Donnerstag, 27. Dezember 2018

Was fehlt den indischen Bäuerinnen?


Regelmäßig, wenn ich etwas über die indischen Frauen, über Adivasis und Dalits oder das indische Kastenwesen lese, frage ich mich, wie man so eine Gesellschaft überhaupt als Kultur bezeichnen kann. Das ist für mich ein Horror, ein Grauen, ein Vorhof der Hölle. Ich habe mehrere islamische Gesellschaften – Marokko, Pakistan, Sansibar und Tansania – teilweise auch längerfristig kennengelernt und ich kann versichern, dass die Frauen dort nicht in solch einer Sklaverei leben. Indien gar als eine Demokratie zu bezeichnen, halte ich für eine groteske Fehleinschätzung.

Was fehlt den indischen Bäuerinnen?

Parvin Sultana
23. Dezember 2018

Aus dem Englischen: Einar Schlereth

Sie benutzen die Hacken, die schon vor tausend Jahren benutzt wurden. 




Nur eine Frage – Was wissen Frauen über Ackerbau und Viehzucht – dann ist die Antwort: So gut wie alles. Der Beitrag der Frauen zur Landwirtschaft in der ganzen Welt ist exemplarisch. Laut der UNO-Organisation für Nahrung und Landwirtschaft würden die Erträge ihrer Felder um 20 – 30 % steigen, wenn Frauen denselben Zugang zu produktiven Ressourcen hätten wie die Männer. Nichtsdestoweniger sind die Frauen nach wie vor nicht sichtbar in den Diskussionen über die Selbstmorde der Bauern, der Landwirtschaftskrise etc.

In Indien gab es kürzlich riesige Bauern-Demonstrationen, die Erleichterungen forderten. Ein dominantes Merkmal dieser Protestzüge war die sehr zahlreiche Anwesenheit der weiblichen Bäuerinnen. Ihre gerissenen, aufgeplatzten, blutigen Füße, die ihre Mühen bezeugten, haben viele Menschen im Lande regelrecht betäubt. Während die meisten Medien die Bedeutung dieser Demos herunterspielten und triviale Angelegenheiten anführten, haben einige wenige Kanäle sie ins Rampenlicht gestellt und sich mit den Mühen der weiblichen Bäuerinnen beschäftigt. Die Bäuerinnen in allen Staaten erzählen ähnliche Geschichten und die meisten handelten davon, dass die Frauen nicht als Bäuerinnen anerkannt werden.

Das ganze Land ist Zeuge einer Agrarkrise von immensen Ausmaßen. Während die Regierung keinerlei Erleichterungen bietet, betont der Journalist P. Sainath, dass die Faisal Bima Yojana eine totale Täuschung ist und nur Versicherungen und Banken dient. Die Bauern kommen in ihrem Bereich nicht vor. Und das Bild von der Agrarkrise bleibt düster.

Maharashtra’s Vidarbha bleibt eine Region mit sehr hohen Selbstmordraten. In den vergangenen zwei Jahrzehnten haben mehr als 200 000 Bauern Selbstmord begangen. [IN EINER EINZIGEN REGION! D. Ü.]Fehlerhafte Versicherungen und Verzögerungen bei der Bearbeitung von Forderungen haben die Notlage verschlimmert. Es gibt eine Zunahme der Zahl von Haushalten, denen Frauen vorstehen. Es gibt auch eine Feminisierung der Landwirtschaft mit zunehmenden Zahlen weiblicher Landarbeiter in Maharashtra, Tripura und Kerala seit 1961.
The Wire’ brachte einen Bericht unter dem Titel «Das Stigma überleben: Die Wohn- und Landrechte der Bauern-Witwen von Vidarbha in Maharashtra». Er beleuchtete die Not der Bauernwitwen und die dauernden Menscherechts-Verletzungen und ökonomische Ausgrenzung. Beinahe 90% der Bäuerinnen leben in Familiengemeinschaft, was finanzielle Abhängigkeit von den Schwiegereltern bedeutet. Sie klagten über physischen und emotionalen Missbrauch, wenn sie ihren Anteil am Familienhaus oder dem Land forderten. In vielen Fällen werden sie sozialer Ächtung ausgesetzt. Die meisten Frauen wissen nicht einmal etwas über ihre Rechte oder sind nicht in der Lage, die Möglichkeiten zu nutzen, die für sie gedacht ist.

Vidarbha war einmal bekannt für die Produktion des «weißen Goldes» oder Baumwolle, aber jetzt ist es bekannt für die Bauern-Selbstmorde. Im nahen Marathwada kann eine Schuld von bloß 10 000 Rupiahs ausreichen, um jemand in den Selbstmord zu treiben. Die Witwen werden in weitere Schulden getrieben und gezwungen, Jobs als Landarbeiterinnen auf den Feldern anderer anzunehmen, um sich selbst zu ernähren.


Kota Neelimas Buch «Widows of Vidarbha» (Die Witwen von Vidarbha) ist ein Bericht von solchen Frauen. Für Witwen, die im Stich gelassen werden, ist es einfacher zu sterben als zu leben. Weibliche Bäuerinnen werden gewöhnlich im Bereich der Politik unsichtbar gemacht, Die Selbstmorde der Bauern wirft man als Statistiken um sich, benutzt sie als Propaganda, benutzt sie in Wahlreden und verwirft sie als politische Tricks von der Opposition.

2015 zeigten Daten, dass 98 Millionen Frauen in Indien im Agrarsektor arbeiten, aber die Debatte über die Selbstmorde der Bauern dreht sich meist um Männer, da die Frauen ja keinen Besitz haben und daher nicht als Bäuerinnen anerkannt werden. Nur 13 % der Frauen besitzen das Land, das sie bearbeiten. Ihr Status ist schlimmer als der von Arbeitern. Obwohl 60-80 % der gesamten Arbeit in der Landwirtschaft von Frauen geleistet wird, gibt man ihnen nur den Status von Landarbeitern.

Die zusätzliche heimische Verantwortung befreit die Frauen nicht von schwierigen Arbeiten wie Säen (in Reihen) und Setzen (oder auswerfen), Dreschen, Ernten, Pflügen etc. Selbst bei den lokalen galla mandis (Art Erntefest) unterliegen die Frauen ernster Diskriminierung. Ihnen werden rohe Geschäfte angeboten und sie werden sexuell belästigt.

Auch die weiblichen Selbstmorde steigen an. 2014 und 2015 stiegen die Selbstmorde um 42 % und von 8007 Selbstmorden waren 441 Selbstmorde von Frauen.

Die Stärkung der indischen Frauen wird nicht komplett sein ohne jene zu stärken, die an der Peripherie der Gesellschaft leben. Deren Stimmen müssen gehört werden, sowohl von der Politik und auf der Ebene der Umsetzung.

Die zunehmende männliche Abwanderung aus den Dörfern hat signifikante Veränderungen herbeigeführt bei der Arbeit der Dorffrauen, sowohl im Haushalt als auch auf gesellschaftlicher Ebene. Die Abwanderung hat die Rolle der Frauen in der Landwirtschaft neu definiert.

Weibliche Bäuerinnen brauchen direkten Zugriff auf Informationen über verbesserte landwirtschaftliche Praktiken und Verbindungen zu Märkten. Ein positiver Schritt ist, dass der 15. Oktober zum Tag der weiblichen Bauern erklärt wurde. Der Mangel an Landrechten ist ein großes Problem, weil sie dann nicht in den Genuss der Regierungspolitik kommen. Es ist dringend notwendig, die Erbschaftsgesetze zu ändern und Landrechte auch an Töchter zu vergeben.

Die patriarchale Gesellschaftsform bedient sich bequemerweise der landwirtschaftlichen Arbeit der Frauen, verweigert ihnen aber den Status von Bauern. Die Rechte der weiblichen Bäuerinnen müssen als solche anerkannt werden, denn Landwirtschaft war niemals ausschließlich die Arbeit der Männer. Politische Leistungen sollten automatisch auch an die Frauen der Bauern gegeben werden, deren Männer Selbstmord begehen. Auch wenn die Agrarkrise dringend in Angriff genommen werden muss, so darf der geschlechtsspezifische Aspek nicht außer Acht gelassen werden. Sonst werden die weiblichen Bauern das am meisten marginalisierte Schicksal in Indien erleiden.

Parvin Sultana ist Assistenz-Professorin am P B College of Assam. Ihre Forschungsinteressen umfassen Muslime in Assam, Entwicklung und der Nordosten, Geschlecht etc. Sie ist unter parvin.jnu@gmail.com zu erreichen.



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