Donnerstag, 2. Juni 2011

Einige Gedanken bei der Lektüre von Bernhard Schlinks Der Vorleser


Das Buch hat mich stark beschäftigt. Zum einen, weil ich ja auch eine ältere Frau – in Hannas Alter etwa – als Lehrmeisterin in der Liebe hatte, nur leider nicht in so jungen Jahren. Zum anderen, weil diese Hanna eine so gute, starke und kluge Persönlichkeit ist, die so liebevoll gezeichnet wird, dass sie sicher ein Vorbild in der Wirklichkeit hat.
Das Buch ist zweifelsohne sehr gut geschrieben. Die Frau, obwohl weit unter der gesellschaflichen Position des Protagonisten stehend, wird in keiner Weise  herablassend gezeichnet. Ihr junger Liebhaber versucht aufrichtig, ihrer Persönlichkeit gerecht zu werden. Seine tiefe Liebe wird jedem bewusst, der das auch erlebt hat. Die Innigkeit der Beziehung wird besonders eindrucksvoll durch das Vorlesen von Romanen und Theaterstücken dargestellt, die sie beide, auch er, der sie schon kennt, neu erleben und diskutieren.
Andererseits hinterlässt es doch einen unangenehmen Beigeschmack, der in dem Augenblick entsteht, wo die 'Wahrheit' ans Licht kommt: dass sie Aufseherin in dem KZ Auschwitz und später in einem Nebenlager war, und der inzwischen nicht mehr so junge Liebhaber als Jurastudent und Teilnehmer an einem Seminar, das den Prozess als 'Lehrstück' bearbeitet, diesen von Anfang bis Ende verfolgt. Im Verlauf des Prozesses wird ihm klar, dass Hanna Analphabetin war, die ihr ganzes Leben lang versucht hat, diese Schmach zu verheimlichen, dies auch während des Prozesses tut, obwohl das für sie zu einer erheblichen Strafverschärfung führt.
Im Verlauf des Prozesses kommt heraus, dass Hanna auch im KZ Vorleserinnen hatte, junge schwache Mädchen, denen sie, so viel ist dem Jurastudenten klar, die schwere Arbeit ersparen will, die sie aber dennoch nach Auschwitz schicken muss. Dem jungen Jurastudenten wird Hannas Handicap auch in seinen Folgen vollständig klar. Er versucht mit seinem Professor und mit seinem Vater, dem Philosophieprofessor, über sein Problem zu reden, ob er helfen soll oder muss oder lieber nicht, wird aber mit passenden Argumenten versorgt, die es ihm erlauben, lieber zu schweigen.
Und da scheint einfach Selbstgerechtigkeit durch. Er geht sogar so weit, sich selbst als Opfer zu empfinden – was hat sie mir angetan, was habe ich leiden müssen, wie hat sie mich benutzt und mir Unrecht getan – wodurch die ganze Liebesgeschichte auf die Ebene bürgerlich-christlicher Moral geschoben wird. Insgeheim weiß er ja, welch großes Geschenk er durch ihre Liebe und Zärtlichkeit erhalten hat.
Das ist der eine Punkt. Der wirklich schwerwiegende Punkt ist die Prozessführung selbst. Sie macht das ganze Ausmaß der Vergiftung durch zionistische Hasspropaganda deutlich, der auch Schlink von seinem Zuhause her (drei Generationen Professoren der Jura und Theologie) voll erlegen ist. Erstens: Wer ist in dem verhandelten Fall – die Kirche, in dem die Häftlinge von dem weiblichen Wachpersonal untergebracht wurden, wird bombardiert, auch der Pfarrhof mit dem Personal, und fast alle Häftlinge verbrennen, weil sie vom Personal - bei dem es auch Verwundete gegeben hatte, nicht herausgelassen werden – wer also ist denn da der eigentliche Mörder? Die Idee kommt dem Herrn Juristen gar nicht. Das sind doch wohl die Briten oder Amerikaner, die systematisch die Flüchtlingszüge aus Kindern, Frauen, Alten und Gebrechlichen und eben auch Kirchen und Krankenhäuser bombardierten. Diese guten Christen, die genau wussten, dass es sich hier um KZ-Häftlinge handelte und dass in Kirchen häufig Menschen untergebracht wurden. Kein Wort also darüber. Die Bomben fielen halt vom Himmel. Hat der liebe Gott sie geschickt? Das vielleicht nicht, aber er hat sie ja fallen lassen, sogar auf sein eigenes Haus. So wird es doch gepredigt oder nicht? Stimmt es etwa nicht gerade in diesem Fall?
Der zweite Punkt ist, dass man also mit viel Mühe und Aufwand die Wächterinnen ausfindig gemacht hat. Man einigte sich also auf den kleinsten gemeinsamen Nenner. Das fällt sogar unserem angehenden Juristen auf, dass diese Frauen auf der Hierarchie ganz untern standen. Sie hatten nicht einmal Waffen. All diese über ihnen stehenden Schichten, die Kommandanten, Offiziere, Generäle, Intellektuellen, Physiker, Chemiker, Reichsschrifttumsleiter bis hinauf zu dem Erzbischof von Freiburg, der eine sehr niedrige Nummer in der SS trug und direkte Verantwortung für die Ausradierung von Freiburg und das lebendige Verbrennen zig-tausender Menschen mit trug – sie durften fast durchweg ihr Leben friedlich in ihren Betten beschließen nach dem Verprassen ihrer satten Pensionen. Aber hier hat man also keine Kosten und Mühen gespart. Das gesamte Gericht reiste sogar nach Israel auf Touristentour und zur Gehirnwäsche, was unserem Juristen auch leicht aufstieß. Und am Ende hat man aus dieser Rotte von Frauen – die logen und alles Hanna in die Schuhe schoben, die sich nicht wehren konnte, ohne ihr Geheimnis zu verraten - die Unschuldigste zur härtesten Strafe verurteilt.
Man denke doch: ein blutjunges Ding, das aus der tiefsten Provinz kam, Analphabetin war, ohne jede Bildung also bei Siemens in Berlin arbeitete, Vorarbeiterin werden sollte, dann aber aus purer Desperation das zufällige Angebot der SS annahm, um ihre Schmach nicht offenbaren zu müssen. Und diese Frau trägt ihr Schicksal wortlos und mit Würde. Und was hätte sie alles der Gesellschaft vorzuwerfen gehabt!
Welch ein Schicksal! Kann das erfunden sein? Ich glaube es nicht. Aber wie dem auch sei. Hier geht es darum, wie der Autor sich dazu verhält. Und da versagt er sowohl als Jurist als auch als Mensch.
Als Jurist deswegen, weil er all die Schwächen der Beweisführung im Prozess hätte klar aufdecken und benennen müssen. Etwa auch, wieso das Gericht alles Mögliche über diese Hanna Schmitz wusste, aber ausgerechnet nichts über ihren gesellschaftlichen Hintergrund (aber das interessiert ja ein Gericht grundsätzlich herzlich wenig). Die gefälschten Beweise, worauf Hanna zaghaft hinzuweisen versucht. Von den Fälschungen und Lügen der zionistischen Propaganda ganz zu schweigen. Die bleiben auch im Buch in Auflage über Auflage einfach stehen. Sie sind ja zweckdienlich und bringen einem am Ende gar das Bundesverdienstkreuz ein.
Aber das Ganze ist sehr geschickt kaschiert. Denn der Autor macht ja immer wieder Schritte, um seine Schuld einzugestehen. Schon im ersten Teil gibt er des öfteren zu, dass er Hanna verraten habe. Auch gibt er zu, dass er Hanna während ihrer 18-jährigen Gefängnishaft zwar einen Kassettenrekorder und Tonaufnahmen vorgelesener Romane schickte, er ihr aber damit nur eine kleine Nische in seinem Leben einräumte. Dass er ihr zwar zu ihrer Freilassung Wohnung und Job gesucht hat, sie auch widerwillig einmal besuchte, sich damit aber nur das Recht auf sein Wohlbefinden 'verdiente'. Aber nie hat er ihr für ihre Briefe gedankt – den mühsamen Prozess ihres Schreibenlernens beschreibt er eingehend – oder zu ihrem Erfolg gratuliert, was sie sehnlichst erwartete. Als sie sich dann in der Nacht vor ihrer Freilassung erhängt, ohne ihm einen Brief zu hinterlassen, fühlt er sich aber wieder einmal bestraft.
Aber bei jedem Schritt – des Eingeständnisses von Schuld und Verrat - macht er immer gleich wieder zwei Schritte zurück. So richtet er es immer wieder und fast unmerklich so ein, dass ihm die Sympathien in den Schoß fallen.
Das ist zwar alles verständlich und sehr menschlich, macht mir aber weder die Person des Romans noch die wirkliche Person des Verfassers besonders sympathisch, zumal er sich in den 68-ern nicht engagierte, weil er ja seinem Vater nichts vorzuwerfen hatte. Er hatte ja nicht weiterhin Professor sein dürfen, sondern nur Pastor. Du meine Güte. Er war 'Opfer'! Was hat er getan gegen das Unrecht? Hat er demonstriert, hat er den Mund aufgemacht? Er hat schön still gesessen und geschwiegen wie Millionen andere auch. Wahrlich kein Grund, sich auf das hohe Ross zu setzen.

Noch eine abschließende Bemerkung. Dieses Buch ist auch ein Beispiel dafür, wie man nach dem Krieg zum Bestseller-Autoren wurde: Entweder machte man auf Anti-Kommunismus – besonders empfehlenswert war dies für DDR-Flüchtlinge – oder man schrieb irgendwie, irgendwas über den Holocaust. In beiden Fällen brauchte es mit der Wahrheit nicht so genau genommen zu werden. Jedes Kraut gedieh, denn der Boden und das Klima in unserer Besatzungszone – die es ja immer noch ist – waren ideal. Aber psssssssst, darüber spricht man ja nicht.


Klavreström, den 1. Juni 2011

Einar Schlereth

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen