Sonntag, 7. Juni 2020

DAS CHINESISCHE JAHRHUNDERT - Die neue Nummer eins ist anders

Westend Verlag, 384 S.,, 24 €

Eine Rezension von Einar Schlereth
6. Juni 2020

Wer sich nicht schon seit Jahrzehnten mit China beschäftigt hat, wird spätestens nach den ersten 100 Seiten nach Luft schnappen und sich fragen, ob das wirklich möglich ist, was da geschrieben steht. Kann das wahr sein? Unsere Medien berichten doch was ganz anderes. Aber dann erinnert er sich der vielen Fußnoten und schaut dort mal nach und muss feststellen, dass die meisten Fakten auch von westlicher Seite und oft sogar nicht freundlich gesinnter Quelle bestätigt werden.


WE (Wolfram Elsner) hat ein Standardwerk geschrieben. Weil er selbst wohl fürchtet, dass es schnell überholt sein wird, sitzt er nun schon am zweiten Buch und womöglich wird es sich in eine Serie verwandeln. Wahrscheinlich werden sie ebenso dicht mit Fakten gespickt werden wie dieses erste Buch.

Es kann bei dieser Faktenmasse auch nicht ausbleiben, dass das eine oder andere übersehen wird oder zu kurz kommt. So lese ich etwa auf Seite 14, dass im 16. Jahrhundert China “auf irgendeine Weise gegenüber eben diesem Europa ins Hintertreffen geriet und schließlich das Opfer des europäischen Kolonialismus wurde”. Da hatte ich vor kurzem gelesen, dass der damalige Kaiser sein Reich total gegen den Westen abschottete, die große Flotte mit Schiffen, die zigmal größer als europäische waren und Kanonen an Bord hatten, die nie eingesetzt wurden, verbrennen ließ mit sämtlichen Blaupausen für den Bau der Schiffe. Somit hat China sich selbst den Räubern ausgeliefert.

Die Kulturrevolution wird von WE etwas stiefmütterlich abgetan, wohl auf Grund der vielen negativen chinesischen Klagen und da vor allem von Seiten der Intellektuellen, für die es natürlich eine Schande war, eine Hacke in der Hand zu haben. Aber es gibt auch eine Menge Dokumente von Leuten, die ihre Erfahrungen positiv bewerteten, inklusive von Xi Jinping persönlich. Mao wollte die Partei regenerieren, die von revisionistischen und bürgerlichen Elementen verseucht war. Das nutzten Lin Piao und seine eigene Ehefrau für ihre Interessen aus u. a. durch Fälschung von Worten Mao Tsedungs (Wir müssen mit Worten, nicht Waffen überzeugen wurde in ‘Worte UND Waffen’ gefälscht).

Sehr wichtig ist WEs Richtigstellung des ‘Tian’anmen Massakers’ - eine faustdicke Lüge, die immer noch selbst in alternativen und sogar ‘linken’ Medien herumgeistert und die China sehr geschadet hat. Aber das war ja der Zweck der Übung. Wichtige und richtige Sachen vergessen die Leute blitzartig, bullshit bleibt ewig in den Hirnen kleben.
Im Vergleich dazu ist das Gewäsch über Umweltverschmutzung in China geradezu harmlos. Erst war ich im Zweifel, ob dieser Mist aufgetischt werden sollte, fand es dann aber doch gut, dies unseren Medien wieder um die Ohren zu hauen. Der Kontrast zur Wahrheit wird damit umso krasser. Es ist so erfrischend von all dem Neuen zu hören, das auf breiter Front angegangen wird. Hier kommen mir täglich ein oder zwei Petitionen in die mailbox geflattert, weil um jeden Dreck gekämpft werden muss. Dass man nicht 20 Hühner in eine Quadratmeter große Box stecken soll, nicht Schweine aufeinander stapelt, Motoren nicht länger als 5 Minuten laufen lässt usw. usf.

Und dann hört man von den blitzsauberen Straßen in Großstädten Chinas (was mir auch in Petersburg aufgefallen war). Hört von den breiten Gehwegen, den Grünanlagen, den Parks, die radikale Schließung von Kohlekraftwerk-Dreckschleudern, dem riesigen Bestand an El-Autos, was alles gemeinsam geplant, verwirklicht und überwacht wird.

WE notiert öfters, dass bei all dem, was in China geschieht, hier den Grünen die Herzen doch höher schlagen müssten. Aber nichts dergleichen, die giften nur rum, lesen offenbar nur noch die Presse des Großkapitals. Oder zetteln Kriege mit an wie der edle Ritter Jochen Fischer. Lumpenpack ganz einfach.

Ein anderes beliebtes Endlosthema ist ja der Technologieklau, der über lange Zeit auch den Japanern vorgeworfen wurde. Den puren Klau hat es ja nie gegeben. Natürlich haben Länder, die von uns unterentwickelt wurden, aus Nachholbedarf Sachen übernommen, sie aber meist verändert, angepasst und verbessert haben. Diesen Quatsch heute noch zu präsentieren, dazu gehört boshafte Blödheit. Denn China liegt schon seit ein paar Jahren bei Patentem, Innovationen und revolutionären Erfindungen weit vor allen Ländern weltweit. Es hat z. B. im vorigen Jahr mehr als dreimal so viel Patente wie die USA angemeldet. Es bildet Millionen mehr Menschen, Frauen und Männer, zu hochqualifizierten Fachleuten aus, was sich sehr schnell in der Ökonomie und Wissenschaft niederschlagen wird.

Zu dem Punkt des WTO-Beitritt Chinas hätte ich gern etwas mehr gehört. Die USA konnten dadurch ja wieder Investitionen in China tätigen. Das hatte uns damals ja schwer auf den Magen geschlagen und wir dachten: Gerade eben haben sie das US-Gesindel mitsamt seinen Flöhen, Läusen und Wanzen rausgeworfen und nun holen sie es wieder rein. Wie konnte China vermeiden, dass sie erneut Schaden anrichten konnten?

Mich haben auch Kleinigkeiten erfreut, die WE wahrgenommen hat, wie etwa, dass in China die Menschen sehr viel lachen (wie auch die Russen). Eigenartig, dass es nicht viele Leute gibt, die so etwas notieren. Das war mir und meiner Familie auch in Afrika aufgefallen, was man sehr vermisst, wenn man wieder zuhause die verbiesterten Gesichter sehen muss.

Im letzten Kapitel stellt WE Überlegungen an, was China denn eigentlich ist: Diktatur, Demokratie, kommunistisch, neoliberal, Markt-Wirtschaft oder was. Er hat es dann auf den Nenner eines neu-artigen Sozialismus mit chinesischen Merkmalen gebracht. Und ganz richtig: “China ist ein führendes, sich selbst genügendes System”. Man braucht sich nur mal Gedanken machen, wie China es geschafft hat, über tausende von Jahren hinweg seine gewaltige Volksmenge auf extrem wenig Ackerland ernähren konnte, ohne Kriege, ohne Eroberungen, ohne Diebstahl und Betrug. Am Ende sagt Wolfram Elsner sehr klug:
“China geht Wege, die die Menschheit noch nie gegangen ist.”
Wären wir etwas klüger, könnten wir vielleicht sogar an diesen Wegen teilnehmen.





2 Kommentare:

  1. Sehr gut, Rita. 1 + 2 kann ich empfehlen, Nr. 3 führt ins Nirwana. Aber unter dem Namen Albert Ettinger kann man es wohl finden. Die sind aber vor dem Gespräch mit Ken Jebsen gemacht worden.

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  2. Und die Krönung ist der Abschlusssatz, liebe packers and movers Mumbai. Klüger zu sein lohnt. Und noch mehr, erst recht, klüger zu werden.

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