André Vltchek
31. August 2020
Aus dem Englischen:
Einar Schlereth
Beurteilen Sie
Shinzo Abes Japan nicht nach den glänzenden neuen Strukturen des
Tokio-Osaka-Magnetschwebebahn-Projektes, das demnächst das
industrielle Kernland von Nagoya mit der Hauptstadt verbinden wird.
Japans
dienstältester Premierminister tritt zurück, und die Nation scheint
unter Schock zu stehen. Aber die Menschen sind fassungslos, nur weil
das Protokoll gebrochen wurde (auch wenn es ihnen nicht gut geht, sie
krank sind, ein japanischer Führer sollte sein Amt nicht abrupt
aufgeben), nicht weil sie große politische, wirtschaftliche oder
soziale Umwälzungen befürchten oder erwarten. Japan ist ein Land
der Kontinuität und, während der letzten Jahrzehnte, des
allmählichen und sehr langsamen Niedergangs.
Niemand rechnet hier
mit einer Revolution oder einem Zusammenbruch des Systems. Japan ist
das stabilste und berechenbarste Land der Erde. Es ist ein
überzeugter Verbündeter des Westens, ohne eigene Außenpolitik und
mit sehr wenig eigener Meinung über die Welt. Vor einigen
Jahrzehnten rebellierte das Land - gegen den Kapitalismus und die
westliche Herrschaft -, aber die Regierungen von Koizumi und Abe
brachen das Rückgrat der Rebellion, indem sie die Nation sanft in
eine bequeme Bettdecke einhüllten, was der Mehrheit ein leicht
sklerotisches, aber dennoch gemütliches Dasein garantierte.
Shinzo Abe versteht
Japan. Es ist sein Land, und er ist sein einheimischer Sohn. Er
versteht auch das Establishment und den Umgang mit den Vereinigten
Staaten. Er ist mehr für den Markt als für Trump, er verachtet
Nordkorea mehr als der Westen, und er ist "höflich", aber
entschlossen gegen China.
China ist sein
riesiges "psychologisches Problem". Das liegt daran, dass
sich die Zusammenarbeit Japans mit Washington in der Vergangenheit
"ausgezahlt" hat, zumindest was die Lebensqualität
betrifft. Japan war früher die zweitgrößte Volkswirtschaft der
Welt, und sein Lebensstandard war früher viel höher als in den
meisten westlichen Ländern.
Dann überholte die
chinesische Wirtschaft die japanische. Und bald darauf begannen
japanische Reisende in die Volksrepublik China mit "beängstigenden
Geschichten" zurückzukehren: Die chinesischen Städte und das
Land blühten auf. Chinesische Züge fuhren plötzlich schneller als
der Shinkansen, chinesische Museen und Opernhäuser waren üppiger
als die in Japan, und die öffentlichen Räume und sozialen Projekte
stellten die im zunehmend kapitalistischen Japan in den Schatten. Die
Armut geht in China rasch zurück, während sie in Japan langsam
zunimmt.
So sollte das nicht
sein, riefen die Japaner aus! Antichinesische Gefühle brachen
aus, und Shinzo Abe tat nichts, um sie aufzuhalten. Ganz im
Gegenteil.
Anstatt sich zu
reformieren und in das Volk zu investieren, wandten sich die beiden
mächtigsten kapitalistischen Länder der Erde - die Vereinigten
Staaten unter Trump und Japan unter Abe - mit unvorstellbarer Kraft
und Bosheit gegen China.
Aber unter Abe
begann Japan auch hinter seinem anderen alten Rivalen, Südkorea,
zurückzufallen. Und sein Erzfeind, das Land, das Japan nach dem
Zweiten Weltkrieg zu zerstören half, Nordkorea (DVRK), ist immer
noch da, ungeschlagen und stark.
Anstatt sich ein
neues Japan vorzustellen, begann Shinzo Abe damit, die Vergangenheit
des Landes sowie seine bereits unterwürfigen Medien zu zensieren.
Mein guter Freund
David McNeill, ein irischer Professor an der angesehenen Universität
Sofia in Tokio, der auch für die NHK, Japans Nationalsender,
arbeitete, hat mir das einmal erklärt:
"In den
japanischen Medien gibt es jetzt sehr viel Selbstzensur. Und die
Regierung gibt 'Richtlinien' heraus, das so genannte 'Orange Book'
zum Beispiel: wie alles behandelt, was 'ansteckend' ist, behandelt
werden muss ... oder alles, was mit Geschichte zu tun hat. Es gibt
Anweisungen für Schriftsteller und Übersetzer. Zum Beispiel:
Verwenden Sie niemals Wörter wie "Massaker von Nanking",
außer wenn Sie ausländische Experten zitieren. Oder Yasukuni Shrine
- verwenden Sie niemals das Wort 'umstritten' im Zusammenhang damit'.
Wir können nicht über 'sexuelle Sklaven' aus dem Zweiten Weltkrieg
schreiben".
Es ist eine bekannte
Tatsache, dass japanische Massenmedien zu keinem großen Weltereignis
mit Bezug auf Russland, China oder Iran Stellung nehmen, solange
westliche Publikationen oder Netzwerke wie die BBC oder CNN keine
"Anleitung" geben. Ich habe früher für eine der großen
japanischen Zeitungen gearbeitet, und wenn wir über "heikle"
internationale Themen berichteten, mussten wir vom Außenministerium
die Genehmigung zur Veröffentlichung einholen.
Herr Taira Takemoto,
ein in Osaka ansässiger Bauingenieur, schrieb für diesen Bericht:
"Ehrlich
gesagt, hat Abe viel Mühe aufgewendet, Japan an die USA zu
verkaufen, sei es mit Präsident Obama oder mit Präsident Trump. Es
gibt viele offene Fragen, die geklärt werden müssen, vom
Sicherheitsvertrag zwischen den USA und Japan aus dem Jahr 1960 bis
hin zur Frage der zahlreichen US-Stützpunkte und den Handel bis zur
zunehmenden Feindseligkeit Japans und der USA gegenüber China,
ebenso wie gegenüber der DVRK. Auf der internationalen Bühne hat er
Japan meines Erachtens in die Hände des Westens gegeben,
insbesondere der USA."
Doch vergessen Sie
Tokio für eine Weile. Um das heutige Japan zu verstehen, besuchen
Sie seinen zentralen Teil, den städtischen und ländlichen, und Sie
werden verstehen, wie tief die Fäulnis unter Abe war. Außerhalb von
Städten wie Suzuka oder Yokkaichi in der Präfektur Mie sind
Reisfelder und Bambuswälder mit verrottenden Autokadavern übersät.
Viele Häuser sind baufällig. Die Buslinien sind aufgegeben. Auf den
Hauptstraßen reihen sich ungesunde Fast-Food-Läden aneinander,
nicht unähnlich denen in den US-Vorstädten. Viele öffentliche
Spielplätze für Kinder sind ungepflegt oder verschwunden.
Ein einst
ruhmreiches kulturelles Leben ist schon vor der Covid-19-Pandemie in
Verfall geraten. Riesige Kulturzentren, einst der Stolz des Landes,
stehen meist leer, und zwischen den Gebäuden wächst hohes Gras.
Blaue Zelte von
Obdachlosen werden in fast allen öffentlichen Parks von Tokio,
Nagoya, Osaka und anderen Großstädten aufgestellt.
Optimismus ist
schwer zu finden.
Frau Mikiko Aoki,
eine Sozialarbeiterin, die in Nagoya lebt, hat gemischte Gefühle
gegenüber Shinzo Abe:
"Die Nachricht
vom Rücktritt [des] Premierministers hat uns alle überrascht, da
wir ihn nicht kommen sahen. Ich denke, wir hatten uns an ihn gewöhnt.
Ich denke, er hat
einige wichtige inländische Aufgaben geleitet, von der Erholung nach
dem großen Erdbeben 2011 bis hin zur Vorbereitung auf die
Ausrichtung der verschobenen Olympischen Spiele in Tokio. Aber die
soziale Situation in Japan ist nicht besser als zuvor. Ich glaube
sogar, dass sie schlechter ist, da die Bevölkerung immer älter wird
und der Staat weniger in öffentliche Dienstleistungen und die
Unterstützung bedürftiger Familien investiert. Ich glaube nicht,
dass es mit einem neuen Premierminister anders sein wird. Schließlich
wird er aus der gleichen Partei kommen! Es ändert sich nichts".
[Über Fukushima fällt kein Wort. Das hat wohl in China
stattgefunden oder? D. Ü.]
Geoffrey Gunn, ein
führender australischer Historiker und emeritierter Professor an der
Universität Nagasaki, ist besorgt über die zunehmend aggressive
Rolle Japans in der Region:
"Alles änderte
sich, als die Regierung Abe die Senkaku/Diaoyu [Inseln]
verstaatlichte. Der Status quo änderte sich, weil Japan jetzt
erklärt, dass es eigentlich keinen Streit um diese so genannten
umstrittenen Inseln gibt. Deshalb hat die Regierung in Tokio China
verärgert. China ist empört über diese Änderung des Status quo".
Was als nächstes
kommt, sollte jetzt viel wichtiger sein als die Frage, wer als
nächstes kommt.
Leider gibt es in
Japan keine Erwartung oder Hoffnung auf wesentliche politische
Veränderungen. Politische Clans haben alles aufgeteilt,
Überraschungen sind äußerst unwahrscheinlich. Die Kommunistische
Partei Japans hat viele Mitglieder, aber sie ist immer schwach, wenn
es um Wahlen geht.
Japan wird weiter
abgleiten, aber extrem langsam, man könnte sogar sagen "elegant".
Der Lebensstandard ist immer noch extrem hoch. Die alternde
Bevölkerung wird weiterhin in den Genuss großzügiger Renten und
Leistungen kommen, aber die jüngeren Generationen haben den Gürtel
enger geschnallt. Die Ära der lebenslangen Beschäftigung ist
vorbei. Teilzeitarbeitsplätze ohne Sicherheit sind die einzige
Zukunft für Millionen junger Hochschulabsolventen.
Die Konfrontationen
mit China, den Koreas und bis zu einem gewissen Grad auch mit
Russland werden noch Jahre andauern, oder zumindest so lange, wie die
Vereinigten Staaten sie entfachen werden.
Es wird erwartet,
dass Yoshihide Suga, 71 Jahre alt und oft als "Leutnant"
von Herrn Abe beschrieben, sich "ins Rennen" um die
Nominierung für die Liberaldemokratische Partei (LDP) einschalten
wird. Sollte er "gewinnen", würde sich nicht viel ändern,
abgesehen davon, dass er in Bezug auf Covid-19 weniger vorsichtig
sein könnte. Japans hermetisch geschlossene Grenzen könnten sich
öffnen, und ausländische Touristen und Geschäftsreisende könnten
willkommen sein, ein Szenario, das dem in einigen europäischen
Ländern nicht unähnlich ist. Mehr würde sich kaum ändern.
Während unseres
Gesprächs fällte David McNeill ein wenig schmeichelhaftes Urteil
über Abes Ära:
"Abe wird
wahrscheinlich eher als politischer Verwalter denn als der
konservative Radikale angesehen werden, der er zu sein vorhatte. Die
Tatsache, dass er es versäumt hat, die verhasste Verfassung neu zu
schreiben, bedeutet, dass er die letzten siebeneinhalb Jahre
wahrscheinlich als Fehlschlag ansehen wird.»
Und Suga? antwortete
David ohne zu zögern:
"In diesem
Punkt stimme ich mit Koichi Nakano überein, der für die New York
Times schrieb: 'Suga wird versuchen, die Abe-Politik ohne Abe
fortzusetzen, wie John Major nach Thatcher.'"
Was mich betrifft,
so ist es für mich eine Tragödie, dass ich aus meinem Haus in Japan
für sechs Monate ausgesperrt war.
Premierminister
kommen und gehen. Eines Tages werden auch die Besatzungsarmeen
verschwinden. Verrottende Autos werden vollständig verrotten. Aber
die Tiefe Japans, wie auch seine Schönheit, werden niemals
verschwinden. Frustrierte Japanophile meckern über das Land, aber
sie bleiben.
Andre Vltchek
ist Philosoph, Romancier, Filmemacher und Enthüllungsjournalist. Er
hat über Kriege und Konflikte in Dutzenden von Ländern berichtet.
Sechs seiner letzten Bücher sind "New Capital of Indonesia",
"China Belt and Road Initiative", "China and
Ecological Civilization" mit John B. Cobb, Jr., "Revolutionary
Optimism, Western Nihilism", ein revolutionärer Roman "Aurora"
und ein Bestseller des politischen Sachbuchs: "Die Aufdeckung
der Lügen des Imperiums". Seine anderen Bücher finden Sie
hier. Sehen Sie sich "Rwanda Gambit", seine bahnbrechende
Dokumentation über Ruanda und DRCongo und seinen Film/Dialog mit
Noam Chomsky "Über den westlichen Terrorismus" an. Vltchek
lebt derzeit in Ostasien und Lateinamerika und arbeitet weiterhin auf
der ganzen Welt. Er ist über seine Website, seinen Twitter und
seinen Patreon zu erreichen. -
Der Kapitalissimus hat fertig, wie Flasche leer. Ist außer in Japan auch global zu beobachten. Die Falken in Washington und Moskau werden nicht müde, diesen widerlichen Frieden zu bekämpfen. Japan steht damit ähnlich gefährdet da, wie weltweit die NATO. Weil die dort stationierten JewSA-Streitkräfte von den russischen Kriegsbefürwortern (Putin-Konkurrenz) auch zur Zielscheibe NATO hinzugefügt werden. Japan ist, territorial auf dem asiatischen Zug befindlich, dort mehr Bremsklotz denn Lokomotive. Sollte Donald Trumps Trennung des westlichen Lagers vom Asien-China-Russland-Block fortwähren, werde ich wohl aus Gründen der Selbstachtung nach China umziehen.
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