Heute Nacht aus der Schweiz und Hamburg zurückgekommen. Selbst in den Intercityzügen Deutschlands gibt es immer noch keine Möglichkeit, sich ins Internet einzuloggen. Folglich konnte ich nur in Internet-Cafés, wenn ich ein paar Minuten Zeit hatte, ins Netz und meine Mails sortieren. Im Zug nachhause habe ich die Rede mit Hilfe von ein paar Notizen in etwa rekonstruiert. Es ist also keine Originaltranskription.
Jan Myrdal und ich waren der Einladung der Organisation Aufbau gefolgt und hatten beide Male ein sehr angenehmes und auch sehr aufmerksames junges Publikum (40 und 60 Leute - was heutzutage schon viel ist), mit interessanten Diskussionen danach. Die Medien waren, wie zu erwarten, abwesend - selbst ein Weltautor wie Myrdal brachte sie nicht aus ihren eingebetteten, warmen Sesseln auf die Beine. Schließlich haben sie die Murdochpresse und die Mainstreammedien-Presseagenturen, von denen sie erfahren, was Sache ist. Also machen wir weiter.
23. und 24. November
2011
Ich
hatte nicht das Glück wie Jan Myrdal, schon mit 14 Jahren Palme Dutt
lesen zu können. Aber ich hatte das Glück, einen Großvater zu
haben, der mit 12 Jahren seine beiden Eltern verlor und mit 2
kleinen Geschwistern zurückblieb. Mit nur 4 Jahren Volksschule
begann er, bei der Reichsbahn zu arbeiten und konnte sich als Autodidakt bis zum
Oberinspektor hocharbeiten. Weiter konnte er mit nur 4 Jahren
Volksschule nicht kommen. Und er hatte ein ernstes Hobby: Bücher. Er
legte sich im Laufe des Lebens 10 000 Bände zu und konnte mit seinem
fotographischen Gedächtnis etwa sagen: Hol mal den 3. Band links
dort oben runter und schlag die Seite 182 auf. Dort steht oben rechts
das und das.
Er drückte mir eines Tages das Buch „NENA SAHIB
oder die Empörung in Indien“ in 2. Bd. mit 1300 S. in die Hand. Der
Autor war ein Sir John Redcliffe, doch der war weder Sir noch
Engländer, sondern Deutscher namens Herrmann Ottomar Friedrich
Goedsche, 1815-1878, der sehr viele historische Romane schrieb, auch
diplomatische Missionen für den Kaiser unternahm – man munkelte,
dass es auch um Spionage ging. Seine Bücher gewannen sehr viele
Leser, insbesondere „Nena Sahib“. Das Besondere an diesem Roman
ist, dass er 15 Anfänge hat – in all den Ländern, in denen
englische Imperialisten ihr Unwesen trieben: Irland, Portugal,
Griechenland, Afrika, Indien etc. und die im Detail beschrieben
werden. Auf diese Weise wurde ich bestens über die Verbrechen der
Engländer in Indien informiert. Über die Verbrechen der Deutschen
in ihren Kolonien erfuhr man allerdings in Deutschland nichts. Da
muste man nach England oder Frankreich gehen, wo sie sehr ausführlich
beschrieben wurden. Später erfuhr ich auch bei meinem 2-jährigen
Aufenthalt in Tansania und Sansibar, sogar von Augenzeugen, sehr
viel über die „Heldentaten“ der 'deutschen Teufel'.
Palme
Dutt habe ich also nicht gelesen, aber über das Elend in Indien war
ich so gut infomiert, dass ich nie den Wunsch hegte, es zu besuchen.
Tote auf den Straßen und Misshandlungen der Armen wäre zu viel für
mich, zumal ich mich kenne – ich hätte innerhalb einer Stunde eine Schlägerei im
Gange.
Später
informierte ich mich eingehend über die Naxaliten. Und als ich 1981
aus Tansania wieder in Deutschland war, lag das Buch von Jan Myrdal
'Indien väntar' auf dem Tisch. Das ich mit größtem Interesse las
und auch gleich übersetzte. Es erschien 1986, im dem Jahr, als die
Buchmesse in Frankfurt am Main Indien zum Thema hatte. Aus dem Wust von
Indienbüchern wählte 'Der Spiegel' Jan Myrdals 'Indien bricht auf'
zum besten Buch.
Und
nun fand ich mit Glück wieder einen Verlag für Myrdals neues
Indienbuch - den Frankfurter Verlag Zambon - wo es simultan auf
italienisch und deutsch erschien. Und auch das Buch von Arundhati Roy.
Dies
war eher ein Zufall. Bis Frühjahr 2011 habe ich einige Jahre für
das ideele Netzwerk Tlaxcala für sprachliche Vielfalt als Redakteur
gearbeitet, zuständig für Asien plus Australien. Ich musste meinen Fokus
natürlich einengen, und da lag Indien nahe, vor allem nachdem ich
Näheres über die Aktion 'Green Hunt' erfuhr. Einerseits bekam ich
direkten Kontakt mit Adivasi-Aktivisten und dann fischte ich Artikel
aus dem Internet. Dort stieß ich auf den Essay 'Wandering with the Comrades',
der mich sofort faszinierte. Beim Übersetzen googelte ich nach dem
Autor und erfuhr, dass es sich um eine Autorin handelte – und welch
schöne Frau. Die Übersetzung las Ronald Koch vom Zambon Verlag und
er war auch begeistert. „Mit ihr müssen wir ein Buch machen!“ -
„Ja prima.“ - „Also machst du das.“ -“Ich,
wieso?“ - „Ja, wer sonst?“ Also machte ich mich daran.
Zuerst
einmal besorgte ich mir ihren bis dato einzigen Roman 'Der Gott der
kleinen Dinge'. Und das war eine faszinierende Lektüre, nicht nur
weil der Roman glänzend geschrieben ist, weil er unaufdringlich
Totale, Nahaufnahme, Vor- und Rückblenden, Dialoge, innere Monologe
verwendet, sondern weil uns auch das Kastenwesen in seiner ganzen
Brutalität, seine vergiftende, Menschen verachtenden Natur nahe
gebracht wird und zwar hautnah. Man versteht, wie tief es sitzt, wie
es quasi mit der Muttermilch eingesogen wird, wie irrational und in
seinen Auswirkungen so verheerend real ist, so dass es wahrlich nicht
leichter Hand abgestreift werden kann. Um es aus der Welt zu
schaffen, bedarf es radikaler Maßnahmen. Und dies muss im
Wesentlichen das Werk der Armhttp://aufbau.org/en, der Dalits und der Adivasis selbst
sein, die zusammen fast 80% der indischen Gesellschaft ausmachen.
Denn die hohen Kasten, die Milliardäre und Herrschenden, werden den
Teufel tun, denn für sie ist das Indien, wie es ist, die beste aller
Welten.
Zurück
zu 'Wandern mit den Genossen'. Dieser 80 Seiten lange Essay von Roys
Reise kurz nach Myrdal in Dandakaranya ist, wie Jan auch betonte,
natürlich ein ganz anderes Buch als seines und wie auch das Buch
seines Reisebegleiters Gautam Navlaka, bekannter Journalist und Menschenrechtsaktivist. Denn die beiden sind Inder und
– noch wichtiger - sie sprechen zwar keine der vielen
Adivasisprachen, aber zumindest Hindi, was doch recht viele Adivasi
verstehen und einige wenige auch Englisch. Dadurch gewinnen
Arundhatis Gespräche - vor allem mit den Frauen - eine ganz andere
Qualität und Intensität. Wenn ich diese Berichte lese, dann beginne
ich innerlich zu kochen. Vor allem, wenn dann noch nach diesen seitenlangen
Berichten von Morden, Folter, Quälereien, Schikanen,
Massenvergewaltigungen, dem Abbrennen von hunderten Dörfern – von
hunderten, nochmals von HUNDERTEN, nicht einem oder zweien – wenn
danach noch einer kommt und mit lässiger Handbewegung darüber
hinweggeht mit einem 'JA, ABER....' und von der Gewalt der Adivasi zu
schwafeln beginnt, wenn von Adivasis ein paar dieser Killer umgelegt
werden. Dieser Mangel an Empathie, diese unerhörte
Kaltschnäuzigkeit der Bourgeoisie, auch der Liberalen heutzutage,
die mit wehenden Fahnen auf die Seite der Reaktion, der
Neo-Kolonialisten und Imperialisten übergelaufen sind, macht mich
richtig rasend. Ich halte es da mit Mark Twain und Mao Tse-tung. Die
Unterdrückten und Armen haben 100-mal, 1000-mal Recht, wenn sie in
einem explosiven Gewaltakt ein paar Tausend umbringen. Und wir wissen
aus allen Revolutionen, die verloren wurden, welch furchtbare Rache
die Herren immer und immer wieder geübt haben. Nach der Kommune in
Paris, nach der deutschen, finnischen, russischen Revolution von 1905
haben sie für einen ihrer Leute tausend Revolutionäre abgeschlachtet.
Auch
Arundhati Roy, die aus einer hohen Kaste kommt und sich immer als
Ghandianerin angesehen hat, verweilt lange bei der Gewalt-Frage.
Doch je mehr sie über den Jahrhunderte dauernden Kampf der Adivasis
um ihre Rechte erfährt, erfährt, wie diese Jahrzehnte lang friedlich
demonstriert haben, Sitzstreiks machten, Petitionen schrieben, die
Gerichte anriefen, immer umsonst, immer nur eingesperrt, vertrieben
und ermordet wurden, ruft sie am Ende aus: WAS HÄTTEN SIE DENN TUN
SOLLEN? DIE POLIZEI HOLEN? Und sie sieht ein, dass es für diese
Menschen nur eine Alternative gibt: ENTWEDER UNTERGANG ODER KAMPF.
Und sie bezeichnet die Maoisten, die so liebevoll und solidarisch miteinander
umgehen - auch mit der Natur – als 'Ghandians with a Gun' – was
ihr von den Medien sehr verübelt wurde.
Und
Arundhati wird sich bewusst, dass sie eine Linie überschritten hat
und ruft aus: Entweder steht man auf der einen Seite, der Seite der
Unterdrücker oder auf dieser Seite, der Seite der Unterdrückten.
Ich stehe auf dieser Seite.
Seither
werden Arundhati Roys Stellungnahmen für die Rechte der
Indigenen und Minderheiten, etwa in der Kaschmir-Frage, der Frage des
Landdiebstahls, des Eindringens der internationalen Multis in
Komplizenschaft mit den Herrschenden, der Frage des Hindu-Faschismus noch
schärfer und dezidierter. Vor allem auch gegenüber der Hindutva-Pogrompolitik, der
massenweise Moslems zum Opfer fielen, bezieht sie radikale
Positionen. Sie sieht ganz klar die innenpolitischen Gefahren,
nicht nur für die verbliebenen demokratischen Reste sondern auch für
die Einheit des Landes.
Was
sie noch nicht ganz erfasst zu haben scheint, sind die
außenpolitischen Gefahren, die Indien durch seine Allianz mit den
USA und Israel drohen, die natürlich auch ein Werk der
Hindutva-Faschisten ist, weil Yankees und Israelis genau solche
Rassisten sind wie sie selbst. Denn die hochkastigen Inder sehen sich
ja als 'Arier', als 'Indogermanen', mit Betonung auf Germanen. 'Wir
Weißen' – wie mir ein kohlschwarzer Inder in Tansania ins Ohr
flüsterte. Sie betrachten sich als Weiße und wollen als Weiße
angesehen werden. Aber diese Sorte Inder hat immer noch nicht
begtiffen, dass sie für Amerikaner und Israelis nur Pack sind, wie
alle Braunen, Gelben, Roten und Schwarzen. Dass sie von denen nur als
nützliche Idioten angesehen werden, die in eine Allianz gegen China
und Afrika gezerrt werden. In Afrika werden sie als trojanische
Pferde für die Israel-Mafia eingesetzt und gegen China können sie
allenfalls als Kanonenfutter verwendet werden. Das kann Indien teuer
zu stehen kommen. Die einzig korrekte Politik für Indien wäre, sich der
Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit (SOZ) anzuschließen, die
sich angesichts der verschärften US-Einkreisungspolitik gegenüber
Russland und China als absolut notwendige Verteidigungsallianz
betrachtet. Die Zukunft liegt in Asien, nicht in Washington.
Wunderbarer Einblick über die Verhältnisse in Indien.
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