Nun ist der letzte Besuch dieses Sommers nachhause gefahren, und ich kann ich mich wieder
richtig dem Blog widmen. Und hier kommt nun gleich ein echter Leckerbissen: mit Gilad Atzmons
Erlaubnis durfte ich das erste Kapitel des Buches (das ich zusammen mit Andreas Schmidt auch
übersetzte) auflegen. Ich denke, dass es speziell für uns Deutsche von außerordentlichem Interesse
sein dürfte. Es gbt erstaunliche Aufschlüsse nicht nur über das Judentum, sondern auch über die
spezielle Beziehung zwischen Zionisten und Palästinensern. Man lasse sich nicht von gewissen
Medien und ihrer Hetze gegen Gilad Atzmon beeindrucken, sondern schaue sich in einem Laden
lieber all die Stimmen an, die das Buch in höchsten Tönen loben.
Mein Großvater war ein charismatischer, poetischer, zionistischer Terroristenveteran. Als ehemaliger prominenter Kommandant in der rechtsgerichteten Terrororganisation Irgun hatte er, wie ich zugeben muss, in meiner frühesten Jugend einen gewaltigen Einfluss auf mich. Er zeigte einen unnachgiebigen Hass gegen alles Nicht-Jüdische. Er hasste Deutsche und verbot meinem Vater deshalb, einen deutschen Wagen zu kaufen. Er verachtete auch die Briten, da sie sein „verheißenes Land“ kolonisierten. Ich vermute aber, dass er die Briten jedoch nicht so sehr verabscheute wie die Deutschen, da er meinem Vater erlaubte, einen alten Vauxhall Viva zu fahren. Er war auch auf die Palästinenser ziemlich sauer, da sie auf dem Land wohnten, das – da war er sich sicher – doch ihm und sei- nem Volk gehörte. Oft fragte er sich: „Diese Araber haben so viele Länder, warum müssen sie auf genau in demselben Land leben, das uns von unserem Gott 'gegeben' wurde?“ Mehr als alles andere aber hasste mein Großvater jüdische Linke. Dieser besondere Abscheu reifte allerdings nicht zu einem Interessenkonflikt zwischen
ihm und meinem Vater heran, da jüdische Linke niemals irgendein anerkanntes Fahrzeugmodell hervorbrachten, Als Anhänger des rechtsrevisionistischen Zionisten Zeev Jabo- tinsky (1) war es meinem Großvater offensichtlich klar, dass eine linke Philosophie im Verein mit jedweder Form eines jüdischen Wertesystems ein Widerspruch in sich ist. Als Rechter und Terro- ristenveteran sowie als stolzer jüdischer „Falke“ wusste er sehr wohl, dass Tribalismus niemals in Frieden mit Humanismus und Universalismus leben kann. Seinem Mentor Jabotinsky folgend, glaubte er an die Philosophie der „Eisernen Mauer“. Wie Jabotinsky respektierte auch mein Großvater arabische Menschen und hatte eine hohe Meinung von ihrer Kultur und Religion, glaubte aber, dass man Arabern im Allgemeinen und Palästinensern im Besonderen hart und kämpferisch
gegenübertreten sollte. Mein Großvater pflegte oft oft die Hymne der politischen Bewegung Jabotinsky‘s zu zitieren: Aus der Grube voller Verwesung und Staub Wird durch Blut und Schweiß hindurch Uns eine Rasse entstehen, Stolz, großherzig und leidenschaftlich kämpferisch. Mein Großvater glaubte an das Wiedererwachen des Stolzes der „Jüdischen Rasse“ - und so tat ich es ihm in meiner frühen Jugend nach. Genau wie meine Altersgenossen nahm ich die Palä- stinenser um mich herum nicht wahr. Zweifellos gab es sie – sie reparierten den Wagen meines Vaters für den halben Preis, bau- ten unsere Häuser, räumten das Durcheinander hinter uns auf, schleppten Kisten im Lebensmittelgeschäft des Ortes, aber sie verschwanden stets knapp vor Sonnenuntergang und tauchten erst vor der Morgendämmerung wieder auf. Nie knüpften wir Kontakt mit ihnen. Wir verstanden nicht richtig, wer sie waren und für was sie standen. Das Gefühl eigener Überlegenheit hatte unsere Seelen tief durchdrungen. Wir betrachteten die Welt durch ein rassistisches, chauvinistisches Fernglas. Und wir fühlten auch keine Scham darüber. Mit siebzehn war ich reif für den Militärdienst in den IDF (Israeli Defense Forces = israelische Streitkräfte). Als gut gebauter Teenager voll 'militantem Enthusiasmus' sollte ich eigentlich zu einer Rettungs-Spezialeinheit der Luftwaffe. Doch dann geschah das Unerwartete: In einem Jazzprogramm zu sehr später Nacht hörte ich Bird "Charlie Parker with Strings". Das warf mich um. Die Musik war organischer, poetischer, senti- mentaler und wilder als alles, was ich je zuvor gehört hatte. Mein Vater hörte gewöhnlich Bennie Goodman und Artie Shaw, die beide unterhaltsam waren – sie konnten gewiss Klarinette spielen – aber Bird war eine ganz andere Geschichte. Hier gab es eine intensive, libidinöse Extravaganz aus Geist und Energie. Am nächsten Morgen schwänzte ich die Schule und eilte zu Piccadilly Records, der Nummer Eins unter Jerusalems Musikgeschäften. Ich fand die Jazzabteilung und kaufte jede Bebop-Aufnahme, die sie gerade in den Regalen hatten, was wahrscheinlich auf zwei Alben hinauslief. Im Bus nach Hause stellte ich fest, dass Parker eigentlich ein Schwarzer war. Das war zwar keine völlige Überraschung für mich, aber eine Art Offenbarung. In meiner Welt brachte man nur Juden mit allem Guten in Verbindung. Bird war der Anfang einer Reise. Meine Freunde und ich waren damals davon überzeugt, dass Juden tatsächlich das Auserwählte Volk wären. Meine Gene- ration wuchs mit dem magischen Sieg im Sechs-Tage-Krieg auf. Wir waren uns unser selbst völlig sicher. Wir waren säkular und brachten jeden Erfolg mit unseren omnipotenten Qualitäten in Verbindung. Wir glaubten nicht an einen göttlichen Eingriff, wir glaubten an uns selbst. Wir glaubten, dass der Ursprung unserer Macht aus unseren wiedererstandenen hebräischen Seelen und Körpern entsprang. Die Palästinenser ihrerseits dienten uns gehorsam und damals sah es nicht so aus, als ob sich diese Situation je ändern würde. Sie zeigten keine wirklichen Anzeichen kol- lektiven Widerstandes. Die sporadischen sogenannten „Terror“- Anschläge machten uns selbstgerecht und erfüll- ten uns mit der Gier nach Rache. Aber irgendwie, inmitten dieser Omnipotenzorgie und zu meiner großen Überraschung, merkte ich, dass die Leute, die mich am meisten begeisterten, tatsächlich ein paar schwarze Amerikaner waren – Menschen, die nun so gar nichts mit dem zionistischen Wunder oder mit meinem eigenen chauvinistischen, exklusiven Stamm zu tun hatten. Zwei Tage später kaufte ich mein erstes Saxophon. Anfangs ist dies ein sehr leichtes Instrument – man frage Bill Clinton – aber lernen, wie Bird oder Cannonball Adderley zu spielen, schien eine unmögliche Aufgabe. Ich begann, Tag und Nacht zu üben, und je mehr ich dies tat, desto überwältigter war ich von der gewaltigen Leistung jener großen Familie schwarzer amerika- nischer Musiker, die ich nun näher kennen zu lernen begann. Binnen eines Monats hörte ich Sonny Rollins, Joe Henderson, Hank Mobley, Thelonious Monk, Oscar Peterson and Duke Ellington, und je mehr ich lauschte, desto klarer wurde mir, dass meine judäozentrische Erziehung – irgendwie völlig irreführend war. Nach einem Monat mit dem Saxophon im Mund war mein soldatischer Enthusiasmus vollständig verschwunden. Anstatt Hubschrauber hinter feindlichen Linien zu fliegen, phantasierte ich von einem Leben in New York, London oder Paris. Alles, was ich wollte, war eine Chance, die Jazzgrößen live zu hören, denn es waren die späten 1970-er und viele von ihnen lebten noch. Heutzutage schreiben sich Jugendliche, die Jazz spielen möchten, in einer Musikhochschule ein. Als ich zum Jazz kam, war es noch ganz anders. Wer klassische Musik spielen wollte, trat in ein Konservatorium ein, aber wer um der Musik selbst willen spielen wollte, blieb zuhause und spielte eben rund um die Uhr locker vor sich hin. Damals gab es keine Jazzausbildung in Israel und in meiner Hei- matstadt Jerusalem gab es nur einen einzigen, kleinen Jazz-Club, der in einem alten, umgebauten, pittoresken türkischen Bad untergebracht war. Jeden Freitagnachmittag traf man sich dort zur Jam- Session und während meiner ersten beiden Jazz-Jahre waren diese Jams die Essenz meines Lebens. Alles andere gab ich auf. Ich übte nur noch – Tag und Nacht – selbst im Schlaf bereitete mich auf den nächsten „Freitag-Jam“ vor. Aufmerksam lauschte ich der Musik und transkribierte einige großartige Solos. Ich übte im Schlaf, indem ich mir die Akkordwechsel ausmalte und über sie hinwegflog. Ich beschloss, mein Leben dem Jazz zu widmen, und nahm die Tatsache hin, dass meine Chancen, als weißer Israeli an die Spitze zu gelangen, eher gering waren. Ich nahm noch nicht wahr, dass meine wachsende Hingabe an den Jazz meine jüdischen nationalistischen Tendenzen überwäl- tigt hatte; wahrscheinlich ließ ich die Auserwähltheit in dieser Zeit hinter mir, um ein normales menschliches Wesen zu werden. Jahre später kam ich tatsächlich zu der Ein- sicht, dass Jazz mein Fluchtweg war. Innerhalb weniger Monate wurde die Verbindung mit der mich umgebenden Realität schwächer. Ich sah mich selbst nun als Teil einer viel weiteren und größeren Familie, einer Familie von Musikliebhabern, bewundernswerten Men- schen, die mit Schönheit und Geist anstatt mit Land, Mammon und Besatzung beschäftigt waren.
Aber, ich musste immer noch zur IDF. Obwohl spätere Gene-
rationen junger israelischer Jazzmusiker einfach der Armee
entkamen und in das Mekka des Jazz, New York, flüchteten, stand
mir, einem jungen Burschen mit zionistischen Wurzeln in Jerusa-
lem, eine solche Option nicht offen. Eine solche Möglichkeit kam
mir nicht einmal in den Sinn.
Im Juli 1981 trat ich in die israelische Armee ein, doch ab dem
ersten Tag meines Militärdienstes tat ich mein Bestes, mich dem
Ruf der Pflicht zu entziehen – nicht, weil ich Pazifist war, und
auch nicht, weil ich mich groß um die Palästinenser sorgte. Ich
zog es nur vor, mit meinem Saxophon allein zu sein.
Im Juni 1982, bei Ausbruch des ersten israelisch-libanesischen
Krieges, war ich bereits seit einem Jahr Soldat. Man musste kein
Genie zu sein, um die Wahrheit zu erkennen. Ich wusste,
dass unsere Führer logen, und tatsächlich begriff jeder israelische
Soldat, dass dies ein israelischer Aggressionskrieg war. Persönlich
fühlte ich keinerlei Verbundenheit mehr mit der zionistischen
Sache, Israel oder dem jüdischen Volk. Auf dem jüdischen Altar
zu sterben, übte keinen Reiz mehr auf mich aus. Und doch war
es nicht Politik oder Ethik, die mich antrieb, sondern vielmehr
meine Sehnsucht, mit meinem neuen Selmer Paris Mark IV-Saxo-
phon alleine zu sein. Tonleitern mit Lichtgeschwindigkeit rauf
und runter zu spielen, schien mir weit wichtiger, als Araber im
Namen jüdischen Leidens zu töten. Anstatt also qualifizierter
Killer zu werden, unternahm ich jeden nur möglichen Versuch,
mich einer der Militärkapellen anzuschließen. Es dauerte zwar
ein paar Monate, doch schließlich landete ich sicher im Orchester
der israelischen Luftwaffe (IAFO).
Die Zusammensetzung der IAFO war einmalig. Man wurde
nur angenommen, wenn man ein exzellenter Musiker oder ein
viel versprechendes Talent war - oder der Sohn eines toten Pilo-
ten. Die Tatsache, dass ich akzeptiert wurde, obwohl mein Vater
noch unter den Lebenden weilte, beruhigte und ermutigte mich:
Zum ersten Mal zog ich die Mög-
lichkeit in Betracht, dass ich musikalisches Talent besitzen könnte.
Zu meiner großen Überraschung nahm keines der Orchester-
mitglieder die Armee ernst. Wir waren alle nur mit einer Sache
beschäftigt: unserer persönlichen musikalischen Entwicklung.
Wir hassten die Armee und es dauerte nicht lange, bis ich den
Staat selbst zu hassen begann, der eine Luftwaffe erforderte, die
eine Band für sich beanspruchte, was mich davon abhielt, sieben
Tage in der Woche 24 Stunden zu üben. Wenn wir gerufen wurden,
um für eine Militärveranstaltung aufzuspielen, versuchten
wir, so schlecht zu spielen, wie wir nur konnten, um dafür zu
sorgen, dass wir nie wieder eingeladen würden. Manchmal tra-
fen wir uns sogar nachmittags, um schlechtes Spielen zu üben.
Es wurde uns klar, dass unsere persönliche Freiheit in dem Maße
wachsen würde, je schlechter unser kollektiver Auftritt war.
Im Militärorchester lernte ich zum ersten Mal, subversiv zu sein,
und wie man das System sabotiert, um einem persönlichen Ideal
zu entsprechen.
Im Sommer 1984, knapp drei Wochen, bevor ich meine Militär-
uniform auszog, wurden wir auf eine Konzerttour in den Libanon
geschickt.
Damals war dies ein sehr gefährlicher Platz. Die israelische Armee
war tief in Bunker und Gräben eingegraben und vermied jegliche
Konfrontation mit der örtlichen Bevölkerung. Am zweiten Tag
brachen wir nach Ansar auf, einem israelischen Inter-
nierungslager in Südlibanon. Diese Erfahrung veränderte mein
Leben vollständig.
An einem glühendheißen Tag Anfang Juli kamen wir am Ende einer staubigen,
ungeteerten Straße in der Hölle auf Erden an. Das rie-
sige Gefängnislager war mit Stacheldraht umzäunt. Als wir zum
Lagerhauptquartier fuhren, hatten wir einen Blick auf Tausende
von Insassen im Freien, die in der sengenden Sonne schmorten.
So schwer es auch zu glauben sein mag, Militärbands werden
immer als VIPs behandelt und nachdem wir in den Offizierunterkünften
gelandet waren, wurden wir auf einem Rundgang durch
das Lager geführt. Wir gingen den endlosen Stacheldraht und die
Wachttürme entlang. Ich traute meinen Augen nicht.
„Wer sind diese Menschen?“ fragte ich den Offizier.
„Palästinenser“, sagte er. „Auf der Linken sind PLO (Palä-
stinensische Befreiungsorganisation) und auf der Rechten sind
Ahmed Dschibril‘s Jungs (Volksfront für die Befreiung Palästinas
– Generalkommando) – sie sind weit gefährlicher, deshalb halten
wir sie isoliert.“
Ich betrachtete die Häftlinge. Sie sahen ganz anders als die Palästi-
nenser in Jerusalem aus. Die Männer, die ich in Ansar sah, waren
zornig. Sie waren nicht besiegt, sie waren Freiheitskämpfer und
zahlreich. Als wir unseren Weg längs des Stacheldrahts fortsetz-
ten, gelangte ich zu einer
unerträglichen Wahrheit: Ich ging auf der anderen Seite – in
israelischer Militäruniform. Der Ort war ein Konzentrationslager.
Die Insassen waren die „Juden“ und ich war ein „Nazi“.
Ich brauchte Jahre, um mir einzugestehen, dass sogar die duale
Gegenüberstellung Jude/Nazi selbst ein Ergebnis meiner judäozentri-
schen Indoktrination war.
Während ich über die Wirkung meiner Uniform nachsann und
versuchte, mit dem heftigen Schamgefühl fertig zu werden, das
in mir wuchs, erreichten wir einen großen, ebenen Platz
in der Lagermitte. Der uns führende Offizier bot uns noch
mehr Plattitüden über den aktuellen Krieg zur Verteidigung
der jüdischen Zuflucht. Während er uns mit diesen irrelevanten
Hasbara (Propaganda)-Lügen langweilte, bemerkte ich,
dass wir von zwei Dutzend Betonblöcken von je ca. 1 m Breite X 1 m Tiefe
mal 1,3 m Höhe mit kleinen Metalltüren als Eingängen
umgeben waren. Der Gedanke, dass meine Armee über Nacht
Wachhunde in diese Kästen sperrte, entsetzte mich. Ich aktivierte
meine israelische Chutzpah und sprach den Offizier auf diese
schrecklichen Hundehütten aus Beton an.
Seine Antwort kam schnell: „Dass sind unsere Isolierhaft-Blöcke; nach zwei
Tagen in einem davon, ist man ein hingebungsvoller Zionist!“.
Da reichte es mir. Mir wurde klar, dass mein Verhältnis zum
israelischen Staat und dem Zionismus zerstört war. Noch wusste
ich sehr wenig über Palästina, über die Nakba oder selbst
über Judentum und Jüdischkeit. Damals sah ich nur, dass Israel
schlechte Nachrichten für mich bedeutete, und ich wollte nichts
weiter damit zu tun haben. Zwei Wochen später gab ich meine
Uniform wieder ab, schnappte mir mein Alt-Saxophon, nahm
den Bus zum Ben Gurion-Flughafen und ging für einige Monate
nach Europa, um dort Straßenmusik zu machen. Im Alter von
einundzwanzig Jahren war ich zum ersten Mal frei. Allerdings
war mir der Dezember schließlich zu kalt und ich kehrte nach
Hause zurück – jedoch mit der klaren Absicht, mich so schnell wie
möglich wieder auf den Weg nach Europa zu machen. Irgendwie sehnte ich mich
danach, ein Goi (Nichtjude) zu werden oder doch zumindest von
Gojim umgeben zu sein.
***
Es sollte weitere zehn Jahre dauern, bevor ich Israel endgültig ver-
lassen konnte. Während dieser Zeit informierte ich mich jedoch
über den Israel-Palästina-Konflikt und begriff,
dass ich in Wirklichkeit auf jemandes anderen Land
lebte. Ich nahm die verheerende Tatsache in mir auf, dass
die Palästinenser 1948 ihre Häuser keineswegs freiwillig verlassen hat-
ten, wie uns in der Schule erzählt wurde, sondern dass sie Opfer
einer brutalen ethnischen Säuberung geworden waren, verübt
von meinem Großvater und seinesgleichen. Es wurde mir klar,
dass die ethnische Säuberung in Israel niemals aufgehört, sondern
nur andere Formen angenommen hatte. Ich erkannte,
dass das israelische Rechtssystem nicht unparteiisch,
sondern rassisch orientiert war (so heißt zum Beispiel das „Rück-
kehrgesetz“ Juden aus jedem Land nach 2.000 Jahren „zuhause“
willkommen, hindert jedoch Palästinenser daran, nach zwei-
jährigem Auslandsaufenthalt in ihre Dörfer zurückzukehren).
Währenddessen hatte ich mich auch als Musiker weiterentwickelt und
mir als Session-Musiker und Musikproduzent größeres Ansehen
verschafft. Ich beschäftigte mich zwar nicht wirklich mit irgendwelchen
politischen Aktivitäten - aber ich verfolgte den israelischen linken
Diskurs intensiv und verstand bald, dass es sich
eher um einen gesellschaftlichen Klub als um eine von
ethischem Bewusstsein motivierte ideologische Kraft handelte.
Zur Zeit der Oslo-Verträge im Jahre 1993 konnte ich es
schließlich nicht mehr ertragen. Ich sah, dass israelisches „Friedenschließen“ nichts
anderes war als Tatsachenverdrehung. Zweck war nicht die
Aussöhnung mit den Palästinensern oder die Auseinandersetzung
mit der zionistischen Ursünde, sondern die Existenz des
jüdischen Staates auf Kosten der Palästinenser weiterhin. Für die
meisten Israelis bedeutet „Schalom“ nicht „Frieden“, sondern „Sicher-
heit“ - und zwar allein für Juden. Dass Palästinenser ihr „Rück-
kehrrecht“ feierten, war keine Option. Ich entschied mich, meine
Heimat und meine Karriere aufzugeben. Ich ließ alles und jeden hinter
mir, einschließlich meiner Frau Tali, die sich mir später anschloss.
Alles, was ich mit mir nahm, war mein Tenorsaxophon – mein wahrer,
ewiger Freund.
Ich zog nach London und nahm an der Universität Essex ein wei-
terführendes Studium der Philosophie auf. Binnen einer Woche
gelang es mir, ein Engagement im Black
Lion zu bekommen, einem legendären irischen Pub auf der Kil-
burn High Road. Damals wusste ich noch nicht zu schätzen, wie
viel Glück ich hatte – ich wusste nicht, wie schwierig es war,
in London einen Auftritt zu ergattern. Dies war tatsächlich der
Beginn meiner internationalen Karriere als Jazzmusiker. Innerhalb
eines Jahres war ich im Vereinigten Königreich sehr populär
geworden, spielte Bebop und Post-Bebop. Binnen drei Jahren
tourte ich mit meiner Band in ganz Europa.
Und dann packte mich das Heimweh.
Zu meiner großen Überraschung war es nicht Israel, das ich vermis-
ste, nicht Tel-Aviv, nicht Haifa, nicht Jerusalem. Es war Palästina.
Es waren nicht die groben und lauten israelischen Taxifahrer am
Ben-Gurion-Flughafen oder die schmuddeligen Einkaufszentren
in Ramat Gan, sondern der kleine Platz in der Yefet-Straße in
Jaffa, wo das beste Hummus serviert wird, das man sich für Geld
nur kaufen kann, und die palästinensischen Dörfer, die sich über
die Hügel inmitten von Olivenbäumen und Sabra-Kakteen
erstreckten. Wann immer mir in London nach einem
Heimatbesuch war, landete ich schließlich in der Edgware Road
und verbrachte den Abend in einem libanesischen Restaurant.
Nachdem ich einmal begonnen hatte, meine Gedanken zu Israel
in der Öffentlichkeit deutlich zu äußern, wurde mir bald klar,
dass ich meiner Heimat in der Edgware Road wahrscheinlich so
nahe war, wie ich ihr jemals wieder kommen könnte.
***
Als ich in Israel lebte, war ich von arabischer
Musik überhaupt nicht angetan. Ich vermute, dass koloniale
Siedler selten an der einheimischen Kultur interessiert
sind. Ich liebte Volksmusik, hatte mich in Europa und in den USA
bereits als Klezmer-Spieler etabliert und begann im Laufe der
Jahre, auch türkische und griechische Musik zu spielen. Doch
die arabische Musik und insbesondere palästinensi-
sche Musik hatte ich dabei völlig übergangen. Als ich nun in London in jenen
libanesischen Restaurants rumhing, wurde mir klar,
dass ich die Musik meiner Nachbarn niemals wirklich erforscht
hatte. Noch beunruhigender: Ich hatte sie ignoriert und sogar
abgelehnt. Obgleich ich überall von ihr umgeben war, hatte ich ihr
niemals wirklich zugehört. Dabei war sie in jedem Winkel meines
Lebens erklungen: der Gebetsruf von den Moscheen, die Stimmen
von Umm Kulthum, Farid El-Atrash und Abdel Halim Hafez.
Man konnte sie in den Straßen, im Fernsehen, in den kleinen
Cafés der Jerusalemer Altstadt, in den Restaurants hören. Sie
hatte mich überall umgeben – doch ich hatte ihr respektlos keiner-
lei Beachtung geschenkt.
Und nun wurde ich in meinen Mittdreißigern, noch dazu fernab des Nahen Ostens,
von der einheimischen Musik meines Heimatlandes angezo-
gen. Es war nicht leicht; es war tatsächlich am Rande des völlig
Unmöglichen. So einfach es für mich war, Jazz zu absorbieren
– bei arabischer Musik war dies fast unmöglich. Ich lauschte dieser
Musik, nahm mein Saxophon oder meine Klarinette, und versuchte,
meinen Sound einzubinden, aber das Ergebnis war ein
äußerst fremder Klang. Bald wurde mir bewusst, dass
arabische Musik eine gänzlich andere Sprache ist. Ich wusste
nicht, wo ich anfangen oder wie ich mich ihr nähern sollte.
Jazz-Musik ist zu einem gewissen Grade ein westliches Produkt
mit einem starken afro-kubanischen Einfluss. Sie bildete
sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts heraus und entwickelte sich
in den Randzonen der amerikanischen Kultur. Bebop,
die Musik, mit der ich aufwuchs, besteht aus relativ kurzen
Musikfragmenten - die Musikstücke mussten zum 3-
Minuten-Aufnahme-Format der 1940-er Jahre passen.
Westliche Musik lässt sich zudem mittels Standardnotenschrift und
Akkordsymbolen leicht in visuelle Inhalte transkribieren. Jazz
ist deshalb wie die meisten westlichen Musikformen teilweise
digital. Arabische Musik ist hingegen analog – sie lässt sich
nicht transkribieren.
Bei dem bloßen Versuch verfliegt ihre Authentizität.
Als ich dann endlich die menschliche Reife hatte, mich
„der Musik“ meines Heimatlandes im wahrsten Sinne des Wortes
„zu stellen“, stand mir mein musikalisches Wissen im Wege.
Ich konnte nicht verstehen, was mich daran hinderte, arabische
Musik zu meistern, oder warum ich nicht den richtigen Sound
traf, wenn ich sie zu spielen versuchte. Ich hatte zwar genug
Zeit mit Zuhören und Üben verbracht, aber es klappte einfach nicht.
Im Laufe der Zeit begannen Musikjournalisten,
meinen neuen Sound zu schätzen und mich als einen
Jazz-“Helden“ zu betrachten, der als Experte arabischer Musik
die Kluft zwischen den Musikkulturen überwand. Ich wusste
jedoch, dass sie Unrecht hatten – so sehr ich auch versuchte,
diese sogenannte „Kluft“ zu überwinden, wusste ich doch,
dass mein Sound und meine Interpretation
wahrer arabischer Musik fremd waren.
Dann entdeckte ich einen einfachen Trick. Wenn ich bei meinen
Konzerten versuchte, diesen so flüchtigen orientalischen Sound
nachzubilden, sang ich zunächst eine Zeile, die mir jene Klänge
ins Gedächtnis zurückholte, die ich in meiner Kindheit ignoriert hatte.
Ich versuchte, mich an den widerhallenden Ruf der Muezzin zu erinnern,
der aus den umliegenden Tälern bis in unsere Stra-
ßen drang, und an die erstaunlichen, unvergesslich-ergreifenden
Klänge meiner Freunde Dhafer Youssef und Nizar al-Issa, sowie
die tiefe, nachklingende Stimme von Abel Halim Hafez. Zunächst
schloss ich nur meine Augen und lauschte mit meinem inneren
Ohr, doch ohne es zunächst zu merken, öffnete ich allmäh-
lich auch den Mund und begann, laut zu singen. Da wurde mir
bewusst, dass ich mit dem Saxophon im Mund sang und
auf diese Weise einen Klang erzielte, der den metallenen Laut-
sprechern der Moscheen sehr nahekam. So lange Zeit hatte ich
mich bemüht, mich dem arabischen Klang anzunähern, aber nun
vergaß ich einfach, was ich zu erreichen suchte, und begann, es
zu genießen.
Nach einer Weile bemerkte ich, dass die Echos von Dschenin,
Al-Quds und Ramallah auf natürliche Weise dem Schalltrichter
meines Instruments entstiegen. Ich fragte mich, was geschehen
war, warum ich plötzlich echt klang, und kam zu dem Schluss,
dass ich auf das Primat des Auges verzichtet hatte und meine
Aufmerksamkeit stattdessen dem Primat des Ohres zuwandte. Ich
suchte nicht mehr auf dem Blatt nach Inspiration, nach Visuellem
oder Beweisbarem in der musikalischen Notation oder den
Akkordsymbolen. Stattdessen lauschte ich auf meine innere Stim-
me. Das Ringen mit der arabischen Musik erinnerte mich daran,
warum ich überhaupt begonnen hatte, Musik zu spielen. Schließlich hatte
ich Bird im Radio gehört, und nicht auf MTV.
Durch die Musik und insbesondere durch meine persönliche
Auseinandersetzung mit arabischer Musik lernte ich zu hören.
Anstelle des Blicks auf die Geschichte oder der Analyse ihrer Ent-
wicklung in materiellen Ausdrücken ist es vielmehr das Hören, das
den Kern tiefen Verstehens bildet. Ethisches Verhalten kommt ins Spiel,
wenn die Augen geschlossen sind und die Echos des Bewusstseins in
der Seele eine Melodie formen können. Einfühlen bedeutet,
das Primat des Ohres anzunehmen (2).
Fußnoten:
1. Vladimir Ze'ev Jabotinsky war Begründer des zioistischen Revisionismus, Autor, Redner
und Soldat. Sein Erbe wird heute von Israels Herut-Party (schloss sich mit anderen Parteien
des rechten Flügels zur Bildung des Likud im Jahre 1973 zusammen) und der zionistischen
Judenbewegung Betar weitergeführt.
2. Für einige mag das "primat des Ohres" wie ein Echo des religiös-jüdischen Gebetes Sch'ma
Y'israel klingen: 'Höre, O Israel: Der Herr ist unser Gott, der Herr ist Einer', (5. Buch Mose, 6:4).
Obwohl das Judentum dem Akt des Hörens große Bedeutung beimisst, ist es entscheidend, klar
zu trennen zwischen meinem eigenen Aufruf zu persönlichem und kritischem Urteil und dessen
Gegenteil, der religiös-jüdischen Aufforderung zu totalem Gehorsam.
Das Buch ist ab sofort in den Buchhandlungen erhältlich, und hier ist die Verlagsanzeige:
DER WANDERNDE - WER?
Eine Studie jüdischer Identitätspolitik
Gilad Atzmon
Übersetzung: Andreas Schmidt, Einar Schlereth
Lektorat: Nicole Hille-Priebe, Dr. Gabi Weber
Jüdische Identität ist engst mit einigen der schwierigsten und
strittigsten Problemen unserer Zeit verknüpft. Ziel dieses Buches ist
es, viele dieser Kernpunkte für die Diskussion zu öffnen. Da Israel sich
öffentlich als „jüdischer Staat“ definiert, sollten wir fragen, wofür
„Judentum“, „Jüdischkeit“, „jüdische Kultur“ und „jüdische
Identität“stehen.
Gilad Atzmon untersucht die tribalen Aspekte, wie sie in den säkularen jüdischen politischen Diskurs – sowohl den zionistischen als auch den antizionistischen und sogar den der jüdischen Linken – eingelagert sind: die „Holocaust-Religion“, die Bedeutung von „Geschichte“ und „Zeit“ sowie die anti-nichtjüdischen Ideologien in ihren verschiedenen Formen. Er fragt, was Diaspora-Juden veranlasst, sich mit Israel zu identifizieren und seiner Politik anzuschließen. Der verheerende Zustand unseres Weltgeschehens erfordert dringend eine konzeptionelle Wende in unserer intellektuellen und philosophischen Einstellung zu Politik, Identitätspolitik
und Geschichte.
"Der Wandernde -WER? ist DAS Buch für jeden Interessierten, der den Unterschied zwischen Judentum, Jüdischkeit und Zionismus verstehen will. Eine philosophische Meisterleistung eines Menschenfreundes und brillanten Jazz-Musikers und Ausnahmekünstlers, eines wahren Freundes der Palästinenser und ihrer berechtigten Anliegen. Mit diesen stichhaltigen Fakten, engagiert und provokant, fasziniert Gilad Atzmon den Leser von der ersten bis zur letzten Seite. Ein wichtiges und mutiges Buch." (Evelyn Hecht-Galinski)
Gilad Atzmon untersucht die tribalen Aspekte, wie sie in den säkularen jüdischen politischen Diskurs – sowohl den zionistischen als auch den antizionistischen und sogar den der jüdischen Linken – eingelagert sind: die „Holocaust-Religion“, die Bedeutung von „Geschichte“ und „Zeit“ sowie die anti-nichtjüdischen Ideologien in ihren verschiedenen Formen. Er fragt, was Diaspora-Juden veranlasst, sich mit Israel zu identifizieren und seiner Politik anzuschließen. Der verheerende Zustand unseres Weltgeschehens erfordert dringend eine konzeptionelle Wende in unserer intellektuellen und philosophischen Einstellung zu Politik, Identitätspolitik
und Geschichte.
"Der Wandernde -WER? ist DAS Buch für jeden Interessierten, der den Unterschied zwischen Judentum, Jüdischkeit und Zionismus verstehen will. Eine philosophische Meisterleistung eines Menschenfreundes und brillanten Jazz-Musikers und Ausnahmekünstlers, eines wahren Freundes der Palästinenser und ihrer berechtigten Anliegen. Mit diesen stichhaltigen Fakten, engagiert und provokant, fasziniert Gilad Atzmon den Leser von der ersten bis zur letzten Seite. Ein wichtiges und mutiges Buch." (Evelyn Hecht-Galinski)
Euro 12.00
14 x 20,5 cm
248 Seiten
ISBN 978-3-88975-199-7
You mena the wandering FOOL.
AntwortenLöschenand you are fooled by his disturbed mind.....