Der weissrussische Maidan
Das Bild, das die westlichen Medien in den letzten Monaten von Weissrussland (Belarus) zeichnen, hat nichts mit der Realität zu tun. Es gibt auch kaum Journalisten, die jemals das Land besucht haben und eine objektive Vorstellung davon haben.
Das Modell des sozialen Volksstaates
In Wirklichkeit ist Weissrussland ein sozial orientierter, unabhängiger und souveräner Volksstaat mit kostenloser Gesundheitsversorgung und Bildung, stabilen Arbeitsplätzen und günstigen Wohnmöglichkeiten. Das Land ist eine «Zitadelle traditioneller Kultur», wie eine offizielle Parole lautete: Die Kultur ist geprägt von klassischer Literatur und Kunst, traditioneller Ästhetik, realistischem Stil in der Literatur und der Priorität der Familie. Es gibt eine Renaissance des Christentums sowohl der orthodoxen als auch der katholischen Konfession.
Die Weissrussen kommen aus der Rus, dem ostslawischen Volk, das vor mehr als 1000 Jahren aus drei Fürstentümern bestand: Kiew, Polozk und Nowgorod, und im Jahr 988 christianisiert wurde. Später wurde es weitgehend von Polen und Litauen beherrscht, und als nur mehr ein Gebiet im Nordosten übriggeblieben war, nannte man es «Belaja Rus», das heisst die reine, nicht dem «Latinismus» unterworfene Rus.
Die Belarussische Sozialistische Sowjetrepublik (BSSR), gegründet 1920, litt unter Stalins Repressionen, aber die Tatsache bleibt, dass es ohne die BSSR keine heutige Republik Belarus geben würde. Am Ende war sie die am weitesten entwickelte Sowjetrepublik mit dem höchsten Standard in der Industrie und im Bildungswesen.
Am 24. August 1991 erklärte die BSSR ihre Unabhängigkeit und verfolgte bis 1994 einen prowestlichen Kurs, der, ähnlich wie in Russland und der Ukraine, auf den Weg des Neoliberalismus führte. Im Jahre 1994 gewann jedoch Alexander Lukaschenko mit 81 % der Stimmen die Präsidentschaftswahlen – Lukaschenko, der nicht aus der Nomenklatura kam und nicht ihre Interessen vertrat. Er behielt die staatliche Industrie und viele soziale Einrichtungen des sowjetischen Systems bei, aber entmachtete die im Entstehen begriffene neue Oligarchie.
Weissrussland ist seither eine Präsidialrepublik, in der der Präsident die Regierung einsetzt und die Grundlinien der Innen- und Aussenpolitik bestimmt. Der Präsident wird alle fünf Jahre und die Nationalversammlung alle vier Jahre nach einem Mehrheitswahlrecht gewählt. Das sowjetische System wurde politisch, wirtschaftlich und kulturell weiterentwickelt. Weissrussland kann seit damals auf Wachstum, Stabilität und soziale Sicherheit verweisen. Es war die erste Ex-Sowjetrepublik, die im Jahr 2005 das Bruttoinlandsprodukt der Ära vor dem Zusammenbruch der Sowjetunion wieder erreichte: 120 % des Niveaus von 1990, verglichen mit 85 % in Russland und 60 % in der Ukraine.
Präsident Lukaschenko wählte diesen Weg, um die Extreme der Schocktherapie und Kolonisierung durch das westliche Kapital zu vermeiden. Es gelang ihm, eine wirtschaftliche Katastrophe, Korruption, massiven Kapitalexport und den Ruin des Landes zu vermeiden. Dank dieses Kurses ist Weissrussland die erfolgreichste der ehemaligen Sowjetrepubliken geworden: Das reale BIP verdoppelte sich 1990–2014 (in Russland wuchs es um 15 % und in der Ukraine um 30 %, so die Weltbank).
Die weit verbreitete Ansicht, dass die weissrussische Wirtschaft ein Relikt des sowjetischen Sozialismus ist, entspricht nicht der Realität. Darin wirken Marktmechanismen, die durch die Offenheit der weissrussischen Wirtschaft einen ziemlich harten Wettbewerb schaffen, auch für staatliche Unternehmen, die auf den Export von High-Tech-Produkten ausgerichtet sind.
Der Hochtechnologiepark in Minsk, gegründet 2005, das weissrussische «Silicon Valley», ist eine Wachstumsbranche, die derzeit aus etwa 400 IT-Firmen (darunter ein Drittel ausländische) mit mehr als 30 000 Angestellten besteht.
Ein Meilenstein in der Zusammenarbeit zwischen Weissrussland und China ist die Entwicklung des Industrieparks Weliki Kamen (Grosser Stein). Der Park ist 92 Quadratkilometer gross und hat einen besonderen rechtlichen Status, der der Geschäftstätigkeit förderlich ist, mit grossen Anreizen für ausländische Investoren. Der Park liegt 25 km von Minsk entfernt und in unmittelbarer Nähe des internationalen Flughafens, der Eisenbahnlinien und der Autobahn Berlin–Moskau. Laut Statistiken des chinesischen Handelsministeriums befinden sich 63 Unternehmen im Park, deren Investitionen 1 Milliarde US-Dollar übersteigen.
Die geistige Wiedergeburt
Die
Nationalkultur wird als «Grundstein der Unabhängigkeit» gesehen. Dem
Bildungswesen wird von der Regierung eine hohe Priorität beigemessen,
was in einem Vergleich zu anderen GUS-Ländern im überdurchschnittlichen
Anteil am Staatsbudget (etwa 7 %) zum Ausdruck kommt. Die Zielsetzungen
der 1998 beschlossenen Bildungsreform nannten die «Wiederherstellung der
nationalen und kulturellen Grundlagen der Erziehung» an erster Stelle.
Das Fach «Staatsideologie», eine Art Staatsbürgerkunde, die in den
oberen Klassen unterrichtet wird, dient der Erziehung zur Liebe zur
Heimat, zum Staat und zur Familie. Der Wertewandel, der mit dem Zerfall
der Sowjetunion einherging und mit einem verstärkten westlichen Einfluss
verbunden war, wird von der Regierung bekämpft.
Die patriotische Erziehung ist auch die Aufgabe des Belarussischen Republikanischen Verbandes der Jugend (BRSM),
der in den letzten Jahren eine Reihe von Aktionen in dieser Richtung
durchgeführt hat, so «Wir dienen Weissrussland» zur Verbindung der
Jugend mit der Armee, die Aktion «Gedenken» zur Erinnerung an die
Verteidigung der Heimat in den Jahren des Zweiten Weltkriegs und
schliesslich die Aktion «Weihnachtsbaum», die jährlich am orthodoxen
Weihnachtsfest Anfang Jänner unter Mitwirkung der orthodoxen
Geistlichkeit durchgeführt wird. Die jährlichen Kyrill-und-Method-Vorlesungen
an der Staatlichen Universität Minsk und der Feiertag des slawischen
Schrifttums am 24. Mai dienen der Wiedergeburt der christlichen Werte in
der weissrussischen Gesellschaft.
Mit dem Preis «Für die
geistige Wiedergeburt», durch ein Dekret des Präsidenten gestiftet,
werden jährlich am 7. Jänner, am Tag von Christi Geburt nach dem
orthodoxen Kalender, Kulturschaffende, Schriftsteller, Lehrer und
Geistliche für hervorragende Leistungen im Bereich der Literatur und
Kunst, im humanitären Bereich und für die Festigung geistiger Werte
ausgezeichnet.
Corona-Krise: Keine Panik in Weissrussland
Die
Corona-Epidemie kam im März 2020 auch nach Weissrussland, aber es gab
einen umfassenden Plan zur Bekämpfung der Epidemie. Es gab aus der
sowjetischen Zeit noch Krankenhäuser für Infektionskrankheiten,
Vorsorgemassnahmen für eine Epidemie mit medizinischer Ausrüstung,
Instituten für Virologie und Epidemiologie und geschultes Personal.
Nach Angaben der Uno war Weissrussland für die Krise gut vorbereitet,
weil es über 41 Ärzte, 114 Krankenschwestern und 110 Krankenhausbetten
pro 10 000 Einwohner verfügt. In den fortgeschrittenen europäischen
Ländern ist der Durchschnitt dagegen: 30 Ärzte, 81 Krankenschwestern und
55 Krankenhausbetten.
Lukaschenko hob jedoch den eigenständigen
Weg von Weissrussland hervor, indem er sich weigerte, eine Quarantäne
über das ganze Land zu verhängen. Weissrussland ist ein Land, das nicht
stillgelegt wurde. Die Betriebe und Geschäfte, die Gastwirtschaften,
Schulen, Universitäten und Kirchen wurden nicht geschlossen, sondern
blieben geöffnet und arbeiteten weiter.
Im Juni 2020 bot der IWF
Weissrussland einen Kredit von 940 Millionen Dollar an, aber der
Staatschef bezeichnete die zusätzlichen, nicht-finanziellen Bedingungen
als inakzeptabel. «Weissrussland sollte im Kampf gegen das Corona-Virus
das tun, was Italien getan hat. Der IWF forderte weiterhin eine
Quarantäne, eine Isolierung und eine Ausgangssperre. Was ist das für ein
Quatsch? Wir springen auf niemandes Kommando», sagte Lukaschenko.1
Die Fehler der Behörden
Es
ist offensichtlich, dass sich das Protestpotential auf den Strassen
seit mehreren Jahren ansammelte. Die Akkumulation wurde durch die Fehler
der Behörden im sozioökonomischen Bereich erleichtert: das schlecht
durchdachte Dekret über Parasitismus von 2017 (betreffend etwa 500 000
Personen, die keiner Arbeit nachgehen), Misserfolge bei der Einführung
eines neuen Verfahrens zur Berechnung der Gehälter, der Berechnung des
Dienstalters, eine Zunahme der sozialen Differenzierung, Misserfolge in
der Jugendpolitik und das Fehlen einer klaren, verständlichen Erklärung
für die gewählte Position des Staates während der Pandemie.2
Es gab auch Fehleinschätzungen im ideologischen Bereich. Die
Konsolidierung der Gesellschaft, die als Notwendigkeit der Versöhnung
mit denen verstanden wurde, die prowestliche und nationalistische
Ansichten vertreten (etwa 15 bis 20 % der Bevölkerung), hat nicht
funktioniert. Während der Unruhen herrschten auf den Strassen Symbole
und Slogans.
Es gab offensichtliche Fehler im
Informationsbereich. Bis zu einem gewissen Moment dominierte die
radikale Oppositionsagenda in den neuen Medien (YouTube, Messenger,
Soziale Netzwerke) fast vollständig. Es blieb nicht genügend Zeit für
den Einsatz regierungsnaher neuer Medien, es war notwendig, diesen
Bereich als einen von den traditionellen Medien getrennten
Arbeitsbereich herauszustellen und normale Mittel dafür bereitzustellen.
Es gab keine scharfe Reaktion auf die Aktivitäten der von Polen
gesponserten provokativen Telegram-Kanäle und die Forderung nach Gewalt durch diplomatische und andere Kanäle.
Die Fehler im Bildungsbereich waren die Übernahme von Elementen des
westlichen Bildungssystems wie zum Beispiel des Bologna-Systems und der
Privatschulen, die ein Ergebnis der Östlichen Partnerschaft der EU
waren.
Der Einfluss der neuen Medien
Die EU-Kommission unterstützt Radio- und Fernsehsendungen der BBC und der Deutschen Welle, die an fünf Tagen in der Woche eigens für Weissrussland Nachrichten und Rockmusik bringen. Sie unterstützt auch die von der Soros-Stiftung
«Offene Gesellschaft» gegründete «Belarussische Humanistische
Universität», die 2006 von Minsk nach Wilna (Litauen) verlegt werden
musste.
In den ersten Phasen des Wahlkampfs war die Tatsache
offensichtlich, dass die Opposition ein mehrstufiges, professionelles
politisches Technologieprojekt entwickelt hatte, in dessen Rahmen vor
allem die neuen Medien eine entscheidende Rolle spielten.
In den
ersten Monaten des Jahres 2020 hat sich die Anzahl der oppositionellen
Medien-Aktivisten vor allem durch den Anstieg der Telegram-Accounts
drastisch erhöht. Die Abonnentenzahl allein bei den fünf grössten
oppositionellen Telegram-Accounts ist von 317 000 am 1. Januar auf
672 000 Abonnenten am 20. Juni 2020 gestiegen.
Der Kanal nexta (weissrussisch nechta, russ. nekto «jemand»), gegründet vor zwei Jahren in Warschau von Stepan Putilo und Roman Protasewitsch, der auch für Radio Free Europe
und BBC arbeitet, hat nach eigener Aussage bereits zwei Millionen
Abonnenten. Der Kanal versorgt vor allem die Demonstranten in Minsk mit
den notwendigen Informationen über Treffpunkte, Termine, Transparente
und politische Parolen.
Die Protestkundgebungen der Opposition
führten zu einer Spaltung der Gesellschaft mit Aggressionen, die bisher
unbekannt waren. Die Staatsmacht propagierte immer die Einheit des
Volkes im ethnischen und religiösen Sinn auf der Grundlage der
weissrussischen nationalen Kultur. Die Protestbewegung verwendet die
Symbolik der im März 1918 unter deutschem Protektorat ausgerufenen
Weissruthenischen Volksrepublik mit der weiss-rot-weissen Flagge, die
auch in den Jahren 1991–1995 verwendet wurde, und die erhobene Faust als
Symbol des Aufstands, das auch in verschiedenen Umstürzen der letzten
Jahrzehnte – in Serbien, Georgien, der Ukraine und Ägypten, verwendet
wurde.3
Der Motor der weissrussischen Proteste war
eine neue Mittelklasse – junge IT-Experten und Kulturschaffende, die
grösstenteils ein Ergebnis der Bemühungen des Staates in den letzten
Jahren sind. Es gibt bereits mehr als 100 000 von ihnen, die bei
westlichen Firmen gut verdienen, aber keinerlei politisches Bewusstsein
haben.
Die versuchte Farbenrevolution
Zu
den Präsidentschaftswahlen am 9. August 2020 wurden 141 Wahlbeobachter
der GUS-Staaten und weitere unabhängige Beobachter aus westlichen
Ländern bei der Zentralen Wahlkommission akkreditiert. Die OSZE wurde,
wie bei den früheren Wahlen, ebenfalls eingeladen, sie lehnte aber mit
dem Hinweis auf die Corona-Massnahmen ab.
Nach der
Präsidentschaftswahl folgte die Entwicklung dem klassischen Muster einer
Farbenrevolution. Als am 9. August die Zentrale Wahlkommission
bekanntgab, Alexander Lukaschenko habe etwa 80 % und Swetlana Tichanowskaja
etwa 10 % der Stimmen bekommen, erklärten Zehntausende Demonstranten in
Minsk am 9. und 10. August Tichanowskaja zur «eigentlichen
Wahlsiegerin».
Zwei prominente Kandidaten konnten nicht zur Wahl antreten. Waleri Zepkalo,
ein ehemaliger Botschafter Weissrusslands in den USA, hatte den ersten
High-Tech-Park des Landes aufgebaut, sich jedoch mit dem Präsidenten
zerstritten. Er verliess das Land, nachdem die Wahlkommission seine
Kandidatur abgelehnt hatte, weil er nicht die erforderliche Anzahl von
Unterschriften sammeln konnte.
Wiktor Babariko, der 20 Jahre lang eine der grössten Banken des Landes, Belgazprombank,
sowie einen Kulturklub für Jugendliche leitete, wurde am 11. Juni wegen
Vorwürfen der Steuerhinterziehung und Geldwäsche in grossem Stil
verhaftet. Babariko behauptet, dies sei politisch motiviert. Er schickte
jedoch seinen Wahlkampfmanager, um die Kampagne von Tichanowskaja zu
leiten.
Am 9. August, nach der Schliessung der Wahllokale, gingen
die Menschen auf die Strasse. Natürlich wurden, wie bei allen früheren
Wahlen, Unruhen erwartet, aber ihr Ausmass übertraf die wildesten
Erwartungen. Wie sich später herausstellte, waren organisierte Gruppen
von Provokateuren in der Menge tätig und sorgten für Zusammenstösse mit
der Polizei. «Molotow-Cocktails» und Kopfsteinpflaster flogen auf die
Polizeibeamten. In der zweiten Nacht begannen die Demonstranten,
Barrikaden zu bauen, die Strassen zu blockieren und wieder
«Molotow-Cocktails» und Steine zu werfen. Eine echte Stadtguerilla
entfaltete sich auf den Strassen, und alles wurde von demselben Nechta-Kanal aus in Echtzeit von Polen aus koordiniert.
Die Proteste hatten kein klares Ziel, den Menschen wurde nicht
einmal etwas versprochen, wie zum Beispiel auf dem Kiewer Maidan
2013–2014 der Beitritt zur EU, hier war alles nur auf einen
Regierungswechsel ausgerichtet.
«Die Spuren der Proteste führen nach Washington. Seit Jahren unterstützt die staatliche US-Stiftung National Endowment for Democracy (NED) die weissrussische Opposition und die ‹Zivilgesellschaft›. Für 2019 listet das NED auf seiner Internetseite 34 Projekte in Weissrussland auf, die finanziell unterstützt wurden. Dabei geht es vor allem um die Stärkung der Anti-Lukaschenko-Opposition und einschlägiger NGO.»
Das Ziel der Proteste
Der «Koordinationsrat für die Übertragung der Macht» hat laut Belta
vom 19. August 2020 in seinem Programm die Einführung einer Grenz- und
Zollkontrolle mit Russland, die Zulassung von Fernsehübertragungen aus
Lettland, Litauen, Polen und der Ukraine, den Austritt aus der
Verteidigungsgemeinschaft der ex-sowjetischen Länder OWKS, ferner ein
allmähliches Verbot der russischen Sprache bis 2030, die Einführung der
weissrussischen Sprache in der Armee, die Errichtung der Belarussischen
autokephalen orthodoxen Kirche, und schliesslich den Beitritt zur
Europäischen Union und zur Nato gefordert (Das Programm wurde inzwischen
von der Webseite des Koordinierungsrates gelöscht).4
In den Dokumenten des Koordinierungsrates werden jedoch die auch im
staatlichen Fernsehen verkündeten Punkte nicht erwähnt. Ein Mitglied des
Koordinierungsrates, Rechtsanwalt Maxim Znak, erklärte auf
einer Pressekonferenz, dass der Rat kein politisches Programm habe. Auch
bei den Demonstrationen gibt es ausser den Symbolen nur die Forderungen
«Hau ab!», «Neuwahlen!» und «Veränderungen!».
Die Spuren der Proteste führen nach Washington. Seit Jahren unterstützt die staatliche US-Stiftung National Endowment for Democracy (NED)
die weissrussische Opposition und die «Zivilgesellschaft». Für 2019
listet das NED auf seiner Internetseite 34 Projekte in Weissrussland
auf, die finanziell unterstützt wurden. Dabei geht es vor allem um die
Stärkung der Anti-Lukaschenko-Opposition und einschlägiger NGO. So
heisst es seitens des NED etwa: «NGO-Stärkung: Das lokale und regionale
zivile Engagement vergrössern».
Ein weiteres Ziel der westlichen
Sponsoren der oppositionellen Bewegung dürfte die Unterbrechung der
Neuen Seidenstrasse sein, die von China durch Weissrussland in die
EU-Länder führt. Der US-Aussenminister Michael Pompeo war
zwischen dem 11. und 15. August 2020 auf Tournee in mehreren
mitteleuropäischen Ländern mit dem offenen Ziel, sie davon zu
überzeugen, die Zusammenarbeit mit China und Russland aufzugeben.
Bereits im Jahr 2018 stellte die Social Engineering Agency (SEA)
für Weissruss-land eine hohe Wahrscheinlichkeit fest, dass in den
nächsten zwei Jahren eine klassische Farbenrevolution – nach der
Methodik des Theoretikers der «gewaltlosen Proteste» Gene Sharp
– stattfinden könnte. Das entsprechende Instrumentarium war bereits
vorhanden – ein dichtes Netz aus mehreren Dutzend NGO, Think tanks,
Medien und Hunderten von Bloggern und Meinungsführern, über Firmen in
Polen und Litauen mit einem Millionen-Budget finanziert.
In seiner Rede am 16. August 2020 auf dem Platz der Unabhängigkeit erklärte Präsident Lukaschenko zu den Protesten:
«Ihr seid hierher gekommen, um euer Land, eure Unabhängigkeit, eure
Familien, eure Frauen, Schwestern und Kinder zu verteidigen! Wir haben
mit euch unter allen Schwierigkeiten dieses schöne Land aufgebaut! Wem
wollt ihr es übergeben?
An den westlichen Grenzen unseres Landes
wird eine militärische Macht aufgebaut. Litauen, Lettland, Polen und
leider auch unsere geliebte Ukraine, ihre Führung, wollen uns befehlen,
Neuwahlen abzuhalten. Wenn wir ihnen nachgeben, landen wir in einer
Sackgasse und werden als Staat, als Volk und als Nation zugrunde gehen.
Sie werden den Präsidenten töten und ihr werdet auf den Knien
liegen. Und denkt daran, ich habe euch nie verraten, nie! Und ich werde
euch nie verraten!»5
Die Unterzeichnung eines
Abkommens über verstärkte Verteidigungszusammenarbeit zwischen den USA
und Polen am 15. August hat Polen zu einem «Dreh- und Angelpunkt der
regionalen Sicherheit» gemacht (wie das US-Aussenministerium
beschreibt).
Der ehemalige ukrainische Ministerpräsident Nikolaj Asarow
(2010–2014) sagte in einer Rede in Minsk: «Wenn ich nun beobachte, was
passiert, möchte ich sagen, dass es sehr an die Vorbereitung des ersten
Maidan erinnert, der 2003–2004 in unserem Land begann. Die westlichen
Sonderdienste haben vor langer Zeit mit den Vorbereitungen für die
belarussischen Wahlen begonnen.
Sie haben es in Weissrussland
nicht geschafft, das sowjetische Erbe zu zerstören. Die Industrie wurde
im Gegenteil modernisiert, und es entstanden wettbewerbsfähige
Unternehmen wie MAZ, BELAZ, Gomselmash … Ich
erwähne nicht einmal, dass es Belarus geschafft hat, einen
High-Tech-Park zu schaffen, der fast tausend Unternehmen der
IT-Produktion zusammenbringt – Produkte für zwei Milliarden US-Dollar.
So hiess es damals auf dem Podium: ‹Morgen werden wir einen Vertrag
mit der EU unterzeichnen – und wir werden europäische Gehälter und
Renten haben.› Wo sind die jetzt? Die realen Löhne und Renten sind in
US-Dollar um die Hälfte gesunken, und die Preise sind unglaublich
gestiegen. Die Ukraine begann, landwirtschaftliche Produkte zu
importieren.
In der Ukraine haben wir jetzt die höchste
Sterblichkeitsrate in Europa. Jedes Jahr, nur auf Grund des physischen
Niedergangs, nimmt unsere Bevölkerung um 300 000 Menschen ab. Ungefähr
zehn Millionen Menschen gingen ins Ausland, weil die Unternehmen
stillgelegt wurden und es keine Arbeit mehr gab. Das System der Medizin
ist völlig zerstört: Covid-19 hat es gezeigt. Mit meiner Rede möchte ich
euch ernsthaft warnen: Glaubt nicht an diese europäische ‹Karotte›!
Glaubt es nicht!»
Das Treffen der Präsidenten von Weissrussland und Russland in Sotschi
Alexander Lukaschenko und Wladimir Putin
diskutierten am 14. September 2020 in Sotschi den Zustand und die
Aussichten für die Entwicklung der bilateralen Zusammenarbeit in
verschiedenen Bereichen, die internationalen Probleme und die Lage in
der Region sowie Fragen der gemeinsamen Reaktion auf zukünftige
Herausforderungen. Alexander Lukaschenko bemerkte:
«Diese
Ereignisse haben gezeigt, dass wir näher bei unserem älteren Bruder
bleiben und in allen Fragen, auch in der Wirtschaft, zusammenarbeiten
müssen.» Der weissrussische Präsident stellte ausserdem fest, dass die
Parteien bei der Schaffung und Ausarbeitung des Vertrags über den
Unionsstaat systematisch und schrittweise vorgegangen sind. «Unsere
Staaten und unsere Völker werden immer freundschaftlich verbunden sein.»
Wladimir Putin stellte zu Beginn fest, dass Russland Weissrussland
als seinen engsten Verbündeten betrachtet und alle seine Verpflichtungen
aus den Verträgen und Abkommen erfüllen wird. «Russland bleibt allen
unseren Abkommen verpflichtet, einschliesslich der Abkommen, die sich
aus dem Vertrag über den Unionsstaat (CSTO) ergeben.» Darüber hinaus
kündigte der russische Präsident an, dass Russland dem weissrussischen
Staat ein Darlehen in Höhe von 1,5 Mia. US-Dollar gewähren will.6
Der Aussenminister Weissrusslands, Wladimir Makei,
erklärte am 18. September 2020 in seiner Rede für die 75. Sitzung der
Generalversammlung der Vereinten Nationen: «Die heutigen Aktionen der
EU-Länder untergraben die Souveränität und Unabhängigkeit von Belarus
trotz der Erklärungen ihrer Unterstützung.» Zu Journalisten äusserte er
sich auch zur Annahme der Resolution «Lage der Menschenrechte in
Weissrussland» durch den UN-Menschenrechtsrat: «Dies kann eindeutig als
Einmischung in die inneren Angelegenheiten unseres Staates interpretiert
werden.»7
Der Aussenminister setzte fort: «Die
Westseite ist für uns jetzt geschlossen, daher müssen wir die
Zusammenarbeit mit Russland maximieren. Dieser Vektor, zu dem wir uns
immer hingezogen fühlten, muss maximal ausgearbeitet werden. Auf diese
Weise intensiviert sich auch die Zusammenarbeit im militärischen und im
Informationsbereich.»8
Die Ergebnisse dieser
Ereignisse werden wie folgt aussehen: Die Integration in die Russische
Föderation wird wiederbelebt, und Weissrussland wird sich im allgemeinen
nach Osten orientieren. Die Zusammenarbeit mit der Volksrepublik China
wird noch zunehmen. Die Beziehungen zur EU werden sich erheblich
verschlechtern, insbesondere zu Polen und Litauen. Es wird eine
Verfassungsreform durchgeführt werden, um das Parlament und die Rolle
der Parteien im politischen Leben zu stärken. •
1 Röper, Thomas. Anti-Spiegel vom 17.8.2020
2 Dzermant, Aleksei. «Die Fehler der Behörden» (russ.), 13.8.2020, https//t.me/dzermant
3 Sankin, Wladimir. «Regimewechsel in Belarus, Social Engineering Agency (SEA)», in: rt deutsch vom 13.8.2020.
Der Gründer der SEA, Anton Davidchenko,
ist ein ehemaliger Teilnehmer des Aufstandes von Odessa im Mai 2014
gegen die neue Kiewer Regierung, der sich nach Russland abgesetzt hat
und sich mit der Strategie des «Social Engineering» beschäftigt.
4 Belta vom 19.8.2020
5 Rede des Präsidenten Alexander Lukaschenko am Unabhängigkeitsplatz in Minsk am 16. August 2020, belta.ru vom 16.8.2020
6 Belarus segodnja vom 14.9.2020
7 Belta vom 18.9.2020
8 Belta vom 17.9.2020
* Prof. Dr. Peter Bachmaier, Osteuropahistoriker und Politologe, Vorstandsmitglied des Österreichischen Ost- und Südosteuropa-Instituts in Wien (1972–2005), Lehrbeauftragter an der Universität Wien (1993–2007), Präsident der Österreichisch-Weissrussischen Gesellschaft (seit 2006).
Am schlimmsten war jedoch weder die Opposition noch die westlichen NGO. Herr Lukaschenko kokettierte mit Westanbindung zu NATO-Europa um Russland zu Zahlungen, Vorzugspreisen und vorteilhafter Sonderbehandlung zu nötigen, gar zu erpressen. Deswegen sind so viele NGO in Weißrussland eingewandert und sesshaft geworden. Dass sich dieses politische Pokerspiel um mehr Machtanteile gegenüber Russland herauszupressen derart nach hinten losgehen würde, zeigen die Nachspiel der letzten Wahl vor 4 Jahren bereits. Ein Macht Mensch, der im Großen gut angefangen hatte, hat sich irreparabel verirrt und seine vormals klare Linie selbst und schuldhaft verlassen. Da er sich als Einzelkämpferheld aufgestellt hat, keine Freunde um und hinter sich in Massen hat, ist zu erwarten, dass die Farbenrevolution mit Weißrussland eine nächste Ukraine gebiert. Mit allen erkennbaren Nachteilen für das Staatsvolk, mit Oligarchen, mit rechten Bataillonen von Russlandfeinden, mit Arbeitslosigkeit, Zerstörung von Bildungseinrichtungen, dem bisher kostenlosen Gesundheitswesen und unsicherer militärischer Zukunft, NATO gleich oder später. Wenn man heute in Ostdeutschland nach den versprochenen blühenden Landschaften sucht und einem großartig gewachsenen Lebensniveau, dann sollte man recht früh aufstehen. Ich persönlich gönne dem randalierenden Dummvolk in Weißrussland dasselbe Erwachen, wie den wendegeilen Ostdeutschen. Strafe muss sein.
AntwortenLöschenMan sollte aber auch nicht so tun, als wäre in der DDR und den anderen Osteuropäischen Ländern alles super gewesen und der Wunsch nach Veränderung völlig unverständlich. Vermutlich wollen die meisten auch heute nicht mehr die alten Zustände zurück. Auch von den Linken im Westen wollte niemand dort leben, die Eltern von Merkel gehörten da zu den wenigen Ausnahmen.
LöschenDie Chinesen haben es richtig gemacht, dazu waren die Genossen im "Ostblock" ideologisch und intellektuell nicht in der Lage.
Etwa geschätze 15 bis 20 % der DDR-Bürger hätten statt bis heute diskriminierenden ANSCHLUSS, nicht etwa eine tatsächliche VEREINIGUNG lieber eine g r u n d s ä t z l i c h r e f o r m i e r t e DDR gehabt. Zu denen zähle ich mich. Neue Untersuchungen und Befragungen bestätigen dieses Wissen von 89/90 nachhaltig. Ich gehörte also zu einer Minderheit. Aber Gleichgesinnte von damals waren nicht so überrascht, dass Kapitalismus auf Dauer nicht funktionieren kann, wie man täglich neue belegt findet. Aber ich hatte genau das, diese wissenschaftlich sowohl damals durch Herrn Marx und heute durch Egon W. Kreutzer (https://egon-w-kreutzer.de/was-bitte-ist-eigentlich-digitalisierung-ein-blick-in-den-abgrund) gefundene Gesetzmäßigkeit studieren dürfen. In der Bezirksparteischule Berlin zwei anstrengend lange Jahre neben meinem Beruf. Lukaschenko, ohne solch Parteischule, wiederholt einige Fehler der DDR-Führung. Mit Brille wär ihm das wohl nicht passiert. Sonst hätte er wohl gelernt: Gier frisst lediglich Geist- Machtgier jedoch frisst mächtig Geist.
Löschen