Dienstag, 29. November 2011

Rede auf der Indienveranstaltung in Basel und Zürich/Schweiz


Heute Nacht aus der Schweiz und Hamburg zurückgekommen. Selbst in den Intercityzügen Deutschlands gibt es immer noch keine Möglichkeit, sich ins Internet einzuloggen. Folglich konnte ich nur in Internet-Cafés,  wenn ich ein paar Minuten Zeit hatte, ins Netz und meine Mails sortieren. Im Zug nachhause habe ich die Rede mit Hilfe von ein paar Notizen in etwa rekonstruiert.  Es ist also keine Originaltranskription. 
Jan Myrdal und ich waren der Einladung der Organisation Aufbau gefolgt und hatten beide Male ein sehr angenehmes und auch sehr aufmerksames junges Publikum (40 und 60 Leute - was heutzutage schon viel ist), mit interessanten Diskussionen danach. Die Medien waren, wie zu erwarten, abwesend  - selbst ein Weltautor wie Myrdal brachte sie nicht aus ihren eingebetteten, warmen Sesseln auf die Beine. Schließlich haben sie die Murdochpresse und die Mainstreammedien-Presseagenturen, von denen sie erfahren, was Sache ist. Also machen wir weiter.

23. und 24. November 2011
Ich hatte nicht das Glück wie Jan Myrdal, schon mit 14 Jahren Palme Dutt lesen zu können. Aber ich hatte das Glück, einen Großvater zu haben, der mit 12 Jahren seine beiden Eltern verlor und mit 2 kleinen Geschwistern zurückblieb. Mit nur 4 Jahren Volksschule begann er, bei der Reichsbahn zu arbeiten und konnte sich als Autodidakt bis zum Oberinspektor hocharbeiten. Weiter konnte er mit nur 4 Jahren Volksschule nicht kommen. Und er hatte ein ernstes Hobby: Bücher. Er legte sich im Laufe des Lebens 10 000 Bände zu und konnte mit seinem fotographischen Gedächtnis etwa sagen: Hol mal den 3. Band links dort oben runter und schlag die Seite 182 auf. Dort steht oben rechts das und das. 
Er drückte mir eines Tages das Buch „NENA SAHIB oder die Empörung in Indien“ in 2. Bd. mit 1300 S. in die Hand. Der Autor war ein Sir John Redcliffe, doch der war weder Sir noch Engländer, sondern Deutscher namens Herrmann Ottomar Friedrich Goedsche, 1815-1878, der sehr viele historische Romane schrieb, auch diplomatische Missionen für den Kaiser unternahm – man munkelte, dass es auch um Spionage ging. Seine Bücher gewannen sehr viele Leser, insbesondere „Nena Sahib“. Das Besondere an diesem Roman ist, dass er 15 Anfänge hat – in all den Ländern, in denen englische Imperialisten ihr Unwesen trieben: Irland, Portugal, Griechenland, Afrika, Indien etc. und die im Detail beschrieben werden. Auf diese Weise wurde ich bestens über die Verbrechen der Engländer in Indien informiert. Über die Verbrechen der Deutschen in ihren Kolonien erfuhr man allerdings in Deutschland nichts. Da muste man nach England oder Frankreich gehen, wo sie sehr ausführlich beschrieben wurden. Später erfuhr ich auch bei meinem 2-jährigen Aufenthalt in Tansania und Sansibar, sogar von Augenzeugen, sehr viel über die „Heldentaten“ der 'deutschen Teufel'.
Palme Dutt habe ich also nicht gelesen, aber über das Elend in Indien war ich so gut infomiert, dass ich nie den Wunsch hegte, es zu besuchen. Tote auf den Straßen und Misshandlungen der Armen wäre zu viel für mich, zumal ich mich kenne – ich hätte innerhalb einer Stunde eine Schlägerei im Gange.
Später informierte ich mich eingehend über die Naxaliten. Und als ich 1981 aus Tansania wieder in Deutschland war, lag das Buch von Jan Myrdal 'Indien väntar' auf dem Tisch. Das ich mit größtem Interesse las und auch gleich übersetzte. Es erschien 1986, im dem Jahr, als die Buchmesse in Frankfurt am Main Indien zum Thema hatte. Aus dem Wust von Indienbüchern wählte 'Der Spiegel' Jan Myrdals 'Indien bricht auf' zum besten Buch.
Und nun fand ich mit Glück wieder einen Verlag für Myrdals neues Indienbuch - den Frankfurter Verlag Zambon - wo es simultan auf italienisch und deutsch erschien. Und auch das Buch von Arundhati Roy.
Dies war eher ein Zufall. Bis Frühjahr 2011 habe ich einige Jahre für das ideele Netzwerk Tlaxcala für sprachliche Vielfalt als Redakteur gearbeitet, zuständig für Asien plus Australien. Ich musste meinen Fokus natürlich einengen, und da lag Indien nahe, vor allem nachdem ich Näheres über die Aktion 'Green Hunt' erfuhr. Einerseits bekam ich direkten Kontakt mit Adivasi-Aktivisten und dann fischte ich Artikel aus dem Internet. Dort stieß ich auf den Essay 'Wandering with the Comrades', der mich sofort faszinierte. Beim Übersetzen googelte ich nach dem Autor und erfuhr, dass es sich um eine Autorin handelte – und welch schöne Frau. Die Übersetzung las Ronald Koch vom Zambon Verlag und er war auch begeistert. „Mit ihr müssen wir ein Buch machen!“ - „Ja prima.“ - „Also machst du das.“ -“Ich, wieso?“ - „Ja, wer sonst?“ Also machte ich mich daran.
Zuerst einmal besorgte ich mir ihren bis dato einzigen Roman 'Der Gott der kleinen Dinge'. Und das war eine faszinierende Lektüre, nicht nur weil der Roman glänzend geschrieben ist, weil er unaufdringlich Totale, Nahaufnahme, Vor- und Rückblenden, Dialoge, innere Monologe verwendet, sondern weil uns auch das Kastenwesen in seiner ganzen Brutalität, seine vergiftende, Menschen verachtenden Natur nahe gebracht wird und zwar hautnah. Man versteht, wie tief es sitzt, wie es quasi mit der Muttermilch eingesogen wird, wie irrational und in seinen Auswirkungen so verheerend real ist, so dass es wahrlich nicht leichter Hand abgestreift werden kann. Um es aus der Welt zu schaffen, bedarf es radikaler Maßnahmen. Und dies muss im Wesentlichen das Werk der Armhttp://aufbau.org/en, der Dalits und der Adivasis selbst sein, die zusammen fast 80% der indischen Gesellschaft ausmachen. Denn die hohen Kasten, die Milliardäre und Herrschenden, werden den Teufel tun, denn für sie ist das Indien, wie es ist, die beste aller Welten.
Zurück zu 'Wandern mit den Genossen'. Dieser 80 Seiten lange Essay von Roys Reise kurz nach Myrdal in Dandakaranya ist, wie Jan auch betonte, natürlich ein ganz anderes Buch als seines und wie auch das Buch seines Reisebegleiters Gautam Navlaka, bekannter Journalist und Menschenrechtsaktivist. Denn die beiden sind Inder und – noch wichtiger - sie sprechen zwar keine der vielen Adivasisprachen, aber zumindest Hindi, was doch recht viele Adivasi verstehen und einige wenige auch Englisch. Dadurch gewinnen Arundhatis Gespräche - vor allem mit den Frauen - eine ganz andere Qualität und Intensität. Wenn ich diese Berichte lese, dann beginne ich innerlich zu kochen. Vor allem, wenn dann noch nach diesen seitenlangen Berichten von Morden, Folter, Quälereien, Schikanen, Massenvergewaltigungen, dem Abbrennen von hunderten Dörfern – von hunderten, nochmals von HUNDERTEN, nicht einem oder zweien – wenn danach noch einer kommt und mit lässiger Handbewegung darüber hinweggeht mit einem 'JA, ABER....' und von der Gewalt der Adivasi zu schwafeln beginnt, wenn von Adivasis ein paar dieser Killer umgelegt werden. Dieser Mangel an Empathie, diese unerhörte Kaltschnäuzigkeit der Bourgeoisie, auch der Liberalen heutzutage, die mit wehenden Fahnen auf die Seite der Reaktion, der Neo-Kolonialisten und Imperialisten übergelaufen sind, macht mich richtig rasend. Ich halte es da mit Mark Twain und Mao Tse-tung. Die Unterdrückten und Armen haben 100-mal, 1000-mal Recht, wenn sie in einem explosiven Gewaltakt ein paar Tausend umbringen. Und wir wissen aus allen Revolutionen, die verloren wurden, welch furchtbare Rache die Herren immer und immer wieder geübt haben. Nach der Kommune in Paris, nach der deutschen, finnischen, russischen Revolution von 1905 haben sie für einen ihrer Leute  tausend Revolutionäre abgeschlachtet.
Auch Arundhati Roy, die aus einer hohen Kaste kommt und sich immer als Ghandianerin angesehen hat, verweilt lange bei der Gewalt-Frage. Doch je mehr sie über den Jahrhunderte dauernden Kampf der Adivasis um ihre Rechte erfährt, erfährt, wie diese Jahrzehnte lang friedlich demonstriert haben, Sitzstreiks machten, Petitionen schrieben, die Gerichte anriefen, immer umsonst, immer nur eingesperrt, vertrieben und ermordet wurden, ruft sie am Ende aus: WAS HÄTTEN SIE DENN TUN SOLLEN? DIE POLIZEI HOLEN? Und sie sieht ein, dass es für diese Menschen nur eine Alternative gibt: ENTWEDER UNTERGANG ODER KAMPF. Und sie bezeichnet die Maoisten, die so liebevoll und solidarisch miteinander umgehen - auch mit der Natur – als 'Ghandians with a Gun' – was ihr von den Medien sehr verübelt wurde.
Und Arundhati wird sich bewusst, dass sie eine Linie überschritten hat und ruft aus: Entweder steht man auf der einen Seite, der Seite der Unterdrücker oder auf dieser Seite, der Seite der Unterdrückten. Ich stehe auf dieser Seite.
Seither werden Arundhati Roys Stellungnahmen für die Rechte der Indigenen und Minderheiten, etwa in der Kaschmir-Frage, der Frage des Landdiebstahls, des Eindringens der internationalen Multis in Komplizenschaft mit den Herrschenden, der Frage des Hindu-Faschismus noch schärfer und dezidierter. Vor allem auch gegenüber der Hindutva-Pogrompolitik, der massenweise Moslems zum Opfer fielen, bezieht sie radikale Positionen. Sie sieht ganz klar die innenpolitischen Gefahren, nicht nur für die verbliebenen demokratischen Reste sondern auch für die Einheit des Landes.
Was sie noch nicht ganz erfasst zu haben scheint, sind die außenpolitischen Gefahren, die Indien durch seine Allianz mit den USA und Israel drohen, die natürlich auch ein Werk der Hindutva-Faschisten ist, weil Yankees und Israelis genau solche Rassisten sind wie sie selbst. Denn die hochkastigen Inder sehen sich ja als 'Arier', als 'Indogermanen', mit Betonung auf Germanen. 'Wir Weißen' – wie mir ein kohlschwarzer Inder in Tansania ins Ohr flüsterte. Sie betrachten sich als Weiße und wollen als Weiße angesehen werden. Aber diese Sorte Inder hat immer noch nicht begtiffen, dass sie für Amerikaner und Israelis nur Pack sind, wie alle Braunen, Gelben, Roten und Schwarzen. Dass sie von denen nur als nützliche Idioten angesehen werden, die in eine Allianz gegen China und Afrika gezerrt werden. In Afrika werden sie als trojanische Pferde für die Israel-Mafia eingesetzt und gegen China können sie allenfalls als Kanonenfutter verwendet werden. Das kann Indien teuer zu stehen kommen. Die einzig korrekte Politik für Indien wäre, sich der Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit (SOZ) anzuschließen, die sich angesichts der verschärften US-Einkreisungspolitik gegenüber Russland und China als absolut notwendige Verteidigungsallianz betrachtet. Die Zukunft liegt in Asien, nicht in Washington.

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