Marwan Barghouti hat offenbar Charisma. Er hat offenbar die Fähigkeit, alle Palästinenser zu einen. Das ist gut und notwendig. Und was er sagt, das hat Hand und Fuß. In einem Punkt bin ich skeptisch. Die Zwei-Staaten-Lösung. Das ist doch die Musik, nach der jetzt über 60 Jahre ein Affentheater aufgeführt wurde. Wichtige Persönlichkeiten sind einen Schritt weiter gegangen: EIN DEMOKRATISCHER STAAT FÜR ALLE. Da würden die Israelis im Glanz ihrer Nacktheit dastehen: Zwei Staaten haben sie 60 Jahre lang abgelehnt, einen Staat lehnen sie ab und Demokratie lehnen sie auch ab.
Und ideal wäre, würden die Palästinenser Barghouti bei den nächsten Wahlen aufstellen. Das würde die Israelis erst recht zum Tanzen bringen.
Uri Avnery
31. März 2012
Maran Barghouti nimmt kein Blatt vor den Mund. Nach langem Schweigen sandte er eine Botschaft aus dem
Gefängnis.
Für israelische Ohren klingt diese
Botschaft nicht angenehm. Aber für die Palästinenser und für die
Araber im Allgemeinen ist sie logisch.
Seine Botschaft könnte nun das neue
Programm der palästinensischen Befreiungsbewegung werden.
Ich traf Marwan erstmals während der Euphorie des Nach-Oslo-Optimismus. Er war als Führer einer neuen
palästinensischen Generation aufgetaucht, der einheimischen jungen
Aktivisten, Männer und Frauen, die während der 1. Intifada herangereift
war.
Er ist ein Mann von kleiner Statur und
großer Persönlichkeit. Als ich ihn traf, war er schon der Führer
der Tansim („Organisation“), der Jugendgruppe der Fatahbewegung.
Unser Gesprächsthema damals war die
Organisation von Demonstrationen und anderer gewaltfreier Aktionen,
die sich auf enge Kooperation zwischen den palästinensischen und
israelischen Friedensgruppen gründeten. Das Ziel war Frieden
zwischen Israel und einem neuen Staat Palästina.
Als der Oslo-Prozess mit der Ermordung
von Yitzhak Rabin und Yasser Arafat starb, wurden Marwan und seine
Organisation von aufeinander folgenden israelischen Führern –
Ariel Sharon, Binjamin Netanjahu und Ehud Barak – die
entschieden, der Zwei-Staaten-Agenda ein Ende zu bereiten. In der
brutalen „Defensive-Shield“-Operation (angefangen vom damaligen
Verteidigungsminister Shaul Mofaz, jetzt der neue Führer der
Kadima-Partei) wurde die palästinensische Behörde angegriffen, ihre
Ministerien zerstört und viele ihrer Aktivisten verhaftet.
Marwan Barghouti wurde unter Anklage
gestellt. Es wurde behauptet, er sei als Führer der Tansim
verantwortlich für mehrere „terroristische“ Angriffe in Israel.
Seine Gerichtsverhandlung war eine Farce und erinnerte mehr an eine
römische Gladiatoren-Arena als an eine Gerichtsverhandlung. Der Saal
war voll brüllender Rechter, die sich selbst als „Opfer des
Terrorismus“ darstellten. Mitglieder von Gush Shalom protestierten
gegen diese Verhandlung innerhalb des Gerichtsgebäudes, wurden aber
nicht in die Nähe des Angeklagten gelassen.
Marwan wurde zu fünfmal lebenslänglich
verurteilt. Das Bild von ihm mit den über seinem Kopf erhobenen
gefesselten Händen wurde zu einer palästinensischen Nationalikone.
Als ich seine Familie in Ramallah besuchte, hing dieses Bild im
Wohnzimmer.
Im Gefängnis wurde Marwan Barghouti
sofort als Führer aller Fatahgefangenen anerkannt. Er wird auch von
den Hamasaktivisten respektiert. Die gefangenen Führer von Fatah und
Hamas veröffentlichten mehrere Statements, die die Palästinenser
zur Einigkeit und Versöhnung aufriefen. Diese wurden außerhalb des
Gefängnisses weit verbreitet und mit Bewunderung und Respekt
empfangen.
(Mitglieder der Großfamilie
Barghouti spielen übrigens in palästinensischen Angelegenheiten -
von moderaten
bis extremen - eine größere Rolle. Einer von ihnen ist Dr. Mustafa Barghouti, ein Arzt, der
eine moderate palästinensische Partei mit vielen Kontakten zum
Ausland leitet, und den ich regelmäßig bei Demonstrationen in Bilin
oder anderswo traf. Einmal scherzte ich, dass wir immer weinen, wenn
wir uns begegnen – wegen des Tränengases. Die Familie hat ihre
Wurzeln in einer Gruppe von Dörfern nördlich von Jerusalem.)
Heute wird Marwan Barghouti als
zukünftiger Führer von Fatah und als Präsident der
Palästinensischen Behörde nach Mahmoud Abbas angesehen. Er ist
einer der sehr wenigen Persönlichkeiten, der alle Palästinenser,
Fatah wie auch Hamas, vereinigen könnte.
Nach der Gefangennahme des israelischen
Soldaten Gilad Shalit, als der Gefangenen-Austausch diskutiert wurde,
setzte Hamas Marwan Bargouti an die erste Stelle der Liste der
palästinensischen Gefangenen, deren Entlassung gefordert wurde.
Dies war eine sehr ungewöhnliche Geste, da Marwan zu der
rivalisierenden – und geschmähten – Fraktion gehörte.
Die israelische Regierung strich Marwan
sofort von der Liste und blieb unnachgiebig. Als Shalit schließlich
entlassen wurde, blieb Marwan im Gefängnis. Offensichtlich wurde er
als gefährlicher angesehen als Hunderte von Hamas-Terroristen mit
„Blut an ihren Händen“.
Warum?
Zyniker würden sagen: weil er Frieden
wünscht. Weil er an der Zwei-Staaten-Lösung festhält.
Weil er das palästinensische Volk zu
diesem Zwecke einigen könnte. Alles gute Gründe dafür, dass
Netanjahu ihn im Gefängnis festhält.
Was sagte Marwan seinem Volk in dieser
Woche?
Klar, seine Haltung ist härter geworden. Wie vermutlich auch die Haltung des palästinensischen Volkes insgesamt.
Er ruft zu einer 3. Intifada auf, einem
gewaltlosen Massenaufstand im Geist des arabischen Frühlings.
Sein Manifest ist eine klare Ablehnung
der Politik von Mahmoud Abbas, der eine eingeschränkte, aber sehr
bedeutende Zusammenarbeit mit den israelischen Besatzungsbehörden
pflegt. Marwan ruft zu einem völligen Bruch aller Arten von
Zusammenarbeit auf, sei es auf wirtschaftlichen, militärischen oder
anderen Gebieten.
Ein Hauptpunkt dieser Zusammenarbeit
ist die tägliche Kollaboration der von Amerikanern ausgebildeten
palästinensischen Sicherheitsdienste mit den israelischen
Besatzungskräften.
Diese Vereinbarung hat gewalttätige
palästinensische Angriffe in den besetzten Gebieten und in Israel
selbst wirksam gestoppt. Dies garantiert praktisch die Sicherheit der
wachsenden israelischen Siedlungen in der Westbank.
Marwan ruft auch zu einem totalen
Boykott Israels, israelischer Institutionen und Produkte in den
palästinensischen Gebieten und in aller Welt auf. Die israelischen
Produkte sollten aus den Läden der Westbank verschwinden,
palästinensische Produkte sollten gefördert werden.
Gleichzeitig befürwortet Marwan ein
offizielles Ende der Scharlatanerie, die „Friedensverhandlungen“
heißt. Dieser Terminus wird übrigens in Israel nicht mehr gehört.
Zunächst wurde er durch „Friedensprozess“ ersetzt, dann durch
„politischer Prozess“ und zuletzt durch „politische Sache“.
Das einfache Wort „Frieden“ ist unter den Rechten und den
meisten Linken zu einem Tabu-Wort geworden. Es ist politisches Gift.
Marwan schlägt vor, das
Nicht-Vorhanden-sein von Friedensverhandlungen offiziell zu machen.
Keine internationalen Gespräche über die „Wiederbelebung des
Friedensprozesses“, kein Herumhasten lächerlicher Leute wie Tony
Blair, keine nichtssagenden Ankündigungen von Hillary Clinton und
Catherine Ashton, keine leeren Erklärungen des „Quartetts“. Da
die israelische Regierung klar die Zwei-Staaten-Lösung aufgegeben
hat – falls sie sie wirklich jemals akzeptiert hat – den Vorwand
aber aufrecht erhält, fügt diese Heuchelei dem palästinensischen
Kampf nur Schaden zu.
Anstelle dieser Heuchelei schlägt
Marwan vor, die Schlacht in der UNO zu erneuern. Zunächst noch
einmal den Sicherheitsrat anzurufen, um Palästina als einen
Mitgliedsstaat anzuerkennen und so die USA herauszufordern, ihr
einsames Veto praktisch offen gegen die ganze Welt zu setzen. Nach
der erwarteten Zurückweisung des palästinensischen Antrages durch
den UN -Sicherheitsrat als Ergebnis des Veto, eine Vollversammlung fordern, wo die große Mehrheit
zugunsten Palästinas stimmen würde. Obwohl das nicht bindend wäre, würde es demonstrieren, dass die Freiheit Palästinas die
überwältigende Unterstützung der Familie der Nationen hätte, und
es würde Israel (und die USA) noch mehr isolieren.
Parallel zu diesem Aktionskurs besteht
Marwan auf palästinensischer Einheit und nützt seine beträchtliche
moralische Kraft aus, um Fatah und Hamas unter Druck zu setzen.
All diese Ideen sind nicht neu. Aber
wenn dies vom palästinensischen Gefangenen Nr. 1 kommt, dem
wichtigsten Kandidaten für die Nachfolge von Mahmoud Abbas, dem
Helden der palästinensischen Massen, so bedeutet dies ein Wandel zu
einem militanteren Kurs, in der Substanz und im Ton.
Marwan bleibt friedensorientiert –
wie er es bei einem der seltenen Auftritte vor Gericht kürzlich
deutlich gemacht hat: er rief den israelischen Journalisten zu, dass
er weiter die Zwei-Staaten-Lösung unterstütze. Er bleibe auch bei
gewaltloser Aktion, nachdem er zu der Schlussfolgerung gekommen sei,
dass die gewalttätigen Angriffe der vergangenen Jahre der
palästinensischen Sache nur geschadet habe, statt sie zu fördern.
Er möchte zu einem Stopp des
allmählichen und unfreiwilligen Abgleitens der palästinensischen
Behörde in eine Vichy-artige Kollaboration aufrufen, während die
Ausdehnung des israelischen Siedlungsunternehmens ungestört
weitergeht.
Nicht zufällig veröffentlichte Marwan
sein Manifest am Vorabend des „Tags des Bodens“, dem weltweiten
Tag des Protestes gegen die Besatzung.
Der „Tag des Bodens“ ist der
Jahrestag eines Ereignisses, das 1976 als Protest gegen die
Entscheidung der israelischen Regierung stattfand, große Teile von arabischem Land in Galiläa und andern Teilen Israels zu enteignen. Die
Armee und Polizei Israels schossen auf die Demonstranten und
töteten sechs von ihnen. (Am Tag danach legten zwei meiner Freunde
und ich Kränze auf die Gräber der Opfer – eine Handlung, die mir
einen derartigen Ausbruch von Hass und Diffamierung einbrachte, wie ich es selten erfahren habe.)
Der Tag des Bodens war ein Wendepunkt
für Israels arabische Bürger, und später wurde es ein Symbol für
alle Araber überall. In diesem Jahr drohte die Netanjahu-Regierung,
auf jeden zu schießen, der sich nur den Grenzen nähere. Es
könnte ein Auslöser für die 3. Intifada sein, die von Marwan
verlangt wird.
Seit einiger Zeit hat die Welt
gegenüber Palästina ihr Interesse großenteils verloren. Alles scheint ruhig.
Netanyahu ist es gelungen, die Aufmerksamkeit der Welt von Palästina
auf den Iran zu lenken. Aber in diesem Land steht nichts still.
Während es so aussieht, als geschähe nichts, wachsen die Siedlungen
unaufhörlich. Und so wächst der Groll der Palästinenser, die dies
mit eigenen Augen sehen.
Marwan Bargouthis Manifest drückt das
beinah einmütige Gefühl der Palästinenser in der Westbank und
anderswo aus. Wie Nelson Mandela in der Apartheid Südafrika kann der
Mann im Gefängnis bedeutender sein als die Führer außerhalb.
Aus dem Englischen von Ellen
Rohlfs, vom Verfasser autorisiert.
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