Das Buch hat mich stark beschäftigt. Zum einen, weil
ich ja auch eine ältere Frau – in Hannas Alter etwa – als
Lehrmeisterin in der Liebe hatte, nur leider nicht in so jungen
Jahren. Zum anderen, weil diese Hanna eine so gute, starke
und kluge Persönlichkeit ist, die so liebevoll gezeichnet wird, dass sie
sicher ein Vorbild in der Wirklichkeit hat.
Das Buch ist zweifelsohne sehr gut geschrieben. Die Frau,
obwohl weit unter der gesellschaflichen Position des Protagonisten
stehend, wird in keiner Weise herablassend gezeichnet. Ihr junger
Liebhaber versucht aufrichtig, ihrer Persönlichkeit gerecht zu
werden. Seine tiefe Liebe wird jedem bewusst, der das auch erlebt
hat. Die Innigkeit der Beziehung wird besonders eindrucksvoll durch
das Vorlesen von Romanen und Theaterstücken dargestellt, die sie
beide, auch er, der sie schon kennt, neu erleben und diskutieren.
Andererseits hinterlässt es doch einen unangenehmen
Beigeschmack, der in dem Augenblick entsteht, wo die 'Wahrheit' ans
Licht kommt: dass sie Aufseherin in dem KZ Auschwitz und später in
einem Nebenlager war, und der inzwischen nicht mehr so junge
Liebhaber als Jurastudent und Teilnehmer an einem Seminar, das den
Prozess als 'Lehrstück' bearbeitet, diesen von Anfang bis Ende
verfolgt. Im Verlauf des Prozesses wird ihm klar, dass Hanna
Analphabetin war, die ihr ganzes Leben lang versucht hat, diese
Schmach zu verheimlichen, dies auch während des Prozesses tut,
obwohl das für sie zu einer erheblichen Strafverschärfung führt.
Im Verlauf des Prozesses kommt heraus, dass Hanna auch
im KZ Vorleserinnen hatte, junge schwache Mädchen, denen sie, so viel ist dem Jurastudenten klar, die
schwere Arbeit ersparen will, die sie aber dennoch nach Auschwitz schicken
muss. Dem jungen Jurastudenten wird Hannas Handicap auch in seinen
Folgen vollständig klar. Er versucht mit seinem Professor und mit
seinem Vater, dem Philosophieprofessor, über sein Problem zu reden,
ob er helfen soll oder muss oder lieber nicht, wird aber mit
passenden Argumenten versorgt, die es ihm erlauben, lieber zu schweigen.
Und da scheint einfach Selbstgerechtigkeit durch. Er
geht sogar so weit, sich selbst als Opfer zu empfinden – was hat
sie mir angetan, was habe ich leiden müssen, wie hat sie mich
benutzt und mir Unrecht getan – wodurch die ganze Liebesgeschichte
auf die Ebene bürgerlich-christlicher Moral geschoben wird.
Insgeheim weiß er ja, welch großes Geschenk er durch ihre Liebe und
Zärtlichkeit erhalten hat.
Das ist der eine Punkt. Der wirklich schwerwiegende
Punkt ist die Prozessführung selbst. Sie macht das ganze Ausmaß der
Vergiftung durch zionistische Hasspropaganda deutlich, der auch
Schlink von seinem Zuhause her (drei Generationen Professoren der
Jura und Theologie) voll erlegen ist. Erstens: Wer ist in dem
verhandelten Fall – die Kirche, in dem die Häftlinge von dem
weiblichen Wachpersonal untergebracht wurden, wird bombardiert, auch
der Pfarrhof mit dem Personal, und fast alle Häftlinge verbrennen,
weil sie vom Personal - bei dem es auch Verwundete gegeben hatte, nicht herausgelassen werden – wer also ist
denn da der eigentliche Mörder? Die Idee kommt dem Herrn Juristen gar
nicht. Das sind doch wohl die Briten oder Amerikaner, die
systematisch die Flüchtlingszüge aus Kindern, Frauen, Alten und
Gebrechlichen und eben auch Kirchen und Krankenhäuser bombardierten.
Diese guten Christen, die genau wussten, dass es sich hier um
KZ-Häftlinge handelte und dass in Kirchen häufig Menschen
untergebracht wurden. Kein Wort also darüber. Die Bomben fielen halt
vom Himmel. Hat der liebe Gott sie geschickt? Das vielleicht nicht,
aber er hat sie ja fallen lassen, sogar auf sein eigenes Haus. So
wird es doch gepredigt oder nicht? Stimmt es etwa nicht gerade in
diesem Fall?
Der zweite Punkt ist, dass man also mit viel Mühe und
Aufwand die Wächterinnen ausfindig gemacht hat. Man einigte sich
also auf den kleinsten gemeinsamen Nenner. Das fällt sogar unserem
angehenden Juristen auf, dass diese Frauen auf der Hierarchie ganz
untern standen. Sie hatten nicht einmal Waffen. All diese über ihnen
stehenden Schichten, die Kommandanten, Offiziere, Generäle,
Intellektuellen, Physiker, Chemiker, Reichsschrifttumsleiter bis
hinauf zu dem Erzbischof von Freiburg, der eine sehr niedrige Nummer
in der SS trug und direkte Verantwortung für die Ausradierung von
Freiburg und das lebendige Verbrennen zig-tausender Menschen mit trug
– sie durften fast durchweg ihr Leben friedlich in ihren Betten
beschließen nach dem Verprassen ihrer satten Pensionen. Aber hier
hat man also keine Kosten und Mühen gespart. Das gesamte Gericht
reiste sogar nach Israel auf Touristentour und zur Gehirnwäsche, was
unserem Juristen auch leicht aufstieß. Und am Ende hat man aus
dieser Rotte von Frauen – die logen und alles Hanna in die Schuhe
schoben, die sich nicht wehren konnte, ohne ihr Geheimnis zu verraten - die Unschuldigste zur härtesten Strafe verurteilt.
Man denke doch: ein blutjunges Ding, das aus der
tiefsten Provinz kam, Analphabetin war, ohne jede Bildung also bei Siemens in Berlin
arbeitete, Vorarbeiterin werden sollte, dann aber aus purer
Desperation das zufällige Angebot der SS annahm, um ihre Schmach
nicht offenbaren zu müssen. Und diese Frau trägt ihr Schicksal
wortlos und mit Würde. Und was hätte sie alles der Gesellschaft
vorzuwerfen gehabt!
Welch ein Schicksal! Kann das erfunden sein? Ich glaube
es nicht. Aber wie dem auch sei. Hier geht es darum, wie der Autor
sich dazu verhält. Und da versagt er sowohl als Jurist als auch als
Mensch.
Als Jurist deswegen, weil er all die Schwächen der
Beweisführung im Prozess hätte klar aufdecken und benennen müssen.
Etwa auch, wieso das Gericht alles Mögliche über diese Hanna
Schmitz wusste, aber ausgerechnet nichts über ihren gesellschaftlichen
Hintergrund (aber das interessiert ja ein Gericht grundsätzlich
herzlich wenig). Die gefälschten Beweise, worauf Hanna zaghaft
hinzuweisen versucht. Von den Fälschungen und Lügen der
zionistischen Propaganda ganz zu schweigen. Die bleiben auch im Buch
in Auflage über Auflage einfach stehen. Sie sind ja zweckdienlich
und bringen einem am Ende gar das Bundesverdienstkreuz ein.
Aber das Ganze ist sehr geschickt kaschiert. Denn der
Autor macht ja immer wieder Schritte, um seine Schuld einzugestehen.
Schon im ersten Teil gibt er des öfteren zu, dass er Hanna verraten
habe. Auch gibt er zu, dass er Hanna während ihrer 18-jährigen
Gefängnishaft zwar einen Kassettenrekorder und Tonaufnahmen
vorgelesener Romane schickte, er ihr aber damit nur eine kleine
Nische in seinem Leben einräumte. Dass er ihr zwar zu ihrer
Freilassung Wohnung und Job gesucht hat, sie auch widerwillig einmal
besuchte, sich damit aber nur das Recht auf sein Wohlbefinden
'verdiente'. Aber nie hat er ihr für ihre Briefe gedankt – den
mühsamen Prozess ihres Schreibenlernens beschreibt er eingehend –
oder zu ihrem Erfolg gratuliert, was sie sehnlichst erwartete. Als
sie sich dann in der Nacht vor ihrer Freilassung erhängt, ohne ihm
einen Brief zu hinterlassen, fühlt er sich aber wieder einmal
bestraft.
Aber bei jedem Schritt – des Eingeständnisses von
Schuld und Verrat - macht er immer gleich wieder zwei Schritte
zurück. So richtet er es immer wieder und fast unmerklich so ein,
dass ihm die Sympathien in den Schoß fallen.
Das ist zwar alles verständlich und sehr menschlich,
macht mir aber weder die Person des Romans noch die wirkliche Person
des Verfassers besonders sympathisch, zumal er sich in den 68-ern
nicht engagierte, weil er ja seinem Vater nichts vorzuwerfen hatte.
Er hatte ja nicht weiterhin Professor sein dürfen, sondern nur
Pastor. Du meine Güte. Er war 'Opfer'! Was hat er getan gegen das
Unrecht? Hat er demonstriert, hat er den Mund aufgemacht? Er hat
schön still gesessen und geschwiegen wie Millionen andere auch.
Wahrlich kein Grund, sich auf das hohe Ross zu setzen.
Noch eine abschließende Bemerkung. Dieses Buch ist auch
ein Beispiel dafür, wie man nach dem Krieg zum Bestseller-Autoren
wurde: Entweder machte man auf Anti-Kommunismus – besonders
empfehlenswert war dies für DDR-Flüchtlinge – oder man schrieb
irgendwie, irgendwas über den Holocaust. In beiden Fällen brauchte
es mit der Wahrheit nicht so genau genommen zu werden. Jedes Kraut
gedieh, denn der Boden und das Klima in unserer Besatzungszone –
die es ja immer noch ist – waren ideal. Aber psssssssst, darüber
spricht man ja nicht.
Klavreström, den 1. Juni 2011
Einar Schlereth
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