Samstag, 13. August 2011

Mit offenen Augen durch Venezuela (1. und 2. Folge)


Mai 2006
Diese ältere  Reportageserie, die es bisher nur auf Schwedisch gab, habe ich nun endlich auch ins Deutsche übersetzt, weil sie einerseits immer noch aktuell ist und weil es andererseits außerordentlich wenig Vernünftiges über Venezuela gibt.

Mit offenen Augen durch Venezuela

Nach knapp fünf Wochen in Venezuela kann man ehrlicherweise nicht eine umfassende Analyse schreiben. Selbst wenn ich spanisch kann und 3000 km durch das Land gereist bin, viele Kilometer zu Fuß und mit sehr vielen Menschen gesprochen und eine ganze Menge von den Presseorganen gelesen habe. Das Land ist einfach zu groß – mit 916500 km² fast dreimal so groß wie Deutschland – hat 27 Mill. Einwohner, ist belastet mit einem schwierigen historischen Erbe, mit enormen sozialen Problemen und muss sich mit gewaltigen außenpolitischen Schwierigkeiten in einer immer komplizierteren globalen Lage herumschlagen.
Folkliga ledare
Bevor ich reiste, habe ich eine ganze Menge an schrecklichen Geschichten gehört und gelesen über die Gewalt im Land, von Straßengangstern, Aggressionen und Diebstählen. Ungefähr dieselben Geschichten, wie ich sie über Daressalaam oder Peshawar, die Bronx und Harlem in NY hörte. Dummes Gerede hier wie da. Ich habe nicht eine einzige Situation erlebt, die nur annähernd bedrohlich oder aggressiv war. Keine Schlägerei und keinen Zank. Nicht einmal in den sogenannten gefährlichen Vierteln.
Die Menschen sind freundlich und behilflich. Man kommt leicht mit ihnen ins Gespräch – mit Männern und Frauen. In Geschäften und Restaurants wird man anfangs oft recht knapp und zurückhaltend bedient. Aber das hängt wohl mit dem afrikanischen Erbe zusammen (der größte Teil der Bevölkerung hat afrikanische Vorfahren). Reserviert und diskret zu Anfang, aber schon beim zweiten Treffen taucht auf den Gesichtern ein breites Lächeln auf.
Mein Interesse, Venezuela zu besuchen, galt Hugo Chávez und der Verwirklichung seiner Politik auf der untersten Ebene. Ich habe bewusst auf Treffen und Interviews mit Partei- und Regierungsleuten verzichtet. Habe also die Froschperspektive gewählt.
Deshalb wohnte und aß ich in einfachen und billigen Hotels (posadas) und Restaurants, wo es sehr gute Möglichkeiten gibt, mit den Menschen ins Gespräch zu kommen.
Auf meinen Streifzügen durch Caracas – eine Riesenstadt mit mindestens sieben Millionen Einwohnern – wird man von unerhörten Widersprüchen überrascht. Verkommene Straßen, wo Müll zu Bergen gehäuft ist, und Straßen, die sauberer sind als in Hamburg. Häuser aller Kategorien und Größen. Ausgedehnte Slumgebiete und gepflegte Viertel mit kleinen Villen und Viertel mit Luxusvillen, umgeben von Mauern mit Stacheldraht oder Zäunen unter Strom. Eine supermoderne und extrem saubere U-Bahn und Busse und Taxis, die echte Schrotthaufen sind. Parks, die verkommen und verdreckt sind und andere, die sehr gepflegt und sauber sind. Menschen in Lumpen oder nach der neuesten Mode gekleidet.
Aber es gibt kein einheitliches Muster. Ein ungepflegter Park kann in einem besseren Viertel liegen und ein gepflegter Park in einem weniger angesehenen Viertel wie jenes an der U-Bahnstation Gato Negro. Auf den Hügeln um die Stadt im Tal kann ein gutes Viertel neben einem armen liegen. Und da die allermeisten Menschen sehr auf ihr Aussehen und ihre Kleidung achten – die Haare immer frisch gewaschen und die Kleider gebügelt – sind die Klassenunterschiede im Straßenbild nicht so krass.
A propos Straßenbild: es wird beherrscht von tausenden und aber tausenden Straßenhändlern, einem enormen Gedränge und Autos. Man kann auf der Straße beinahe alles bekommen: Essen und Trinken, Werkzeuge, Schuhe, Parfüm und Telefongespräche an den zahlreichen festgeketteten Handies und nicht zu vergessen Millionen CDs und DVDs mit Musik und Filmen aus der ganzen Welt – allerdings sind US-Produkte vorherrschend. Da sie ungeheuer billig sind, kann man davon ausgehen, dass es Kopien sind. Und die Musik wird immer in höchster Lautstärke gespielt und ergibt seltsame Kakophonien.
Die Essens- und Getränkeverkäufe beginnen gleich um sechs Uhr früh an Bushaltestellen, wo Männer und Frauen Kaffee pur, mit Milch oder mit Milch und Zucker aus großen chinesischen Thermokannen in winzigen oder großen Plastikbechern für 20 bis 50 Cent anbieten. Die leeren Becher werden auf die Straße geworfen. Später kommen Bierbüchsen, Cola- oder Limonadeflaschen und die Hunderttausende Papiere, Tüten, Becher hinzu, in denen das Essen verpackt wird. Gut für die Hygiene, schlecht für die Umwelt.
Auf Hygiene wir sowohl auf der Straße als auch in Geschäften scharf geachtet. Das geht so weit, dass in den Supermärkten selbst das Gemüse von den Angestellten mit Handschuhen aufgehäuft wird. Aus Hygienegründen werden auch keine Fliegen geduldet. Erst nach ein paar Tagen, als ich im Hotel die erste Fliege entdeckte, wunderte ich mich. Wieso gibt es nicht mehr Fliegen bei all dem Mist auf den Straßen und Plätzen? Fliegen treiben die Menschen zur Hysterie. Hingegen können hunderte Wespen und Bienen um die Leckerbissen in den Konditoreien schwirren, ohne dass es die Leute kümmert. Die Leute wissen, dass sie Fliegen und anderes Ungeziefer beseitigen und gönnen ihnen dafür auch ein bisschen Süßigkeiten.

Erster Eindruck in Caracas
Zu meiner großen Verwunderung ist die Fettsucht ein mindestens ebenso großes Problem wie bei uns.
Schuld daran haben zum Teil das gute Essen und teils die schlechten Trinkgewohnheiten. Die beliebtesten Gerichte sind arepas und empanadas, die man überall an den Straßen und in tausenden Straßenküchen kaufen kann, wo es oft sogar Sitzplätze gibt. Beide Varianten werden aus Maismehl hergestellt. Arepas sind fertige Küchlein, die geöffnet werden und mit Hack, Hühnchen, Gemüse oder Käse vollgestopft werden. Und empanadas sind ein Maisteig, der zu Taschen geformt wird und dann mit etwa den gleichen Ingredienzen gefüllt wird und danach fritiert wird. Obendrauf werden reichlich die verschiedensten Soßen gekippt. Sicher schmeckt es. Und als Getränke sind Coca Cola und Limonaden (die ebenfalls von Coca Cola hergestellt werden) die großen Favoriten. Und diese Kombination ist natürlich weder gut für die Linie noch für die Gesundheit. Hingegen ist das Essen in Restaurants keineswegs fett und schmeckt ebenfalls sehr gut. Und dort hat man eine große Auswahl an phantastischen, frisch gepressten Natursäften: Mango, Ananas, Apfelsine, Tamarinde, Zuckerrohr, Melone, Passionsfrucht usw. Die kann man auch auf der Straße kaufen und kosten etwa 40 Cent. Hier wären die unbezahlbar!
Das Gedränge auf den Straßen, in der U-Bahn und in Bussen ist – ja, wie soll ich sagen – zivilisiert. D. h. man wird fast nie gestoßen und an Zügen und Bussen stehen die Menschen in der Schlange und schlagen sich nicht um die Plätze. Es geht niemals so brutal zu wie in der Pariser Metro oder in afrikanischen Bussen. Auf Busreisen gilt im übrigen, dass jede Person einen Sitzplatz haben muss.
  Statyernas land    Große Volksmassen versammeln sich auch regelmäßig auf allen Bolívar-Plätzen, die es noch in dem kleinsten Dorf gibt. Die Plätze sind immer sehr schön, sehr gepflegt und sauber, da Simon Bolívar gleich nach seinem Tod beinahe zum Heiligen wurde. Und durch Chávez wurde er zum Held und Symbol der Freiheit erklärt, was er auch in Wirklichkeit gewesen ist. Und zum ersten Mal in der Geschichte versucht man, nach seinen Worten zu leben und Freiheit für alle Menschen und alle die verschiedenen Völker des Landes zu schaffen. Auf diesen Plätzen versammeln sich vor allem gegen Abend wahre Menschenmassen, Alte und Junge und Kinder, um sich unter den riesigen Bäumen und an blühenden Beeten zu erfrischen, um zu reden, Gesängen zuzuhören, Theorien politischer oder religiöser Eiferer zu lauschen, mit den Kindern zu spielen oder den Eichhörnchen oder Iguanen zuzuschauen. Büsten und Statuen von Bolívar sind oft mit Blumen und Kränzen geschmückt. Es herrscht immer eine etwas ruhige und festliche Atmosphäre in den Parks, selbst wenn Kinder Tauben jagen oder Jungens ein bisschen bolzen.
Auf die Plaza Bolívar in Caracas kam jeden Mittwoch und Sonntag Abend ein richtiger Troubadur, der bessere Tage gesehen hatte. In den 70-er Jahren hatte er in Ost-Berlin den dritten Platz bei einem großen Musikwettbewerb gewonnen. Jetzt war er schon recht alt und hatte eine Reihe Vorderzähne verloren, sah aber immer noch gut aus und war sehr charmant. Er hatte ein großes Repertoire von Liedern und Balladen verschiedenster Art, die er mit schöner Stimme vortrug und auf der Guitarre begleitete. Es waren Volkslieder und politische Lieder, Lieder von Parra, Sosa und anderen. Immer hörten viele zu und applaudierten. Er bekam eine Kleinigkeit selbst von Leuten, denen es offensichtlich selbst nicht besonders gut ging.
Im übrigen ist Venezuela das Land der Büsten und Statuen. Ich habe niemals so viele gesehen, nicht einmal in Spanien. Nicht nur Bolívar wird gehuldigt, sondern auch seinen Mitkämpfern Sucre, Paéz, Brion usw., seinem Lehrer Rodriguez,seinem Freund Alexander v. Humboldt; ich fand sogar eine Statue von Charlie Chaplin und Ibn Chaldun, dem großen maghrebinisch-arabischen Historiker, Verfasser der ersten Weltgeschichte. Welches europäische Land würde auf die Idee kommen, einem großen Araber ein Denkmal zu setzen?
Als ich durch Caracas wanderte, dachte ich oft an Humboldt, der vor über 200 Jahren über die Stadt schrieb:
Wir bleiben, geliebter Bruder, ein paar Monate in Caracas. Wir sind hier in dem göttlichsten und reichsten Lande. Wunderbare Pflanzen, Zitterale, Tiger, Gürteltiere, Affen, Papageien und viele wirkliche, halbwilde Indios, eine schöne, interessante Rasse. Caracas hat auf Grund der nahe liegenden Schneeberge das kühlste und gesündeste Klima in Amerika …

Heute sind wir nicht mehr so verblüfft wie er über die Flora und Fauna, da wir viele der schönen Blumen, auch Orchideen im Blumengeschäft um die Ecke kaufen können. Und Papageien im Zoogeschäft. Aber sicher kann man immer noch staunen, z. B. über die gewaltigen Bäume mit großen roten, gelben, violetten, weißen Blüten, die Caoba- oder Mahagonibäume, andere wieder mit großen Dornen oder Dornenbüscheln entlang des ganzen Stammes, 30 m hohe Bambushaine und all die bunten Vögel, die wir nicht kennen. Dasselbe Gefühl hatte ich in Afrika – wie ein Kind, das ständig Mama fragen will: Was ist das? Wie heisst das?
Aber eine Mama gibt es seit langem nicht mehr.

Der Schuss in den Fuß
Im Gewimmel der Straßen in Caracas bemerkt man schnell die zahllosen Kinder und Jugendlichen mit hellblauen Hemden oder Blusen und dunkelblauen Hosen oder Röcken. Alle auf dem Weg von oder zur Schule oder Instituten. Die Regierung setzt stark auf Ausbildung und ist sich sehr wohl bewusst, dass beinahe die Hälfte der Bevölkerung 19 Jahre oder jünger ist. Diese Politik bekam einen extra Kick, als Venezuela als „vom Analphabetismus befreit“ erklärt wurde (Beschluss der UNESCO). Ich erinnere mich meines ersten Frankreich- Besuchs in den 50-er Jahren und mein Erschrecken über alle die Schuluniformen, die ebenfalls blau waren. Ich versöhnte mich einigermaßen mit den hässlichen Uniformen, als ich erfuhr, dass es im Namen der Gleichheit geschah. Hier kleiden die Uniformen allerdings die Mädchen und Jungen sehr gut, so dass ich den Verdacht habe, man habe einen französischen Couturier angeheuert.
Das Gedränge auf den Straßen, Avenuen und Autobahnen ist, wie gesagt, chaotisch. Alle fahren, wie es ihnen passt. Trotzdem sah ich nicht ein einziges, noch so kleines Unglück. Man nimmt praktisch Rücksicht und die Hupe wird selten benutzt. Wie oft sah ich nicht einen Bus mitten auf der Straße halten, weil der Chauffeur eine empanada oder Limonade kaufen musste oder jemand aussteigen wollte. Dafür hat man Verständnis. Und sie weichen sogar Hunden aus. In kleineren Orten können die mitten auf der Straße liegen und alle Autos fahren um sie herum. In Paragua sah ich, wie ein Auto ziemlich dicht an einem Hund vorbeifuhr, ihn vielleicht sogar berührte. Jedenfalls wurde der Hund so wütend und jagte das Teufelsauto bis hinunter zum Hafen und bellte den Chauffeur wie verrückt an.
Im übrigen las ich in einem ziemlich neuen Reisehandbuch (2004), dass die Venezolaner wie besessen rauchten. Wenn das stimmt, dann ist es ihnen innerhalb von zwei Jahren gelungen, die Leute dazu zu bringen, mit dem Rauchen aufzuhören. In Restaurants, Cafés, Bussen, U-Bahn, Flugplätzen und sogar in dem riesigen Nationalpark El Ávila oberhalb von Caracas ist das Rauchen streng verboten. Zigarettenreklame habe ich nirgends gesehen. Da ich wusste, dass im Land Tabak angebaut wird, nahm ich keine Zigarillos mit. Das habe ich sehr bereut, weil sie dort doppelt so teuer und schwer zu bekommen sind.
Da ich die Angewohnheit habe, nicht vor dem Frühstück zu rauchen und außerdem immer sehr früh aufstehe, war es selbst in Großstädten ein Problem, wenigstens eine Tasse Kaffee zu bekommen. Aber ich liebe die Morgenstunden in Großstädten, wenn das Leben sachte erwacht, der Nachtnebel steigt, die Vögel zu zwitschern beginnen und die Menschen, teils munter, teils verschlafen an den Busstationen und U-Bahn- Stationen zusammenströmen. In Caracas tauchten die ersten Kaffeeverkäufer frühestens um 5.30 auf und um 6.00 kamen die ersten Zeitungsverkäufer zu ihren festen Verkaufsplätzen, wo die Lieferwagen schon die großen Zeitungsballen hingeworfen hatten, um sie auszupacken und wie in Frankreich und Spanien auf dem Gehweg auszubreiten. Dann drängen sich allmählich die Leute um sie, nehmen sich ihre Zeitung, werfen ein paar Münzen auf einen Haufen oder halten Scheine hin und warten auf das Wechselgeld.
Erst am sechsten Tag bekam ich die einzige Regierungszeitung VEA zu fassen. Ultimas Noticias, El Naconal, La Voz, die ich zuerst gekauft hatte, gefielen mir nicht. Die unterschieden sich kaum von unsereren Blättern des Mainstream. Dass ich die VEA erst so spät entdeckte, liegt daran, dass viele Kioske die Zeitung boykottieren und sie oft erst spät geliefert wird. In Paragua, dem sehr großen Dorf bzw. Kleinstadt, weit unten im Süden, war sie nirgends zu erhalten. Als ich einen Typ in einem Geschäft fragte, sagte er, dass man sie nicht bekam. Das war natürlich eine faustdicke Lüge!
Es ergab sich, dass ich Zeuge wurde von mehreren großen Skandalen in schneller Folge. Am 2. April wurde der ermordete Unternehmer Filippo Sindoni gefunden, der ein paar Wochen zuvor gekidnapt worden war. Nur zwei Tage später fand man die drei Söhne des Unternehmers Faddoul und deren Chauffeur ermordet, nachdem sie eine längere Zeit als Geiseln gehalten worden waren. Und am folgenden Tag wurde der bekannte Pressefotograf Aguirre ermordet.
Da sah die Oligarchie natürlich ihre Chance. Deren Schmierblätter erschienen mit JUSTITIA (Gerechtigkeit!) in Riesenbuchstaben auf der ersten Seite. Auch am 4. April, als die Faddoul-Kinder gefunden wurden, organisierte die Reaktion eine Demonstration mitten in Caracas, dort, wo die 8-spurige Autobahn und die Hauptschlagader an den feinen Vierteln vorbei-kommen. Ein paar hundert Personen legten sich mitten auf die Straße. Und die Polizei ließ sie machen. Man wagt gar nicht dauszudenken, was geschähe, wenn regierungsfeindliche Demonstranten sich in Deutschland so aufführten.

Über Nacht tauchten überall Anschläge auf mit LUTO ACTIVO! (Aktive Trauer!), auf Laternenpfähle, Bäume, Mauern, auf Autos und Taxis außen oder innen geklebt, selbst in den Dörfern rund um Caracas. Mit dem Ruf nach Gerechtigkeit hatte man also insinuiert, dass die Regierung die Verantwortung für die Schandtat habe oder zumindest Teil daran habe. Und mit Aktiver Trauer! meinte man nichts anderes als Sabotage.
Daraus wurde nichts. Schnell hatte man die Mörder ergriffen. Im Fall Sindoni waren es mehrere portugiesische Geschäftsleute in Zusammenarbeit mit korrupten Polizisten. Vielleicht hatte Sindoni – Freund von Hugo Chávez – ihnen irgendwelche dunklen Geschäfte vermasselt. Im Fall Faddoul waren es bewaffnete Mitglieder der kolumbianischen Todesschwadronen, die nach Venezuela eindringen, um neue Arbeitsaufgaben zu suchen. Die Motive sind noch nicht klar. Nicht einmal Lösegeld wurde verlangt.
Und nun saßen die Kapitalisten da mit dem Fazit in Händen: ihre eigenen Leute hatten in Maskopie mit Mafiosis gekidnapt, erpresst und gemordet. Und für diese Typen hatten sie sich engagiert - und sich wieder einmal selbst entlarvt. Die „Massendemonstrationen“ sind eine klägliche Veranstaltung mit ein paar hundert Leuten geworden, wo man doch ein paar Hunderttausend erwartet hatte. Ein Schuss in den eigenen Fuß sozusagen.
Ebenso übel ging es ein oder zwei Wochen später zu, als ein hoher Priester in einem Hotel mitten in der Stadt ermordet aufgefunden wurde. Mein erster Gedanke war: Was hatte der Satan dort mitten in der Nacht in einem Viertel zu suchen, das nicht gerade übel beleumdet war, aber naja. Mitten ins Schwarze. Es kam heraus, dass er unter Drogen stand und sein Arsch übel zugerichtet war. Der Mörder wurde auch schnell gefunden, aber kein Motiv. Mit dem lahmen Versuch, aus der Angelegenheit einen Vorteil zu ziehen, hatte die Reaktion auch kein Glück.
Von Seite der Regierung wurden ein paar schnelle Schachzüge gemacht. Als erstes wird der gesamte Polizeiapparat reorganisiert und gründlich durchleuchtet. Zweitens wurde eine Maßnahme ergriffen, die vielleicht einmalig in der ganzen Welt ist: Alle Polizisten und Militärs, die in der Öffentlichkeit auftreten, müssen ein Schildchen tragen, auf dem deutlich ihr Name, ihre Einheit und ihre Stationierung zu erkennen ist. Dies sind die Dinge, die Chávez vor allem auszeichnen: er handelt schnell, effektiv und mit einem Gefühl für das Richtige.
Aber er kann auch warten und sehr vorsichtig zu Wege gehen. Als die Beziehungen zur Kirche sehr angespannt wurden, nachdem Dupuy, der päpstliche Nuntius, und mehrere Bischöfe sich tief in den Staatsstreich 2002 verwickelt hatten. Ich glaube, dass Chávez in diesem Fall Hilfe vom neuen Papst erhalten hat. Denn der setzte als neuen Kardinal und Kirchenfürsten nicht einen der ultrareaktionären Bischöfe ein, sondern Jorge Urosa Savino, ein gewiss konservativer, doch vernünftigr Mann, der auf Zusammenarbeit mit Chávez setzt und der ein gewisses Verständnis für dessen Politik zeigt. Er ist „intelligent und schlau (und) zieht es vor, eine Politik in Übereinstimmung mit den Umständen zu führen und sich mit Geschick und Takt zu bewegen“, wie Marciano schreibt, VEAs glänzender Kommentator (2006-04-21). Und allmählich glückte es Chávez, dem gläubigen Katholiken, mehrere wichtige Figuren aus der katholischen Hierarchie auf seine Seite zu ziehen.
Der nächste Skandal war eine ernste Provokation des amerikanischen Botschafters Brownsfield, der sich auf ein Sportzentrum begab, ohne die venezolanischen Behörden zu unterrichten und ohne sich anzumelden, sondern er fing einfach an, Jugendliche zu agitieren und kleine Geschenke zu verteilen. Am Ende wurde er davongejagt, und er bekam wohl auch ein paar Bälle ab oder Tomaten. Natürlich empörten sich die Yankees und redeten von einem ernsten Zwischenfall. Chávez konterte und warnte den Botschafter, dass er seine Koffer packen könne, wenn er sich nicht den diplomatischen Gepflogenheiten entsprechend verhielte.
Kurz bevor ich abreiste, ereignete sich ein wirklich ernster Zwischenfall – und mehr als das. Ohne Vorwarnung, wie es üblich ist, begannen die Amerikaner ein großes Manöver der Kriegsmarine vor der venezolanischen Küste mit Flugzeugträgern und allem durchzuführen. Über die Absicht damit schrieb die VEA (2006-04-25) unter dem Titel 'La intimidación como arma' (Die Einschüchterung als Waffe): „Einschüchterung ist in der Politik oft als Waffe eingesetzt worden … Die Nazis stellten im 1. Weltkrieg die Kommunisten als Verursacher der Hungersnot und allem sonstigen Elend dar, womit man Stimmung schuf für die Invasion ausländischer Mächte in Russland, um die sozialistische Revolution Lenins und die Bolschewiken auszuschalten. Gleichzeitig trieb diese Einschüchterungspropaganda die deutsche Mittelklasse in die Arme der Nazis, um sich vor den Bolschewiken zu retten.
Vor der Pråsidentenwahl im Herbst zielt die Einschüchterungspolitik der Bush-Regierung darauf ab, eine Wiederwahl von Chávez mit den Schrecken eines Krieges mit den USA, einer Invasion venozolanischen Territoriums durch amerikanische Truppen und einer aufgezwungenen blutigen Militätdiktatur in Verbindung zu bringen.
Aber niemand soll sich von dieser apokalyptischen Vision in die Irre führen lassen. Die Bush-Regierung ist nicht in der Lage, noch einen Krieg zu führen. Die sitzt im Sumpf in Irak ohne Aussicht auf einen Sieg und kann sich nicht auf andere internationale Abenteuer einlassen (Iran, Syrien, Korea) ohne Unterstützung des Volkes im eigenen Land; deren Einschüchterungspolitik ist nichts anderes als Arroganz, die niemals Venezuelas Volk, seine revolutionäre Regierung und Streitkräfte einschüchtern kann.“
Als Gegenmaßnahme führte die venezolanische Armee zusammen mit der Miliz eine große militärische Übung zur Verteidigung der Küste durch. Die Miliz umfasst bereits mehr als eine Million freiwillige Männer und Frauen, die sich der amerikanischen militärischen und ökonomischen Verheerungen in der Welt und seit 200 Jahren in Lateinamerika sehr wohl bewusst sind. Außerdem hat Chávez die USA gewarnt, dass alle Erdölanlagen bei einer Invasion gesprengt werden.
Südwärts
Es kam die Osterwoche, Semana Santa, die heilige Woche, wie man auf spanisch sagt. Da fuhr ich nach Süden, um dem größten Trubel in Caracas zu entgehen. Zuerst mit einem drei Wochen alten Volvo Doppeldeckerbus – wie ich ihn in Schweden noch nicht gesehen hatte – 600 km nach Ciudad Bolívar am Orinoco-Fluss. Dank der Klimaanlage im Bus bekam ich eine fürchterliche Erkältung, die mich für beinahe 2 Tage lähmte. Als ich Ciudad Bolívar ankam, war alles bereits voll, aber durch reines Glück erhielt ich ein Zimmer in einer sehr schönen posada im alten Stadtteil, die zum Weltkulturerbe erklärt worden ist.
Am ersten Tag schleppte ich mich zum Platz Bolívar, um wenigsten einen Blick auf das große Haus werfen zu können, wo Bolívar 1819 mitten im Krieg Venezuelas Unabhängigkeit erklärte. Dann ging ich zu der schönen Promenade Orinoco, eine breite Allee längs des Orinoco, der gerade seinen niedrigsten Wasserstand erreicht hatte. In der Regenzeit steigt er um 15 m. Die Kolonialhäuser mit ihren Arkaden waren meist im Besitz von großen Kaufleuten, die alle die Waren in Empfang nahmen, die aus Europa per Schiff eingeführt wurden. In einem dieser Häuser befindet sich heute ein Museum mit der kleinen Druckerpresse, auf der die erste Zeitung Venezuelas 1818 gedruckt wurde. Auch gibt es dort ein paar schöne Skulpturen und Gemälde zu sehen.
Nach zwei Tagen war ich einigermaßen wiederhergestellt, um einen Bus (ohne Klimaanlage) nach Paragua nehmen zu können, 200 km weiter südlich an einem von Orinocos vielen Nebenflüssen, der ebenfalls Paragua heisst. Auf dem Weg dorthin konnte ich zumindest einen Schimmer von den Tepuis – den gewaltigen, bis zu 3000 m hohen Tafelbergen - in der Ferne erhaschen. Sie gehören zu den ältesten Bergen der Erde – es gab sie bereits auf dem ersten und einzigen Kontinent Gondwana. In Jahrmillionen sind die Berge in unterschiedliche Teile zerrissen worden, die im Süden Venezuelas landeten. Dort liegen sie mitten im Dschungel und erheben sich senkrecht aus der Ebene. Und dort oben – die Plateaus sind meistens in Wolken gehüllt – gibt es, abgetrennt von der übrigen Welt ein Leben an Flora und Fauna, das häufig endemisch ist, d. h. es gibt sie nur dort und nirgend anderswo. Dort gibt es auch den höchsten Wasserfall der Welt – fast 1000 m hoch.
Paragua liegt mitten in einem großen Anbaugebiet von Mais mit riesigen Weideflächen für Rinder, und dort erlebte ich auch einen der ersten zeitigen Wolkenbrüche der Säson. Man glaubt, da oben öffnet ein Kerl ein paar Schleusen, so dass die Wassermassen auf einmal herunterklatschen. Obwohl der Wolkenbruch nicht zu den schlimmsten gehörte, verursachte er doch recht große Überschwemmungen.
Paragua, der ca. 600 m breite Fluss ist reich an Fisch, Gold und Diamanten. Unten am Hafen liegen eine ganze Reihe von Baggerschiffen, die Gold und Diamanten fördern. Den Fisch fangen Männer mit ihren schnellen von Yamahamotoren getriebenen Pirogen (so nennen die Leute selbst ihre Boote und das Wort stammt auch aus der Karibik. Allerdings wird gemeinhin heute unter Piroge ein Einbaum verstanden, dessen Seiten durch Bretter erhöht werden, was die Indios nicht machen. Der Oberbegriff ist Kanu.). Und was für Fische! Ich aß jeden Tag einen anderen Fisch in den kleinen Restaurants am Hafen, ohne sagen zu können, welcher am besten war.
100 km weiter flussabwärts mündet der Fluss in das zwweitgrößte Wassermagazin der Welt – ein riesiger See vom 4250 km². Achtmal so groß wie der Bodensee. Flussaufwärts gibt es nur noch kleine Dörfer der Indios, die oft herunter nach Paragua zum Einkauf kommen. Scheu, schön und liebenswert erledigen sie ihre Angelegenheiten.
Als ich eines Morgens im Fluss badete, als das Wasser noch etwas erfrischend war, traf ich ein paar Burschen, die gerade mit einem großen Kübel voll Fisch zurückkamen. Da gab es einen großen, der einem Hecht ähnelte, und eine Menge kleinere, die Barschen ähnelten. Der Fisch wurde geputzt, ein riesiger Topf herbeigeschafft, ein kleiner Junge zündete ein Feuer an und natürlich wurde ich eingeladen. Aber da es schon Mittagszeit war, ging ich zu einem Restaurant, versprach aber, am Nachmitttag wiederzukommen.
Und das tat ich auch. Es war der Abend vor Ostern und die Jungs, deren Kinder und ein Großvater hatten gut gegessen und waren in Feststimmung. Eine gewaltige Gefriertasche stand in der Mitte und alle, außer den Babies, hatte seine Bierebüchse in der Hand. So bald sie leer war, griff man nach der nächsten. Auf der anderen Seite des Flusses hatten hunderte von Menschen ihre Zelte oder einfach Plastikplanen gegen die Sonne aufgeschlagen, es gab eine Band und es wurde getanzt. Auf einem Hügel ein Stück entfernt lag ein großes Militärlager, und deshalb gab es auch eine Fähre, die sogar Autos transportieren konnte. Sie lief an einem Stahlseil entlang und wurde von einer Piroge mit Yamahamotor geschoben.

Wir saßen und tranken und machten Scherze, als plötzlich ein Schrei 50 m entfernt zu hören war: Das Mädchen! Wo ist das Mädchen! Alle rannten dorthin. Ein älterer Mann, bei dem die Jungs zu Besuch waren, schwamm bereits im Fluss. Eine Frau schrie: Nein, nicht dort! Dort! Und zeigte auf eine Stelle weiter weg. Er tauchte und fand nichts. Das Wasser war trübe von dem vielen Regen und er konnte nur den Boden abtasten. Er schwamm zurück zu der Stelle, wo er zuerst gewesen war. Und kam hoch mit dem Mädchen. Die Mutter schrie auf. Ein junger Mann packte das Kind und rannte 100 m bis zur Straße und dem Auto und die Mama hinterher.
Wir saßen noch eine Weile und diskutierten und fuhren dann mit zwei Pirogen auf die andere Seite. Meine Kumpel kannten den Sänger der Band und stellten mich vor: Ein Freund aus Schweden! Und alle applaudierten. Dann spielten sie. Meine Freunde forderten ein junges Mädchen auf, das bereits tanzte, mit mir zu tanzen und das tat sie auch. Wir tanzten etwas frech zum Vergnügen aller. Der zweite Tanz war zu Ende und ich auch. Da trat ein Soldat ans Mikrofon und sagte, dass er vom Krankenhaus die Nachricht erhalten habe, dass man das Mädchen wiederbeleben konnte. Jubel brach aus und alle klatschten in die Hände und man hob die Gläser, d. h. die Bierbüchsen. Nach einer Viertel Stunde begann erneut die Musik. Da kam ein Offizier und teilte mit, dass das Mädchen leider gestorben sei. Und er schlug vor, das Fest aus Solidarität mit der Familie zu beenden. Das wurde einstimmig angenommen und innerhalb einer halben Stunde war alles zusammengepackt und dutzende kleine und große Pirogen jagten zurück nach Paragua. Ein trauriges Ende zum Auftakt für Ostern. Und ich war erstaunt, mit welcher Selbstverständlichkeit hier Solidarität geübt wurde – sogar von den Soldaten.
Das Endergebnis der Osterfeiertage war, das von 27 Millionen Venezolanern 14 Millionen ein paar Tage Ferien gemacht hatten. Alle Hotels waren ausgebucht, hunderte Extrabusse waren eingesetzt worden. Und erfreulicherweise hatte es nur sehr wenig Verkehrsunfälle gegeben.
Nur Tage vor dem großen Trubel hatten die Oppositionszeitungen mit Großbuchstaben berichtet: DAS VOLK HUNGERT. Lachhaft. Ich wunderte mich oft, wie viel Essen die Leute auf ihren Tellern an Essständen und in Restaurants zurückließen, und wieviel Essen im Müll landete, selbst in einfachen Vierteln. Ich habe keine Bettler gesehen oder getroffen und die zwei Obdachlosen in einer Nische neben dem Hotel – jung, gesund und immer guter Laune – hatten oft große Esstöpfe vor sich stehen. Ich glaube, sie waren auf die Essensreste der Restaurants rundherum abonniert.
Aber meine Beobachtungen bedeuten nicht, dass das Problem der Armut gelöst sei. Weit entfernt. In der VEA vom 21. April 2006 wurden die Entbehrungen der Obdachlosen auf einer ganzen Seite behandelt. „Arme und Drogenabhängige sind eine andere Seite der Armut, die heute beinahe die Hälfte der Bevölkerung betrifft“, hieß es. Gewiss ist die Armut seit 2003 von 80% (andere Quellen sprechen von 60%) auf weniger als 37% gesunken (Lippmann am 7. Juli 2006), aber für die übrigen Obdachlosen ist das ein geringer Trost. Die Casa-Hogar El Conde ist eine von vier Einrichtungen, die Obdachlose aufnehmen. Dort befinden sich jetzt 80 Personen, die Essen, ein Bett und Behandlung ihrer Krankheiten erhalten. Wer kann, hilft in der Küche, im Garten oder beim Putzen mit.
Eine andere Organisation ist die Misión Negra Hipólita, die im Januar 2005 gegründet wurde und in diesem Jahr spezielle Unterstützung durch den Präsidenten erfuhr. Allein in Caracas hat sie bereits vier Stellen, wo man Obdachlose aufnimmt und ihnen auf verschiedenste Weise behilflich ist. Das Hauptziel ist, diese Leute wieder in die Gesellschaft zu integrieren.
Am 26.4.2006 schrieb die VEA über eine Werkstatt, die von mehreren Organisationen in Zusammenarbeit mit dem Ministerium für die Mitarbeit des Volkes und soziale Entwicklung gegründet wurde, um „Educadores de Calle“ - auf neudeutsch streetworker oder Straßenerzieher oder Informatoren auszubilden, als Stütze und Hilfe für Obdachlose, um dafür zu sorgen, dass sie wieder in die Gesellschaft integriert werden.
Im übrigen habe ich selbst sowohl in Caracas als auch in Mérida zwei Restaurants für Leute gesehen, denen es schlecht geht. Ordentlich, sauber und luftig. Keine Suppenküchen im Keller. Und in den Schulen erhalten alle Kinder dreimal Essen täglich.
Mercál-Gechäfte, die an die alte kooperative Konsum-Idee anknüpfen, wo man bis zu 50% billiger als in normalen Geschäften einkaufen kann, habe ich eine ganze Menge in armen Vierteln, im Dorf Tabay westlich von Mérida und in Mérida selbst sogar zwei gesehen. Allerdings war der eine Laden geschlossen und als ich im anderen fragte Warum, da konnte man nicht darauf antworten. In vielen Artikeln bekommt man die Vorstellung, dass dort alles 50% billiger sei. Das stimmt nicht. Markenwaren gibt es nur billiger, da sie in großen Mengen eingekauft werden.
Die Misión Mercál ist keine isolierte Erscheinung, sondern hängt mit den anderen misiones zusammen, vor allem mit der Misión Zamora, der großen Landverteilung. Beinahe 2 Millionen Hektar Land sind an 1,5 Millionen Familien verteilt worden. Das Ziel ist nicht nur, die Armut zurückzudrängen und für viele Leute ein anständiges Leben zu schaffen, sondern auch die Erhöhung der einheimischen Produktion an Nahrungsmitteln. Dadurch soll die Abhängigkeit von Importen verringert werden, die Qualität erhöht werden und sollen Milliarden Dollar eingespart werden. Mercál bietet nicht nur den neuen Produzenten sondern auch den vielen Kooperativen, die im Zusammenhang mit der Misión Zamora entstanden sind, sichere und gerechte Aufkaufspreise.
All dies hört sich ziemlich einfach an, aber so ist es leider nicht. Jede einzelne Verbesserung, jedes neue Gesetz, jede Misión muss gegen reaktionäre Politiker durchgesetzt werden (viele Dörfer, Städte und selbst einige Teilstaaten befinden sich immer noch in der Hand der Opposition), gegen Bürokraten und nicht zuletzt gegen korrupte Elemente in Chávez' eigener Partei, die obstruieren, sabotieren und unterschlagen. D. h. genau die gleichen Elemente, mit denen sich bereits Lenin, Mao und andere Revolutionäre herumschlagen mussten. Und dann wird jedes Misslingen, jeder Fehler und jede Verzögerung zu einem Knüppel im Arsenal der Reaktion, um höhnisch auf das Unvermögen der Regierung zu verweisen.
Die Presse in und über Venezuela
Am 2. Juli 2006 lese ich im Expressen (größte rechte Tageszeitung in Schweden) folgendes: „Was Chávez, Argentiniens Kirchner und Boliviens Morales vereint, ist der Populismus und Nationalismus, mehr als die notwendigen sozialen Reformen, derer die ärmsten Bewohner so dringend bedürfen. Besonders im Fall Chávez ist auch der mangelnde Respekt für Demokratie und Meinungsfreiheit ein Eckpfeiler seines politischen Handelns.“
Worauf gründet dieser Demokratieombudsman vom Expressen seine Meinung? Dass es nicht reicht, wenn die Reaktion nur 90% aller Zeitungen besitzt, nur 90% aller Radio- und Fernsehstationen kontrolliert, nur 258 Bücher mit Hetze gegen Chávez herausgeben konnte, während ganze 3 (DREI) pro-Chávez-Bücher erschienen sind? Ist er in Venezuela gewesen? Spricht er nur ein Wort spanisch? Hat er gelesen und gesehen, was die Oligarchie täglich ausspuckt? Dass 95 % ihrer Anklagen und Anzeigen auf Lügen beruhen und jeder Grundlage entbehren, das spielt gar keine Rolle. Und seit wann sind die armen Leute der Expressen ans Herz gewachsen? Pfui Teufel!
Was solche Typen wie ihn (oder sie – der Artikel ist nicht signiert – auch typisch) zur Weißglut bringt, ist nur, dass Chávez gegenhielt, als er von dem Weißen Haus und seinem ausgewählten Präsidenten beleidigt wurde. Dass er nicht gehorsam seine Petrodollar den USA überlässt, wie es die Araber tun. Dass er – das Schlimmste von allem – die ALCA (Asociación Latinoamericano de Libre Comercio – Freihandelsabkommen mit den USA) versenkt hat, das Freihandelsflaggschiff der USA, und stattdessen ALBA (Alternativa Bolivariana para las Americas – Bolivarische Alternative für Amerika – eine demokratisch aufgebaute Handelsorganisation zwischen lateinamerikanischen Staaten. Außerdem hat alba auf spanisch die Bedeutung 'Morgenröte'.) zielstrebig aufbaut.
Dass er Telesur aufbaut – ein Gegengewicht zum westlichen Medienlügenmonopol. So etwas tut man einfach nicht, wenn man Mitglied im feinen, westlichen Demokratieklub sein will.
Nach diesem einen Beispiel von CIA-inspirierter Lügenpropaganda reicht es mir. Man könnte stundenlang weitermachen, jede einzelne Zeitung, Zeitschrift, Radio- oder Fernsehstation aufzulisten und sich mit deren Lügen herumschlagen und man würde dennoch nie fertig werden. Als Faustregel kann man sagen, dass derjenige, der von der Westpresse gelobt wird, ein Stinkstiefel ist und andersherum. Wen es interessiert, der kann bei MediaLens hier hineinschauen http://medialens.org/index.php?option=com_content&view=section&layout=blog&id=1&Itemid=8 , wo die britischen Medien regelmäßig auf ihren Wahrheitsgehalt untersucht werden, und die auch ausgezeichnete Analysen über die Hetze gegen Chávez haben.
Ich will nur ein kleines Beispiel von den Ansichten geben, die Venezolaner über diese Vorwürfe haben. Zum Beispiel, dass Chávez autoritär sei. In der VEA vom 19.04.06 lesen wir: „Chávez hat weder mehr oder weniger sondern genau dieselbe Autorität, wie sie Rómulo Betancourt und Rafael Caldera zu ihrer Zeit hatten. Trotzdem haben die aktuellen Kritiker sie vorbehaltlos unterstützt. Was ist der Unterschied? Der Unterschied ist, dass Betancourt und Caldera die staatliche Autorität anwandten, um das ungerechte und ungleiche System zu verteidigen, das auf der Herrschaft der Reichen und der Großgrundbesitzer und den Bedingungen der USA basiert, während Chávez die Autorität benutzt, um einen revolutionären Prozess zu befördern mit der Perspektive, die Herrschaft der alten sozialen Klassen zu vernichten.“
Oder Chávez selbst im Interview mit Greg Petras zum Vorwurf, er sei „undemokratisch“:
Ich lade alle Bürger der ganzen Welt ein zu kommen und frei durch alle Straßen Venezuelas zu laufen, zu reden mit wem man will, Fernsehen zu schauen, Zeitungen zu lesen. Wir bauen eine wirkliche Demokratie auf mit Menschenrechten für alle, mit sozialen Rechten, Ausbildung, Gesundheitsfürsorge, sozialer Sicherheit und Arbeit.“ (The Progressive, Juli 06)
Und genau so habe ich auch Venezuela erlebt.
Ich kann ehrlich sagen, dass ich noch nie in einem Land gewesen bin, wo eine solche Freiheit herrscht wie in Venezuela - wo man Freiheit atmen, geradezu spüren kann.
Zum Schluss noch eine Auffassung über ALCA von Osvaldo Martínez in Patria Grande vom Mai 2005: „ALCA ist nicht ein einfaches Freihandelsabkommen, das man unterschreiben kann oder auch nicht, sondern Ausdruck von höchster Bedeutung für ein Projekt kontinentaler Herrschaft, ein Plan für die systematische Ausplünderung, ein Konzept für die sozio-ökonomische Entwicklung, das die Souveränität und die Funktionen des Nationalstaates beeinflusst.
ALCA ist der Name, unter dem dieses Projekt in gewissen Zusammenhängen auftritt, aber sein wesentlicher Inhalt nimmt verschiedene Formen und Methoden an, um sich gewaltsam durchzusetzen. Deshalb ist man gezwungen zu einem vielfältigen und umfassenden Kampf, um zu verhindern, dass, auch wenn ALCA von der Bühne verschwindet, sich dieses imperialistische Projekt nicht trotzdem in der Wirklichkeit mit anderem Gesicht und unter anderem Namen aufzwingt.“
Gewiss haben die Völker in Lateinamerika eine ganze Menge über die Schliche und Finten des Imperialismus gelernt. Ich war überrascht von dem großen Raum im Regierungsblatt VEA, der dem Internationalismus (von wegen Nationalismus!) gewidmet wurde, aber auch in den Reden des Präsidenten und seinen TV-Auftritten. Und das ist es in der Tat – der INTERNATIONALISMUS – der die wirklichen Sozialisten auszeichnet, eine Wahrheit, die von Marx bis Mao betont wurde. Verschwindet er, dann verschwinden auch schnell alle Gedanken an eine wirklich gerechte Gesellschaft, was leider allzu viele Beispiele beweisen.
Aber der Internationalismus zeigt sich nicht nur in Worten, sondern vor allem in der Praxis. Gewiss ist die große Leidenschaft von Chávez Lateinamerika, d. h. von Mexiko bis Argentinien genau wie für Simon Bolívar. Der Kontinent, der als allererster unter dem Ansturm des weißen Kolonialismus zu leiden hatte und wo die allergrößten Völkermorde der Geschichte verübt wurden (allein die Spanier töteten ca. 60 Mill. der Ursprungsbevölkerung!). Der Kontinent der Armut, der Kontinent der unnötig Kranken, der Kontinent des Analphabetismus. Deshalb ist Chávez so viel an ALBA gelegen, am Aufbau eines gemeinsamen Energieprojektes mit Bolivien, Paraguay, Brasilien und liefert Öl zu solidarischen Preisen an die armen karibischen und mittelamerikanischen Länder, die beinahe von den hohen Erdölpreisen erdrosselt werden. Aber die Gedanken von Chávez umfassen auch die Armen in der ganzen Welt, in den USA, in England, wo er bei seinem vergangenen Besuch auf Einladung von Londons Bürgermeister Livingstone ähnliche Hilfsaktionen bekanntgab wie für die Armen in den USA.
Ich hatte die Gelegenheit, das Fernsehprogramm zu sehen, wo Chávez 100 Menschen aus den USA empfing, die gekommen waren, um ihm für das billige Öl im Winter zu danken. Es waren Leute aus den Gebieten Vermont, Maine und Rhode Island, die mit Hilfsprojekten arbeiten, es waren Schwarze und ein Indianerhäuptling und ein Priester war auch dabei. Sie alle waren sichtlich angetan von seiner einfachen und offenen Art, seinen aufrichtigen Worten über Freundschaft mit dem amerikanischen Volk und wie er spontan und ungekünstelt Menschen umarmte, die ihm kleine Geschenke überreichten. Und wie es – auch sichtlich – ihm lästig war, wenn man ihm zum hundertsten Male dankte. Da sagte er: „Ihr braucht mir nicht zu danken. Ihr habt es doch selbst bezahlt.“ Verblüffte Mienen. Und da erklärte er, dass Venezuela ja Raffinerien in den USA besäße, die zuvor niemals Gewinn abwarfen, weil die Oligarchie das Geld in die eigene Tasche steckte, aber jetzt, nach der Reorganisation bereits nach zwei Jahren 73 Millionen $ auf das Pluskonto einbrachte. „Mit diesem Geld ist das Programm bezahlt worden. Gefundenes Geld,“ sagte er zur Freude der Versammlung.
Es heisst, dass er es um der Macht willen tut und um seinen Einflußbereich auszudehnen. Es ist ja ganz klar, dass ein Kapitalist und alle Kapitalist-Presstituierten einfach nicht begreifen können, wie man Geld verschenken kann und außerdem an das Pack. Man lässt gelten, Geld an eine Stiftung um der eigenen Ehre willen zu schenken. Aber an das Pack?

Hier folgt der zweite Teil.

3 Kommentare:

  1. Wunderbarer Bericht, danke, Einar Schlereth!
    Danke für die uebersetzung, Einar!

    Ich setze den Bericht in unsern Blog bumi bahagia (Erde glücklich, glückliche Erde - wie Indonesien - Kenner - Autor natürlich weiss :-)
    http://bumibahagia.com/2014/08/21/elnar-schereth-mit-offenen-augen-durch-venezuela/
    Ist das in Ordnung?

    Ich bin Käseschweizer - Altknacker, der in Bali seit einem Jahr Blog macht.

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    1. Lieber Thomas, habe jetzt erst deine Seite gesehen. Sehr schön. Habe dort einen Kommentar hinterlassen. Ich sehe gerade, dass ich hier keinen link zum 2. Teil der Reportage angegeben habe. Werde ich gleich nachholen. Du kennst dann wahrscheinlich auch meine Indonesienbücher. Und vor über einem Jahr habe ich das Buch von André Vltchek 'Archipelago of Fear' übersetzt, das endlich demnächst im Zambon-Verlag erscheinen soll. Er hat auch ausführlich über Bali geschrieben. ciao

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  2. Sehr schöner Bericht, Predikat: Absolut lesenswert!

    Aber ich habe eine Frage zu der VEA: Warum wird sie teilw. boykottiert? Wie ist sie einzuordnen, sozialistisch, liberal oder konservativ?

    In Deutschland haben wir auch das Problem der CIA-Presse: DIE ZEIT, die FAZ, DER SPIEGEL, die Springer-Medien, ARD, ZDF etc. berichten nicht neutral!
    Und bei den Bilderberg-Meetings, wo die NATO-Agenda verbreitet wird, sind auch immer (angeblich neutrale, objektive) JournalistInnen dabei.

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