt und/oder sie wurden niedergeschrien. Wenn es um Personen mit Ansichten geht, die als unpassend angesehen werden, gab es bei uns nur wenige, die die Ansicht vertraten, dass Rede- und Pressefreiheit auch für Gegner gelten muss.

Früher war jedoch diese Auffassung die offizielle Ideologie der Gesellschaft. Die ist jetzt intellektuell von sowohl Liberalen und Sozialisten wie auch mehr unabhängigen linken Gruppen aufgegeben worden.

Man kann nur konstatieren, dass zum Unterschied seit der Zeit, als der Nazismus eine wirkliche Gefahr war, sich diese jetzigen offiziellen Gegner unter Intellektuellen und in politischen Jugendorganisationen der Meinung angeschlossen haben, dass zuerst ein Verbot und dann die Kampfmethoden der Nazis der 20-er Jahre mit Saalschlacht, Versammlungs-Sprengung und den Gegnern eins richtig auf die Schnauze zu geben, die richtigen politischen Argumente sind.


Oder ein anderer Fall: Kürzlich wurden einige Fotografien in einer Ausstellung im Historischen Museum als empörend empfunden. Aber sie waren rechtlich nicht angreifbar. Die verantwortliche Museumsleitung begnügte sich daher, ihren Abscheu vor der Ausstellung kundzutun, um dann den jungen Nazis Beifall zu klatschen, als diese rechtswidrig die Fotos abrissen und zerstörten. Zu der langen Liste könnte man auch so etwas wie die eigenartigen Gesetzesdeutungen hinzufügen, laut denen gewisse Symbole – Runenzeichen und sonstiges, was für die überwältigende Mehrheit unverständlich ist – strafbar sind.

Das ist ein Rückgang in die vor-bürgerliche Zeit des Rede- und Pressefreiheits-Verbotes. Die Lüge soll verboten und bestraft werden. Jetzt gilt in dem gesamten reaktionären Europa wieder das Wort Leo des XIII von 1888: „Die Gedankenfreiheit und die Freiheit zu publizieren, was man will … ist der Ursprung für vieles Böse.“

Die Debatte, die in offiziell liberalen Zeitungen wie etwa der Dagens Nyheter über die Redefreiheit des Gegners geführt wird, scheint eher beeinflusst zu sein von den Schmähschriften aus dem Jahr 1665. Die Tradition von der Verordnung betreffs der Schreib- und Druckfreiheit von 1766 ist jedenfalls den Redaktionen fremd – außer bei Festreden. Ja, alle die klassischen, liberalen Argumente der jüngsten Jahrhunderte von der Vorstellung, dass Lügen verboten werden könnten, sind wie weggeblasen. Dass gerade Liberale und Sozialisten unterschiedlicher Schattierung zu Fürsprechern des älteren Rechts werden, ist eine Ironie der Geschichte.

Es war in Moskau zur Sowjetzeit, als sowjetische Intellektuelle vergebens versuchten, mich davon zu überzeugen, dass Hitler nur deswegen siegte, weil es in Deutschland eine zu große Rede- und Pressefreiheit gegeben habe. Aber jetzt sehe ich im Pressehistorischen Jahrbuch von 1998, dass mag.art. Asle Rolland und Redakteur Einar Olsen bei der Zensurdebatte in Voksenåsen 1997 Arne Ruth applaudierten, als er „ … einen warnenden Finger erhob, dass das freie Wort in der Weimarer Republik den Weg für Hitlers ‚Mein Kampf‘ bahnte.“

Argumente rassistischer Art, offen antisemitische und faschistische Ansichten waren in der Sowjetunion und den Oststaaten strengstens verboten. Und dann? Als der Druck nachließ, zeigte es sich, dass gerade solche Ansichten, die nicht offen zur Diskussion gestellt wurden, unterirdisch schwärten und zu einem virulenten Antisemitismus und Rassismus führten, wovon jetzt Polen und große Teile der ehemaligen Sowjetunion geprägt sind.

Jene, die sich nicht mehr um Prinzipienfragen kümmern, sollten jedenfalls gelegentlich daran denken, dass die Resultate des Verbots von Lügen, was sie jetzt fordern, praktisch schon vorliegen.

TFFR Nr. 1-2/1998





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