Rezension
11. Februar 2017
Aus dem Schwedischen: Einar Schlereth
Die englische Version gibts bei | Amazon |
Nicht nur wir, die damals Kommunisten waren, sondern eine breite Schicht, die man die Progressiven nannte, hatten damals vor einem halben Jahrhundert die Einsicht, „Dass eine Kapitalistenklasse sich innerhalb einer Kommunistisch Partei entwickeln könnte“. Heute wissen wir jedoch, „dass der Rückweg in den Kapitalismus in der früheren Sowjetunion und China von den kommunistischen Führern selbst geleitet wurde“ (s. 166). Dies ist eine grundlegende Frage für uns. Genauso ernst wie jene für unsere Vorgänger vor einem Jahrhundert, als die mächtige und für alle damaligen Arbeiterbewegungen richtungweisende deutsche sozialdemokratische Partei vom Kopf her verrotten konnte wie ein Fisch und bei ihrem Verfall am 4. August 1940 die Katastrophe einleiten konnte, bei der Millionen fielen und insbesondere Europa zurück und tief hinein ins Elend geschleudert wurde.
Natürlich hatten wir Trotzki gelesen über einen sowjetischen „Thermidor“ (der Ausdruck bezog sich auf den 9. Thermidor – der 27. Juli 1794 – als die Reaktion Robespierre stürzte), aber seine Analyse der sowjetischen Entwicklung hatte sich schon damals in den 20-er Jahren als falsch erwiesen und später sind wir gezwungen worden, die trotzkistischen Sekten als destruktiv und bloße Saboteure zu erleben.
Ich meine das Buch von Mobo Gao „Der Kampf um Chinas Vergangenheit. Mao und die Kulturrevolution“ (Oktober-Förlaget 2017). Das sollte man lesen. Es erforderte einiges Nachdenken; aber es ist eine vernünftige Arbeit (‚lohnend‘ würde falsche Assoziationen wecken). Mobo Gao ist Chinese und obendrein ein offizieller innerhalb der „Elite“, die er kritisch schildert. Professor für chinesische Studien und Direktor des Kunfuzius-Instituts an der Universität von Adelaide, Australien. Somit schreibt er nolens volens (ob er will oder nicht) in einer mehr als tausendjährigen chinesischen intellektuellen Tradition. Aber er kommt vom ländlichen China, er war „Barfußlehrer“ in der Kulturrevolution und ging danach zur Universität.
Beim Ausklang der Kulturrevolution 1977 wurde er als einer von 24 Studenten aus ganz China auserwählt, um nach England zum Abschluss ihrer Studien geschickt zu werden.
Er hielt jedoch die Kontakte zu seinem Geburtsort und dessen Menschen aufrecht. Nicht nur mit seinem Bruder, der ein „Migrantarbeiter“ wurde, mit allem, was das an sozialen Schwierigkeiten bedeutete, sondern er ist regelmäßig nach China zurückgekehrt. Er hat sogar sein Heimatdorf untersucht und über seine Entwicklung geschrieben. Dies und das, was er über Chinas soziale Probleme geschrieben hat, ist nicht offiziell in China publiziert worden, wird aber im Netz diskutiert und sogar in akademischen Seminaren. Beachtet hier den Unterschied zwischen China heute und der Sowjetunion in den vierziger Jahren.
Grundlegend für seine Einstellung ist eine traditionelle chinesische Kluft zwischen der „Elite“, die in mehr als tausend Jahren die Beamtenkaste im Kaiserreich darstellte, und den alten hundert Namen, das Volk in den Dörfern. Jene, die durch ihre Arbeit mit dem Land die ganze Gesellschaft aufrechterhielten. Die auch hin und wieder die Herrschaft stürzten. Dieses Volk in den Dörfern wurde und wird betrachet als „unaufgeklärt, ‚hirngewaschen‘ oder ganz einfach dumm im Kopf, wie man in einem Teil der chinesischen intellektuellen Elite meint.“ (S. 281)
Dass Mobo Gao Recht hat, weiß ich und ich habe darüber geschrieben. ‚Liu Lin‘ [eine Reihe von drei Büchern, die Myrdal über ein nordchinesisches Dorf nach mehreren Besuchen geschrieben hat, die weltberühmt wurde. D. Ü.] war für Gun Kessle und mich nicht besonders fremd. Es war wie Myres am Fluss in Solvarbo, von dem Großmutter aus ihrer Kindheit erzählte oder Guns eigenen Kindheitserinnerungen von ihrem Onkel mütterlicherseits und dessen Familie weit oben am Torne-Fluss. Aber für die meisten chinesischen städtischen Kader, die uns vor der Kulturrevolution begleiteten, war Liu Lin völlig fremd, bloß Elend und Rückständigkeit. Dies ist eine tausendjährige gesellschaftliche Kluft. Nicht verwunderlich, dass Mao die Studenten und Jugendlichen aus der Stadt aufs Land schickte, um die Wirklichkeit von Chinas Volk kennenzulernen. Dass auch in Schweden geschrieben wurde, wie schrecklich es war, dass Studenten Schweine hüten und bitteren Reis essen mussten, ist merkwürdig.
Mobo Gaos Buch ist teilweise eine sehr genaue kritische Schilderung zweier im Westen und jetzt auch für die chinesische, nach dem Westen gierende Elite richtung-weisender Werke: Jung Chang und Jon Halliday „Mao: Die wahre Geschichte“ und Li Zhiui „Das private Leben des Vorsitzenden Mao“ (berüchtigt wegen der Schilderungen von Maos Sexualleben). Von denen bleibt nicht viel übrig als Quellmaterial. Gleichzeitig ist die Schilderung von Mao, seiner Zeit und seiner Politik sehr deutlich.
Denn: „Die meisten bedeutenden chinesischen KKP-Führer, von Tschou En-lai bis Deng Xiaoping und von Jiang Zemin bis Hu Jintao, sind eher Nationalisten als Kommunisten, und deren ganzes alles in den Schatten stellende Streben ist es gewesen, China stark und reich zu machen. Ebenso wie für viele Revolutionäre in den Entwicklungsländernn bedeutete politischer Radikalismus für viele chinesische Revolutionäre ein Mittel zum Zweck der nationalen Einheit und eines wohlhabenden China. Wenn der Marktkapitalismus eine Art ist, dieses Ziel zu erreichen, dann setzt man eben alles darauf. Mao war auch chinesischer Nationalist. Aber man kann behaupten, dass für Mao die nationale Einheit und nationaler Reichtum nicht ein Ziel an sich war. Mao war ein post-leninistischer Marxist, der einen neuen Weg der Politik öffnen wollte.“ (S. 246/247)
Dies ist ein faktenreiches und gut belegtes Buch über das jetzige hochentwickelte, aber nach der Kursänderung unter Deng extrem ungleiche China:
„… in den städtischen Gebieten (sind) die Einkommen von 10 % der Haushalte mit den höchsten Einnahmen / … / 31 mal höher als die der ärmsten 10 % Prozent. Wenn man die ländlichen und städtischen Gebiete kombiniert in dieser Berechnung beträgt der Unterschied das 51-fache.“ (S. 253) „ … 90 % der mehr als 3000 Milliardäre in China (sind) ‚kleine Fürsten‘, Söhne und Töchter von hochrangigen Parteifunktionären ...“ (S. 261)
Gleichzeitig ist Gao durch seinen eigenen Hintergrund geprägt. „Da ich auf dem chinesischen Land aufgewachsen bin, war ich Zeuge von den wichtigen Vorteilen, den diese Maßnahmen [in der Kulturrevolution. J. M.] für die Bevölkerung auf dem Lande mit sich brachten.“ (s. 38)
Mobo Gao hat ein sehr wichtiges Buch geschrieben. Lest, denkt nach und zieht eure Schlussfolgerungen.
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