Sonntag, 19. August 2012

Gilad Atzmon Mein Großvater war ein charismatischer, poetischer, zionistischer Terroristenveteran


Nun ist der letzte Besuch dieses Sommers nachhause gefahren, und ich kann ich mich wieder
richtig dem Blog widmen. Und hier kommt nun gleich ein echter Leckerbissen: mit Gilad Atzmons
Erlaubnis durfte ich das erste Kapitel des Buches (das ich zusammen mit Andreas Schmidt auch
übersetzte) auflegen. Ich denke, dass es speziell für uns Deutsche von außerordentlichem Interesse
sein dürfte. Es gbt erstaunliche Aufschlüsse nicht nur über das Judentum, sondern auch über die 
spezielle Beziehung zwischen Zionisten und Palästinensern. Man lasse sich nicht von gewissen 
Medien und ihrer Hetze gegen Gilad Atzmon beeindrucken, sondern schaue sich in einem Laden 
lieber all die Stimmen an, die das Buch in höchsten Tönen loben.
 
Mein Großvater war ein charismatischer, poetischer, zionistischer

Terroristenveteran. Als ehemaliger prominenter Kommandant in

der rechtsgerichteten Terrororganisation Irgun hatte er, wie ich zugeben

muss, in meiner frühesten Jugend einen gewaltigen Einfluss auf mich.

Er zeigte einen unnachgiebigen Hass gegen alles Nicht-Jüdische. Er

hasste Deutsche und verbot meinem  Vater deshalb,  einen deutschen

Wagen zu kaufen. Er verachtete auch die Briten, da sie sein

„verheißenes Land“ kolonisierten. Ich vermute aber, dass er die Briten

jedoch nicht so sehr verabscheute wie die Deutschen, da er meinem Vater erlaubte,

einen alten Vauxhall Viva zu fahren.

Er war auch  auf die Palästinenser ziemlich sauer, da sie auf dem

Land wohnten, das – da war er sich sicher – doch ihm und sei-

nem Volk gehörte. Oft fragte er sich: „Diese Araber haben so viele

Länder, warum müssen sie auf genau in demselben Land leben, das

uns von unserem Gott 'gegeben' wurde?“ Mehr als alles andere

aber hasste mein Großvater jüdische Linke.   Dieser besondere

Abscheu reifte allerdings nicht zu einem Interessenkonflikt zwischen
 
ihm und meinem Vater heran, da jüdische Linke niemals irgendein

anerkanntes Fahrzeugmodell hervorbrachten,

Als Anhänger des rechtsrevisionistischen Zionisten Zeev Jabo-

tinsky (1) war es meinem Großvater offensichtlich klar, dass eine

linke Philosophie im Verein mit jedweder Form eines jüdischen

Wertesystems ein  Widerspruch in sich ist. Als Rechter und Terro-

ristenveteran sowie als stolzer jüdischer „Falke“ wusste er sehr

wohl, dass Tribalismus niemals in Frieden mit Humanismus

und Universalismus leben kann. Seinem Mentor Jabotinsky

folgend, glaubte er an die Philosophie der „Eisernen Mauer“.

Wie Jabotinsky respektierte auch mein Großvater arabische

Menschen und hatte eine hohe Meinung von ihrer Kultur und

Religion, glaubte aber, dass man Arabern im Allgemeinen und

Palästinensern im Besonderen hart und kämpferisch
 
gegenübertreten sollte.

Mein Großvater pflegte oft oft die Hymne der politischen Bewegung

Jabotinsky‘s zu zitieren:

Aus der Grube voller Verwesung und Staub

Wird durch Blut und Schweiß hindurch

Uns eine Rasse entstehen,

Stolz, großherzig und leidenschaftlich kämpferisch.

Mein Großvater glaubte an das Wiedererwachen des Stolzes der

„Jüdischen Rasse“ - und so tat ich es ihm in meiner frühen Jugend

nach. Genau wie meine Altersgenossen nahm ich die Palä-

stinenser um mich herum nicht wahr. Zweifellos gab es sie – sie

reparierten den Wagen meines Vaters für den halben Preis, bau-

ten unsere Häuser, räumten das Durcheinander hinter uns auf,

schleppten Kisten im Lebensmittelgeschäft des Ortes, aber sie

verschwanden stets knapp vor Sonnenuntergang und tauchten erst

vor der Morgendämmerung wieder auf. Nie knüpften wir Kontakt

mit ihnen. Wir verstanden nicht richtig, wer sie waren

und für was sie standen. Das Gefühl eigener Überlegenheit hatte

unsere Seelen tief durchdrungen. Wir betrachteten die Welt durch

ein rassistisches, chauvinistisches Fernglas. Und wir fühlten auch

keine Scham darüber.

Mit siebzehn war ich reif für den  Militärdienst in

den IDF (Israeli Defense Forces = israelische Streitkräfte). Als gut

gebauter Teenager voll 'militantem Enthusiasmus' sollte ich eigentlich zu

einer Rettungs-Spezialeinheit der Luftwaffe. Doch dann geschah

das Unerwartete: In einem Jazzprogramm zu sehr später Nacht

hörte ich Bird "Charlie Parker with Strings".

Das warf mich um. Die Musik war organischer, poetischer, senti-

mentaler und wilder als alles, was ich je zuvor gehört hatte. Mein

Vater hörte gewöhnlich Bennie Goodman und Artie Shaw,

die beide unterhaltsam waren – sie konnten gewiss

Klarinette spielen – aber Bird war eine ganz andere Geschichte.

Hier gab es eine intensive, libidinöse Extravaganz aus Geist und

Energie. Am nächsten Morgen schwänzte ich die Schule und

eilte zu Piccadilly Records, der Nummer Eins unter Jerusalems

Musikgeschäften. Ich fand die Jazzabteilung und kaufte jede

Bebop-Aufnahme, die sie gerade in den Regalen hatten, was

wahrscheinlich auf zwei Alben hinauslief. Im Bus nach Hause

stellte ich fest, dass Parker eigentlich ein Schwarzer war. Das

war zwar keine völlige Überraschung für mich, aber eine Art

Offenbarung. In meiner Welt brachte man nur Juden

mit allem Guten in Verbindung. Bird war der

Anfang einer Reise.

Meine Freunde und ich waren damals davon überzeugt,

dass Juden tatsächlich das Auserwählte Volk wären. Meine Gene-

ration wuchs mit dem magischen Sieg im Sechs-Tage-Krieg auf.

Wir waren uns unser selbst völlig sicher. Wir waren säkular und

brachten  jeden Erfolg mit unseren omnipotenten Qualitäten

in Verbindung. Wir glaubten nicht an einen göttlichen Eingriff,

wir glaubten an uns selbst. Wir glaubten, dass der Ursprung

unserer Macht aus  unseren wiedererstandenen hebräischen Seelen

und Körpern entsprang. Die Palästinenser ihrerseits dienten

uns gehorsam und damals sah es nicht so aus, als ob sich diese Situation

je ändern würde. Sie zeigten keine wirklichen Anzeichen kol-

lektiven Widerstandes. Die sporadischen sogenannten „Terror“-

Anschläge machten uns selbstgerecht und erfüll-

ten uns mit der Gier nach Rache. Aber irgendwie, inmitten dieser

Omnipotenzorgie und zu meiner großen Überraschung, merkte

ich, dass die Leute, die mich am meisten begeisterten, tatsächlich

ein paar schwarze Amerikaner waren – Menschen, die nun so gar

nichts mit dem zionistischen Wunder oder mit meinem eigenen

chauvinistischen, exklusiven Stamm zu tun hatten.

Zwei Tage später kaufte ich mein erstes Saxophon. Anfangs ist

dies ein sehr leichtes Instrument – man frage Bill Clinton – aber 

lernen, wie Bird oder Cannonball Adderley zu spielen, schien

eine unmögliche Aufgabe. Ich begann, Tag und Nacht zu üben,

und je mehr ich dies tat, desto überwältigter war ich von der

gewaltigen Leistung jener großen Familie schwarzer amerika-

nischer Musiker, die ich nun näher kennen zu lernen begann.

Binnen eines Monats hörte ich  Sonny Rollins,

Joe Henderson, Hank Mobley, Thelonious Monk, Oscar Peterson

and Duke Ellington, und je mehr ich lauschte, desto klarer wurde

mir, dass meine judäozentrische Erziehung – irgendwie völlig

irreführend war.

Nach einem Monat mit dem Saxophon im Mund war 

mein soldatischer Enthusiasmus vollständig verschwunden. Anstatt

Hubschrauber hinter feindlichen Linien zu fliegen, phantasierte ich von

einem Leben in New York, London oder Paris.

Alles, was ich wollte, war eine Chance, die Jazzgrößen live zu

hören, denn es waren die späten 1970-er und viele von ihnen

lebten noch.

Heutzutage schreiben sich Jugendliche, die Jazz spielen möchten,

in einer Musikhochschule ein. Als ich zum Jazz kam, war es noch

ganz anders.

Wer klassische Musik spielen wollte, trat in ein Konservatorium

ein, aber wer um der Musik selbst willen spielen wollte, blieb

zuhause und spielte eben rund um die Uhr locker vor sich hin.

Damals gab es keine Jazzausbildung in Israel und in meiner Hei-

matstadt Jerusalem gab es nur einen einzigen, kleinen Jazz-Club,

der in einem alten, umgebauten, pittoresken türkischen Bad

untergebracht war. Jeden Freitagnachmittag traf man sich dort zur Jam-

Session und während meiner ersten beiden Jazz-Jahre waren diese

Jams die Essenz meines Lebens. Alles andere gab ich auf. Ich übte

nur noch – Tag und Nacht – selbst im Schlaf

bereitete mich auf den nächsten „Freitag-Jam“ vor. Aufmerksam

lauschte ich der Musik und transkribierte einige großartige Solos.

Ich übte im Schlaf, indem ich mir die Akkordwechsel ausmalte

und über sie hinwegflog. Ich beschloss, mein Leben dem Jazz zu

widmen, und nahm die Tatsache hin, dass meine Chancen, als

weißer Israeli an die Spitze zu gelangen, eher gering waren.

Ich nahm noch nicht wahr, dass meine wachsende Hingabe an

den Jazz meine jüdischen nationalistischen Tendenzen überwäl-

tigt hatte;  wahrscheinlich ließ ich

die Auserwähltheit in dieser Zeit hinter mir, um ein normales menschliches

Wesen zu werden. Jahre später kam ich tatsächlich zu der Ein-

sicht, dass Jazz mein Fluchtweg war.

Innerhalb weniger Monate wurde die 

Verbindung mit der mich umgebenden Realität schwächer. Ich

sah mich selbst nun als Teil einer viel weiteren und größeren Familie,

einer Familie von Musikliebhabern, bewundernswerten Men-

schen, die mit Schönheit und Geist anstatt mit Land, Mammon

und Besatzung beschäftigt waren.
 
Aber, ich musste immer noch zur IDF. Obwohl spätere Gene-

rationen junger israelischer Jazzmusiker einfach der Armee 

entkamen und in das Mekka des Jazz, New York, flüchteten, stand

mir, einem jungen Burschen mit zionistischen Wurzeln in Jerusa-

lem, eine solche Option nicht offen. Eine solche Möglichkeit kam

mir nicht einmal in den Sinn.

Im Juli 1981 trat ich in die israelische Armee ein, doch ab dem

ersten Tag meines Militärdienstes tat ich mein Bestes, mich dem

Ruf der Pflicht zu entziehen – nicht, weil ich Pazifist war, und

auch nicht, weil ich mich groß um die Palästinenser sorgte. Ich

zog es nur vor, mit meinem Saxophon allein zu sein.

Im Juni 1982, bei Ausbruch des ersten israelisch-libanesischen

Krieges, war ich bereits seit einem Jahr Soldat. Man musste kein

Genie zu sein, um die Wahrheit zu erkennen. Ich wusste,

dass unsere Führer logen, und tatsächlich begriff jeder israelische

Soldat, dass dies ein israelischer Aggressionskrieg war. Persönlich

fühlte ich keinerlei Verbundenheit mehr mit der zionistischen

Sache, Israel oder dem jüdischen Volk. Auf dem jüdischen Altar

zu sterben, übte keinen Reiz mehr auf mich aus. Und doch war

es nicht Politik oder Ethik, die mich antrieb, sondern vielmehr

meine Sehnsucht, mit meinem neuen Selmer Paris Mark IV-Saxo-

phon alleine zu sein. Tonleitern mit Lichtgeschwindigkeit rauf

und runter zu spielen, schien mir weit wichtiger, als Araber im

Namen jüdischen Leidens zu töten. Anstatt also qualifizierter

Killer zu werden, unternahm ich jeden nur möglichen Versuch,

mich einer der Militärkapellen anzuschließen. Es dauerte zwar

ein paar Monate, doch schließlich landete ich sicher im Orchester

der israelischen Luftwaffe (IAFO).

Die Zusammensetzung der IAFO war einmalig. Man wurde

nur angenommen, wenn man ein exzellenter Musiker oder ein

viel versprechendes Talent war - oder der Sohn eines toten Pilo-

ten. Die Tatsache, dass ich akzeptiert wurde, obwohl mein Vater 

noch unter den Lebenden weilte, beruhigte und ermutigte mich: 

Zum ersten Mal zog ich die Mög-

lichkeit in Betracht, dass ich musikalisches Talent besitzen könnte.

       Zu meiner großen Überraschung nahm keines der Orchester-

mitglieder die Armee ernst. Wir waren alle nur mit einer Sache

beschäftigt: unserer persönlichen musikalischen Entwicklung.

Wir hassten die Armee und es dauerte nicht lange, bis ich den

Staat selbst zu hassen begann, der eine Luftwaffe erforderte, die

eine Band für sich beanspruchte, was mich davon abhielt, sieben

Tage in der Woche 24 Stunden zu üben. Wenn wir gerufen wurden,

um für eine Militärveranstaltung aufzuspielen, versuchten

wir, so schlecht zu spielen, wie wir nur konnten, um dafür zu
sorgen, dass wir nie wieder eingeladen würden. Manchmal tra-

fen wir uns sogar nachmittags, um schlechtes Spielen zu üben.

Es wurde uns klar, dass unsere persönliche Freiheit in dem Maße

wachsen würde, je schlechter unser kollektiver Auftritt war.

Im Militärorchester lernte ich zum ersten Mal, subversiv zu sein,

und wie man das System sabotiert, um einem persönlichen Ideal

zu entsprechen.

Im Sommer 1984, knapp drei Wochen, bevor ich meine Militär-

uniform auszog, wurden wir auf eine Konzerttour in den Libanon

geschickt.

Damals war dies ein sehr gefährlicher Platz. Die israelische Armee

war tief in Bunker und Gräben eingegraben und vermied jegliche

Konfrontation mit der örtlichen Bevölkerung. Am zweiten Tag

brachen wir nach Ansar auf, einem israelischen Inter-

nierungslager in Südlibanon. Diese Erfahrung veränderte mein

Leben vollständig.

An einem glühendheißen Tag Anfang Juli kamen wir am Ende einer staubigen, 

ungeteerten Straße in der Hölle auf Erden an. Das rie-

sige Gefängnislager war mit Stacheldraht umzäunt. Als wir zum

Lagerhauptquartier fuhren, hatten wir einen Blick auf Tausende

von Insassen im Freien, die in der sengenden Sonne schmorten.

    So schwer es auch zu glauben sein mag,  Militärbands werden

immer als VIPs behandelt und nachdem wir in den Offizierunterkünften

gelandet waren, wurden wir auf einem Rundgang durch

das Lager geführt. Wir gingen den endlosen Stacheldraht und die

Wachttürme entlang. Ich traute meinen Augen nicht.

    „Wer sind diese Menschen?“ fragte ich den Offizier.

    „Palästinenser“, sagte er. „Auf der Linken sind PLO (Palä-

stinensische Befreiungsorganisation) und auf der Rechten sind

Ahmed Dschibril‘s Jungs (Volksfront für die Befreiung Palästinas

– Generalkommando) – sie sind weit gefährlicher, deshalb halten

wir sie isoliert.“

Ich betrachtete die Häftlinge. Sie sahen ganz anders als die Palästi-

nenser in Jerusalem aus. Die Männer, die ich in Ansar sah, waren

zornig. Sie waren nicht besiegt, sie waren Freiheitskämpfer und

zahlreich. Als wir unseren Weg längs des Stacheldrahts fortsetz-

ten, gelangte ich  zu einer

unerträglichen Wahrheit: Ich ging auf der anderen Seite – in

israelischer Militäruniform. Der Ort war ein Konzentrationslager.

Die Insassen waren die „Juden“ und ich war ein „Nazi“.

Ich brauchte Jahre, um mir einzugestehen, dass sogar die duale

Gegenüberstellung Jude/Nazi selbst ein Ergebnis meiner judäozentri-

schen Indoktrination war.

Während ich über die Wirkung meiner Uniform nachsann und

versuchte, mit dem heftigen Schamgefühl fertig zu werden, das

in mir  wuchs, erreichten wir einen großen, ebenen Platz

in der Lagermitte. Der uns führende Offizier bot uns noch

mehr Plattitüden über den aktuellen Krieg zur Verteidigung

der jüdischen Zuflucht. Während er uns mit diesen irrelevanten

Hasbara (Propaganda)-Lügen langweilte, bemerkte ich,

dass wir von zwei Dutzend Betonblöcken von je ca. 1 m Breite X 1 m Tiefe

mal 1,3 m Höhe mit kleinen Metalltüren als Eingängen

umgeben waren. Der Gedanke, dass meine Armee über Nacht

Wachhunde  in diese Kästen sperrte, entsetzte mich. Ich aktivierte

meine israelische Chutzpah und sprach den Offizier auf diese

schrecklichen Hundehütten aus Beton an. 

Seine Antwort kam schnell: „Dass sind unsere Isolierhaft-Blöcke; nach zwei

Tagen in einem davon, ist man ein hingebungsvoller Zionist!“.

   Da reichte es mir. Mir wurde klar, dass mein Verhältnis zum

israelischen Staat und dem Zionismus zerstört war. Noch wusste

ich sehr wenig über Palästina, über die Nakba oder selbst

über Judentum und Jüdischkeit. Damals sah ich nur, dass Israel

schlechte Nachrichten für mich bedeutete, und ich wollte nichts

weiter damit zu tun haben. Zwei Wochen später gab ich meine

Uniform wieder ab, schnappte mir mein Alt-Saxophon, nahm

den Bus zum Ben Gurion-Flughafen und ging für einige Monate

nach Europa, um dort Straßenmusik zu machen. Im Alter von

einundzwanzig Jahren war ich zum ersten Mal frei. Allerdings

war mir der Dezember schließlich zu kalt und ich kehrte nach

Hause zurück – jedoch mit der klaren Absicht, mich so schnell wie

möglich wieder auf den Weg nach Europa zu machen. Irgendwie sehnte ich mich

danach, ein Goi (Nichtjude) zu werden oder doch zumindest von

Gojim umgeben zu sein.

                                                   ***

Es sollte weitere zehn Jahre dauern, bevor ich Israel endgültig ver-

lassen konnte. Während dieser Zeit informierte ich mich jedoch

über den Israel-Palästina-Konflikt und begriff,

dass ich in Wirklichkeit auf jemandes anderen Land

lebte. Ich nahm die verheerende Tatsache in mir auf, dass 

die Palästinenser 1948 ihre Häuser keineswegs freiwillig verlassen hat-

ten, wie uns in der Schule erzählt wurde, sondern dass sie Opfer

einer brutalen ethnischen Säuberung geworden waren, verübt

von meinem Großvater und seinesgleichen. Es wurde mir klar,

dass die ethnische Säuberung in Israel niemals aufgehört, sondern

nur andere Formen angenommen hatte. Ich erkannte, 

dass das israelische Rechtssystem nicht unparteiisch,

sondern rassisch orientiert war (so heißt zum Beispiel das „Rück-

kehrgesetz“ Juden aus jedem Land nach 2.000 Jahren „zuhause“

willkommen, hindert jedoch Palästinenser daran, nach zwei-

jährigem Auslandsaufenthalt in ihre Dörfer zurückzukehren).

Währenddessen hatte ich mich auch als Musiker weiterentwickelt und

mir als Session-Musiker und Musikproduzent größeres Ansehen

verschafft. Ich beschäftigte mich zwar nicht wirklich mit irgendwelchen

politischen Aktivitäten - aber ich verfolgte den israelischen linken

Diskurs intensiv und verstand bald,  dass es sich

eher um einen gesellschaftlichen Klub als um eine von

ethischem Bewusstsein motivierte ideologische Kraft handelte.

     Zur Zeit der Oslo-Verträge im Jahre 1993 konnte ich es 

schließlich nicht mehr ertragen. Ich sah, dass israelisches „Friedenschließen“ nichts

anderes war  als Tatsachenverdrehung. Zweck war nicht die

Aussöhnung mit den Palästinensern oder die Auseinandersetzung

mit der zionistischen Ursünde, sondern  die Existenz des

jüdischen Staates auf Kosten der Palästinenser weiterhin. Für die

meisten Israelis bedeutet „Schalom“ nicht „Frieden“, sondern „Sicher-

heit“ - und zwar allein für Juden. Dass Palästinenser ihr „Rück-

kehrrecht“ feierten,  war keine Option. Ich entschied mich, meine

Heimat und meine Karriere aufzugeben. Ich ließ alles und jeden hinter

mir, einschließlich meiner Frau Tali, die sich mir später anschloss.

Alles, was ich mit mir nahm, war mein Tenorsaxophon – mein wahrer,

ewiger Freund.

Ich zog nach London und nahm an der Universität Essex ein wei-

terführendes Studium der Philosophie auf. Binnen einer Woche

gelang es mir, ein Engagement im Black

Lion zu bekommen, einem legendären irischen Pub auf der Kil-

burn High Road. Damals wusste ich noch nicht zu schätzen, wie

viel Glück ich hatte – ich wusste nicht, wie schwierig es war,

in London einen Auftritt zu ergattern. Dies war tatsächlich der

Beginn meiner internationalen Karriere als Jazzmusiker. Innerhalb

eines Jahres war ich im Vereinigten Königreich sehr populär

geworden, spielte Bebop und Post-Bebop. Binnen drei Jahren

tourte ich mit meiner Band in ganz Europa.

Und dann packte mich das Heimweh. 

Zu meiner großen Überraschung war es nicht Israel, das ich vermis-

ste, nicht Tel-Aviv, nicht Haifa, nicht Jerusalem. Es war Palästina.

Es waren nicht die groben und lauten israelischen Taxifahrer am

Ben-Gurion-Flughafen oder die schmuddeligen Einkaufszentren

in Ramat Gan, sondern der kleine Platz in der Yefet-Straße in

Jaffa, wo das beste Hummus serviert wird, das man sich für Geld

nur kaufen kann, und die palästinensischen Dörfer, die sich über

die Hügel inmitten von Olivenbäumen und Sabra-Kakteen

erstreckten. Wann immer mir in London nach einem

Heimatbesuch war, landete ich schließlich in der Edgware Road

und verbrachte den Abend in einem libanesischen Restaurant.

Nachdem ich einmal begonnen hatte, meine Gedanken zu Israel

in der Öffentlichkeit deutlich zu äußern, wurde mir bald klar,

dass ich meiner Heimat in der Edgware Road wahrscheinlich  so

nahe war, wie ich ihr jemals wieder kommen könnte.

                                                 ***

Als ich in Israel lebte, war ich von arabischer

Musik überhaupt nicht angetan. Ich vermute, dass koloniale

Siedler selten an der einheimischen Kultur interessiert

sind. Ich liebte Volksmusik, hatte mich in Europa und in den USA

bereits als Klezmer-Spieler etabliert und begann im Laufe der

Jahre, auch türkische und griechische Musik zu spielen. Doch

die arabische Musik und insbesondere palästinensi-

sche Musik hatte ich dabei völlig übergangen. Als ich nun in London in jenen

libanesischen Restaurants rumhing, wurde mir klar,

dass ich die Musik meiner Nachbarn niemals wirklich erforscht

hatte. Noch beunruhigender: Ich hatte sie ignoriert und sogar

abgelehnt. Obgleich ich überall von ihr umgeben war, hatte ich ihr

niemals wirklich zugehört. Dabei war sie in jedem Winkel meines

Lebens erklungen: der Gebetsruf von den Moscheen, die Stimmen

von Umm Kulthum, Farid El-Atrash und Abdel Halim Hafez.

Man konnte sie in den Straßen, im Fernsehen, in den kleinen

Cafés der Jerusalemer Altstadt, in den Restaurants hören. Sie

hatte mich überall umgeben – doch ich hatte ihr respektlos keiner-

lei Beachtung geschenkt.

Und nun wurde ich in meinen Mittdreißigern, noch dazu fernab des Nahen Ostens, 

von der einheimischen Musik meines Heimatlandes angezo-

gen. Es war nicht leicht; es war tatsächlich am Rande des völlig

Unmöglichen. So einfach es für mich war, Jazz zu absorbieren

– bei arabischer Musik war dies fast unmöglich. Ich lauschte dieser

Musik, nahm mein Saxophon oder meine Klarinette, und versuchte, 

meinen Sound einzubinden, aber das Ergebnis war ein

äußerst fremder Klang. Bald wurde mir bewusst, dass

arabische Musik eine gänzlich andere Sprache ist. Ich wusste

nicht, wo ich anfangen  oder wie ich mich ihr nähern sollte.

     Jazz-Musik ist zu einem gewissen Grade ein westliches Produkt

mit einem starken afro-kubanischen Einfluss. Sie bildete

sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts heraus und entwickelte sich

in den Randzonen der amerikanischen Kultur. Bebop,

die Musik, mit der ich aufwuchs, besteht aus relativ kurzen

Musikfragmenten - die Musikstücke mussten zum 3-

Minuten-Aufnahme-Format der 1940-er Jahre passen.

Westliche Musik lässt sich zudem mittels Standardnotenschrift und

Akkordsymbolen leicht in visuelle Inhalte transkribieren. Jazz

ist deshalb wie die meisten westlichen Musikformen teilweise

digital. Arabische Musik ist hingegen analog – sie lässt sich

nicht transkribieren.

Bei dem bloßen Versuch verfliegt ihre Authentizität. 

Als ich dann endlich die menschliche Reife hatte, mich 

„der Musik“ meines Heimatlandes im wahrsten Sinne des Wortes

 „zu stellen“, stand mir mein musikalisches Wissen im Wege.

     Ich konnte nicht verstehen, was mich daran hinderte, arabische

Musik zu meistern, oder warum ich nicht den richtigen Sound

traf, wenn ich sie zu spielen versuchte. Ich hatte zwar genug

Zeit mit Zuhören und Üben verbracht, aber es klappte einfach nicht.

Im Laufe der Zeit begannen Musikjournalisten,

meinen neuen Sound zu schätzen und mich als einen 

Jazz-“Helden“ zu betrachten, der als Experte arabischer Musik

die Kluft zwischen den Musikkulturen überwand. Ich wusste

jedoch, dass sie Unrecht hatten – so sehr ich auch versuchte,

diese sogenannte „Kluft“ zu überwinden, wusste ich doch,

dass mein Sound und meine Interpretation

wahrer arabischer Musik fremd waren.

Dann entdeckte ich einen einfachen Trick. Wenn ich bei meinen

Konzerten versuchte, diesen so flüchtigen orientalischen Sound

nachzubilden, sang ich zunächst eine Zeile, die mir jene Klänge

ins Gedächtnis zurückholte, die ich in meiner Kindheit ignoriert hatte.

Ich versuchte, mich an den widerhallenden Ruf der Muezzin zu erinnern,

der aus den umliegenden Tälern bis in unsere Stra-

ßen drang, und an die erstaunlichen, unvergesslich-ergreifenden

Klänge meiner Freunde Dhafer Youssef und Nizar al-Issa, sowie

die tiefe, nachklingende Stimme von Abel Halim Hafez. Zunächst

schloss ich nur meine Augen und lauschte mit meinem inneren

Ohr, doch ohne es zunächst zu merken, öffnete ich allmäh-

lich auch den Mund und begann, laut zu singen. Da wurde mir

bewusst, dass ich mit dem Saxophon im Mund sang und

auf diese Weise einen Klang erzielte, der den metallenen Laut-

sprechern der Moscheen sehr nahekam. So lange Zeit hatte ich

mich bemüht, mich dem arabischen Klang anzunähern, aber nun

vergaß ich einfach, was ich zu erreichen suchte, und begann, es

zu genießen.

Nach einer Weile bemerkte ich, dass die Echos von Dschenin,

Al-Quds und Ramallah auf natürliche Weise dem Schalltrichter

meines Instruments entstiegen. Ich fragte mich, was geschehen

war, warum ich plötzlich echt klang, und kam zu dem Schluss,

dass ich auf das Primat des Auges verzichtet hatte und meine

Aufmerksamkeit stattdessen dem Primat des Ohres zuwandte. Ich

suchte nicht mehr auf dem Blatt nach Inspiration, nach Visuellem

oder Beweisbarem in der musikalischen Notation oder den

Akkordsymbolen. Stattdessen lauschte ich auf meine innere Stim-

me. Das Ringen mit der arabischen Musik erinnerte mich daran,

warum ich überhaupt begonnen hatte, Musik zu spielen. Schließlich hatte

ich Bird im Radio gehört, und nicht auf MTV.

Durch die Musik und insbesondere durch meine persönliche

Auseinandersetzung mit arabischer Musik lernte ich zu hören.

      Anstelle des Blicks auf die Geschichte oder der Analyse ihrer Ent-

wicklung in materiellen Ausdrücken ist es vielmehr das Hören, das

den Kern tiefen Verstehens bildet. Ethisches Verhalten kommt ins Spiel,

wenn die Augen geschlossen sind und die Echos des Bewusstseins in

der Seele eine Melodie formen können. Einfühlen bedeutet,

das Primat des Ohres anzunehmen (2). 
 
Fußnoten: 

1. Vladimir Ze'ev Jabotinsky war Begründer des zioistischen Revisionismus, Autor, Redner
und Soldat. Sein Erbe wird heute von Israels Herut-Party (schloss sich mit anderen Parteien 
des rechten Flügels zur Bildung des Likud im Jahre 1973 zusammen) und der zionistischen 
Judenbewegung Betar weitergeführt.
2. Für einige mag das "primat des Ohres" wie ein Echo des religiös-jüdischen Gebetes Sch'ma
Y'israel klingen: 'Höre, O Israel: Der Herr ist unser Gott, der Herr ist Einer', (5. Buch Mose, 6:4).
Obwohl das Judentum dem Akt des Hörens große Bedeutung beimisst, ist es entscheidend, klar 
zu trennen zwischen meinem eigenen Aufruf zu persönlichem und kritischem Urteil und dessen
Gegenteil, der religiös-jüdischen Aufforderung zu totalem Gehorsam.
 
Das Buch ist ab sofort in den Buchhandlungen erhältlich, und hier ist die Verlagsanzeige: 

DER WANDERNDE - WER?
Eine Studie jüdischer Identitätspolitik
Gilad Atzmon 
Übersetzung: Andreas Schmidt, Einar Schlereth
Lektorat: Nicole Hille-Priebe, Dr. Gabi Weber

Jüdische Identität ist engst mit einigen der schwierigsten und strittigsten Problemen unserer Zeit verknüpft. Ziel dieses Buches ist es, viele dieser Kernpunkte für die Diskussion zu öffnen. Da Israel sich öffentlich als „jüdischer Staat“ definiert, sollten wir fragen, wofür „Judentum“, „Jüdischkeit“, „jüdische Kultur“ und „jüdische Identität“stehen.

Gilad Atzmon untersucht die tribalen Aspekte, wie sie in den säkularen jüdischen politischen Diskurs – sowohl den zionistischen als auch den antizionistischen und sogar den der jüdischen Linken – eingelagert sind: die „Holocaust-Religion“, die Bedeutung von „Geschichte“ und „Zeit“ sowie die anti-nichtjüdischen Ideologien in ihren verschiedenen Formen. Er fragt, was Diaspora-Juden veranlasst, sich mit Israel zu identifizieren und seiner Politik anzuschließen. Der verheerende Zustand unseres Weltgeschehens erfordert dringend eine konzeptionelle Wende in unserer intellektuellen und philosophischen Einstellung zu Politik, Identitätspolitik
und Geschichte.

"Der Wandernde -WER? ist DAS Buch für jeden Interessierten, der den Unterschied zwischen Judentum, Jüdischkeit und Zionismus verstehen will. Eine philosophische Meisterleistung eines Menschenfreundes und brillanten Jazz-Musikers und Ausnahmekünstlers, eines wahren Freundes der Palästinenser und ihrer berechtigten Anliegen. Mit diesen stichhaltigen Fakten, engagiert und provokant, fasziniert Gilad Atzmon den Leser von der ersten bis zur letzten Seite. Ein wichtiges und mutiges Buch." (Evelyn Hecht-Galinski)

Euro 12.00
14 x 20,5 cm
248 Seiten
ISBN 978-3-88975-199-7

1 Kommentar:

  1. You mena the wandering FOOL.
    and you are fooled by his disturbed mind.....

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