Samstag, 7. November 2020

JAN MYRDAL ist tot

Natürlich hätte ich auch einen Nachruf schreiben können, da ich Jan seit mindestens 50 Jahren kannte, 6 seiner Bücher übersetzt habe plus zahlreiche seiner Artikel. Allein auf diesem Blog gibt es 14 Artikel von ihm. Aber da hätte ich auch über Differenzen schreiben müssen, die meist von dritter Seite verursacht wurden, aber das wollte ich nicht, da ich Persönliches um der Sache willen immer zurückstellte und weiterhin Jans Arbeiten übersetzte, meistens kostenlos, da es fast unmöglich war, Jan bei größeren deutschen Verlagen unterzubringen. Denn in politischen Fragen stimmten wir so gut wie immer überein. Und das gilt auch für diese Übersetzung aus dem Schwedischen, die Jan gerecht wird. Alles, was ich in deutschen Blättern las, war mit reichlich Lügen gespickt, die ich immer schon scharf zurückgewiesen hatte. Und nun hat Cecilia Cervin das Wort, die lange Zeit Vorsitzende der Jan Myrdal-Gesellschaft war.


JAN MYRDAL IST TOT

Cecilia Cervin

Oktober 2020

Foto: Olle Asp

So brutal soll es gesagt werden. Verschönende Umschreibungen wie ‘Er ging fort’, ‘Er hat uns verlassen’, ‘Von hinnen geschieden’ etc. waren ihm verhasst. Und über die Macht des Wortes hat er geschrieben.

Wenige Menschen dürften so bewusst ihrer eigenen Sterblichkeit gewesen sein wie Jan Myrdal. Diese Einsicht lähmte ihn nicht, sondern verstärkte seinen enormen Arbeitseifer. Seit er im Ernst in früher Jugend zu schreiben begann, war er sich seiner Aufgabe bewusst: Er würde schreiben. Er war nicht auf literarischen Ruhm aus. Er wollte um politischer Wirkung willen schreiben, für eine bessere Gesellschaft, eine bessere Welt. Und er wusste, dass seine Zeit kurz war – nur ein schnell verschwindendes Menschenleben. Wie sollte das ausreichen für alles, was er sagen musste?

Das Bewusstsein von der Kürze der Zeit war ihm immer gegenwärtig und spornte ihn an, zu lesen, zu sprechen und zu schreiben. Dadurch hinterließ er ein ausnehmend umfassendes Werk, eine der großen literarischen Verfasserschaft Schwedens, groß nicht nur dem Umfang nach, sondern vor allem der Qualität wegen.

Sein Werk umfasst die meisten Formen und Bereiche, mit Ausnahme möglicherweise der Lyrik. Er hat selbst neue Gattungen geschaffen und vorhandene erneuert.

Verfasser wollte er sich nicht nennen, sondern zog die Bezeichnung Schriftsteller vor in Anschluss an die große gesellschaftskritische Tradition. Die nannte er gerne die refraktäre, die radikal widerspenstige, unbeeinflussbare. Als Schriftsteller mit der übergreiifenden politischen Botschaft konnte frei seine Ausdrucksmittel wählen: Romane, Autobiografie, Radiospiele, Reiseschilderungen. Seine ‘Schriftstellungen’ veröffentlichte er u. a. in Folket i Bild, in den großen Tageszeitungen oder auch, wo es gerade passend war; sie wurden in ca. 20 Bänden zusammengefasst, eine selbstverständliche Lektüre für den, der seinen rein politischen Stellungsnahmen folgen möchte.

Das Politische, selten das Parteipolitische, war sein eigentliches Gebiet, immer mit seinem enormen Können und historischem Bewusstsein als Voraussetzung und Gabe für den Leser. Seine Bücher über Reisen und langen Besuche in anderen Kulturen – Afghanistan, China, Indien, Kambodscha, Mexikoc – sind bei weitem keine traditionellen Reiseschilderungen. Sie handeln nicht von subjektiven, privaten Erlebnissen, sondern von der politischen und ökonomischen Geschichte dieser Länder, gespiegelt in der Jetztzeit des Verfassers. Mit beißender Kritik zeigt er, wie die Machthaber überall, in allen Zeiten, die Schwachen und Machtlosen ausgenutzt haben. Seine Art, die großen Monumente zu deuten, gibt selbst dem politisch Unkundigen neue wichtige Einsichten. Und er hat auch, indem er zeigte, wie die Unterdrückten sich erhoben und immer weiter kämpfen, Möglichkeiten für eine bessere Welt aufgezeigt.

Viele wurden von der langen Reihe Bücher, die er selbst die “Ichbücher” nannte, gefangen genommen. Selbstbiografien sind sie genannt worden und liest man sie aus diesem Winkel, geben sie Anlass für viele Debatten über die Bedingungen des Genres. Aber seine Bücher lassen sich nicht in solch einengende Etikette pressen! Sie können ein Bewusstsein beschreiben, ein Menschenleben, aber auch viel mehr an aufopfernden Stellungsnahmen.

Den Vorsätzen seiner Jugend über Arbeit und Politik verblieb er treu. Bis zuletzt, als die rein physischen Kräfte nachließen, setzte er seine Arbeit fort. Das abschließende große Werk mit Rückblick auf sein Leben, Liebe und Werk kam spät – erst 2019 heraus und er konnte aktiv an seiner Lancierung mitwirken. Der Titel “Ein zweiter Aufschub” reflektiert seine Auffassung von der menschlichen Zeit als kurzen Aufenthalt zwischen Geburt und Tod. Als seine Zeit nochmal, nach mehreren früheren Vorboten, am Ende zu sein schien, bekam er noch einen Aufschub – um ihn mit Arbeit zu füllen.

Das Werk, die Botschaft war für Jan Myrdal wichtiger als die Person. Sicher schrieb er über sich selbst und sicher kann der Leser seinem Leben unter privaten, literarischen und persönlichen Aspekten folgen. Er konnte viel Persönliches, sogar Privates schreiben. Aber das Wichtigste für ihn waren immer die politischen Lehren, die er dem Leser vermitteln wollte.

Neue Einsichten, politisches Bewusstsein hat er auch denen gegeben, die nicht in der Lage waren, alles zu lesen, was er geschrieben hat. Mit seiner Person und seinem Vorbild hat er, seit er erstmals wirklich im Zusammenhang mit der Vietnam-Bewegung in den Massenmedien sichtbar wurde, ein ganzes Gesellschaftsklima beeinflusst. Als politische Person hat er unendlich viel bedeutet, ständig in Frage gestellt wegen sowohl seiner wirklichen Aussagen und solcher, die ihm oder seinen Gegnern nur untergeschoben wurden. Oft hat die Geschichte ihm Recht gegeben. Seine einst kontroversiellen Standpunkte sind mitunter in der öffentlichen Debatte Selbstverständlichkeiten geworden. Anderes musste, wie er selbst zu sagen pflegte, in seinem Zusammenhang, im Licht damals bekannter Fakten gesehen werden.

Große Menschen passen schlecht in kleine Zusammenhänge. Als Kind spielte Jan Myrdal eigener Aussagen zufolge nach seinen eigenen Regeln. Seine Kritiker haben gesagt, dass das Gleiche für ihn auch in Gesellschaftsdebatten gilt. Er folgte nicht den Regeln, sein Spiel war sein eigenes.

Soweit konnte er zustimmen. So war seine Rolle. Anpassung an Normen, die er nicht gutheißen konnte, waren ihm fremd. Er war und blieb ein Refraktär, widerspenstig, nicht anpassbar. Er war derjenige, der immer die allgemeine Meinung in Frage stellte, besonders, wenn alle “Rechtschaffenen” in dieselbe Richtung gingen.

So hat er persönlich das öffentliche Gespräch beeinflusst und dadurch weit mehr als nur seine treuen Leser erreicht.

Die Person Jan Myrdal ist tot. Ihm Frieden seinem Andenken zu wünschen, wäre ein Ausdruck bürgerlicher Sentimentalitär, die er verabscheute.

Stattdessen also:


Lest sein Werk, besucht und benutzt seine Bibliothek und vor allem: setzt den Kampf in seinem Geist fort!


Quelle – källa –source


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