Sonntag, 18. August 2013

Bonapartismus: Ägyptens Revolution nachdem sich der Rauch gelegt hat


Dies ist die bislang vernünftigste Analyse der ägyptischen Situation, die ich kenne. Ein Problem greift er allerdings nicht auf: dass die anti-Morsi-Front praktisch die Armee um Hilfe gebeten hat. Das war m. E. ein großer Fehler. Reiche dem Teufel den kleinen Finger und er ergreift die ganze Hand. Und dass sie Beispiel klatschten, als die Armee gegen die Moslembruderschaft barbarisch vorging. Ein korrekter Weg wäre gewesen, Neuwahlen auszuschreiben und mit – wie Shamus Cooke richtig schreibt – einem vernünftigen und von der breiten Masse gebilligtem Programm. Er meint, das wäre immer noch machbar – ich bin skeptisch.

Shamus Cooke
17. August 2013

Bonapartismus: Ägyptens Revolution nachdem sich der Rauch gelegt hat

In Krisenzeiten neigen die Leute zu einfachen Antworten auf komplexe Situationen. In Ägypten hat das zu absurden Formulierungen geführt, wo die eine Seite als „gut“ bezeichnet wird (die Moslembruderschaft =MB), die andere als „schlecht“ (die Armee), und die Revolution als Ganzes wird als Gräuel verurteilt. Aber die Situation in Ägypten ist besonders widersprüchlich und um die sozio-politischen Knoten der Revolution aufzulösen, sollte man vorgefertigte Schlagworte vermeiden.

Entgegen den Behauptungen von vielen sind die Berichte vom Tod der Revolution sehr übertrieben. Jene, die weissagen, dass Ägypten unausweichlich in eine lange Periode einer Militärdiktatur eintreten wird, vergessen, dass Ägyptens Revolution solch eine Diktatur 2011 zerstörte und half, Morsis autoritäre Regierung im Juli zu stürzen. Das Volk in Ägypten ist nicht zur Unterwerfung eingeschüchtert worden, es ist noch in den Straßen, ohne Furcht, seiner Macht bewußt. Auch die ägyptische Armee ist sich dieser Tatsache bewusst, wie ihre Handlungen beweisen.
Obwohl es eine Tragödie ist, dass unschuldige Menschen getötet wurden, ist es auch wahr, dass die MB nicht die Revolution repräsentiert, sondern ihr Gegenteil. Besonders verwirrend ist, dass der andere Opponent der Revolution – die Generäle – den Kampf gegen die Bruderschaft leiten, was zur Frage führt, wieso ein Feind der Revolution einen anderen angreift?

Die gegenwärtige, bizarr scheinende Situation in Ägypten ist tatsächlich häufig in der Geschichte der Revolutionen: In der modernen Ära begann es mit Napoleon Bonaparte, der während der französischen Revolution seine Macht stärkte, indem er sich mit gewissen sozialen Klassen verbündete gegen rivalisierende Gruppen und bei Bedarf seine Allianz wechselte, um die Macht seiner vorigen Alliierten zu schwächen, bis alle politischen Rivalen geschwächt waren, was ihm und seiner Armee es erlaubte, als Schiedsrichter zu handeln und als Herrscher.

Dieser jetzt übliche Zug von Revolutionen wird oft als „Bonapartismus“ bezeichnet zu Ehren seines Erfinders ... und ist eine Widerspiegelung der Gesellschaft bei einem revolutionären Umsturz, wo verschiedene soziale Klassen sich mit aller Kraft einbringen, aber nicht in der Lage sind, ihre Gegner auszuhebeln, was dann der Armee es ermöglicht als bonapartistischer „Schiedsrichter“ zu handeln.

Bonapartismus ist auch ein Zeichen politischer Schwäche der Armee, die nicht in der Lage ist, ohne Verbindung mit bestimmten Segmenten der Bevölkerung zu herrschen (deswegen haben die ägyptischen Generäle kürzlich um die Mobilisierung gebeten, was der Armee die „Erlaubnis“ signalisieren sollte, den zivilen Ungehorsam der MB zu brechen, wobei sie eigentlich die politische Linke gegen die politische Rechte ausspielte).

Bonapartismus ist von Militärdiktaturen seit Napoleon praktiziert worden. Tatsächlich war Ägyptens populärer militärischer Präsident Gamal Abdul Nasser – der viele progressive Maßnahmen in Ägypten durchführte – selbst ein klassischer Bonapartist, jedoch einer, der unüblicherweise nach links neigte.

Zum Beispiel, als er einem Attentat der MB entging, benutzt Nasser die Armee, um die MB zu zerschlagen, und er genoss dabei die Unterstützung der politischen Linken wegen seiner progressiven Politik. Nachdem er die MB erledigt hatte, konsolidierte Nasser seine Macht gegenüber der wachsenden revolutionären Linken und griff sowohl die kommunistische Partei als auch die Gewerkschaften an. Dieser Balancegang zwischen der Linken und der Rechten ist das Kennzeichen des Bonapartismus.

Nassers Nachfolger Sadat benutzte ebenfalls die Strategie Bonapartes, als er die MB wieder nach Ägypten zurückholte um sie als rechten Rammbock gegen die Linke zu benutzen. Sadat brauchte die MB auch als politisches Requisit, um die progressiven Maßnahmen Nassers rückgängig zu machen.

Auch Mubarak benutzte die MB auf diese Weise und aus denselben Gründen wie Sadat. Es stimmt, dass sowohl Sadat als auch Mubarak zuweilen aggressive Maßnahmen gegen die MB ergriffen, aber beide erlaubten ihr größere Freiheit für die politische Organisierung als anderen Gruppen, da die MB eine politisch perfekte Ergänzung für die recht, neo-liberale Politik des Präsidenten war.

Diese Bevorzugung der MB führte zu der Situation, dass nach dem Sturz von Mubarak die MB praktisch die einzige organisierte politische Kraft im Land war. Nachdem sie mit Geschrei und Geschiebe von ihrer Jugendorganisation in die Revolution gezerrt wurde, ergriff die MB opportunistisch die Macht, obwohl sie nicht eins der Ziele oder der Visionen der Revolutionäre teilte.

Eine gängige Art, wie Kommentatoren die Situation in Ägypten vewirrt haben, ist, dass sie die MB als ghandische Revolutionäre portraitierten, die die Demokratie herstellen wollten. Aber im selben Atemzug sagen diese Analytiker korrekt „Gott verhüte“, dass der MB erlaubt wird, ihre Vision von einem fundamentalistischen islamischen Staat in Ägypten einzuführen, denn wenn das geschähe, würden automatisch die Freiheiten der Frauen, der nicht-fundamentalistischer Moslems und der relitiösen Minoritäten reduziert werden.

Ein anderer üblicher Fehler ist, den Konflikt als Säkularisten gegen Moslems darzustellen. Die MB hat nicht das Monopol auf den Islam. Von den Millionen Menschen, die den Sturz von Morsi am 30. Juni forderten, war die große Mehrheit moslemisch und zwar sunnitisch, so wie die MB. Aber die fundamentalistische Version des Sunni-Islam der MB ist eine Minderheitenauffassung in der großen Sunni-Mehrheit Ägyptens.

Ein weiterer Fehler bei der Analyse der aktuellen Ereignisse liegt darin zu vergessen, wie die Situation sich entwickelte. Dazu müssen wir zum 30. Juni zurückkehren, als Millionen Ägypter den Rücktritt von Morsi forderten. Diese massiven Demonstrationen waren offensichtlich zumindest ebenso groß wie jene, die Mubarak zu Fall brachten, aber die MB hat die Botschaft nicht verstanden. Als er von der Armee gestürzt wurde, versucht die MB durch militanten zivilen Ungehorsam den zweifellos unpopulären Morsi wieder einzusetzen.

Die Armee ging gegen die MB vor, weil sie glaubte, dass die Mehrheit der Bevölkerung hinter ihr stünde, was die viel größeren Demonstrationen bewiesen, die dem Aufruf der Armee folgten, ganz zu schweigen von den Bergen Beweisen, die dokumentierten, wie die Meinung in Kairos Vierteln der Arbeiterklasse war, die sich gegen die MB gestellt hatte.

Und obwohl es viele gibt, die einfach die Millionen-Demo vom 30 Juni als eine „Konspiration“ bezeichnen, ist es doch unmöglich, die Menschen zu zwingen, an Demos teilzunehmen unter der gemeinsamen Forderung "Morsi muss gehen“, wenn sie nicht wollen. Viele „pro-Konspirations“-Analytiker verstehen einfach nicht die tiefe politische Bedeutung von Demonstrationen dieser Größe, als wären sie irgendwie üblich und nicht Symptome einer mächtigen Revolution.

Es stimmt, dass die ägyptischen Generale – ganz zu schweigen von den Ränke schmiedenden ausländischen Mächten – versuchen, ihre Agenda in der Krise durchzusetzen, was immer ein gewisses konspiratorisches Manövrieren mit sich bringt, aber die Forderungen vom 30. Juni machten sehr klar, wo die Ägypter in dieser Frage stehen: sie sprachen mit ihrer eigenen Stimme.

Obwohl die Mehrheit der Ägypter jetzt gegen die MB ist, schaffen die jüngsten Aktionen der Armee neue Probleme für die Revolutionäre. Die Macht der MB wird zerschlagen, aber die Macht der Armee wird gestärkt. Um zu verhüten, dass die Generale ihre Macht  gegen die ägyptische Arbeiterklasse missbrauchen, müssen die Revolutionäre sehr schnell einen Plan aufstellen, sich selbst zu schützen und gleichzeitig die Forderungen der Revolution zu unterstützen.

Weil die ägyptische Linke immer noch unzulänglich organisiert ist, muss sie die politische Strategie der Einheits-Front benutzen, wodurch große Teile der Bevölkerung sich hinter eine begrenzte Zahl von populären Forderungen stellen. Wenn sie dies tut, wird die Armee sich einer Massenbewegung gegenübersehen, die ein positives Programm hat, entgegen der gegenwärtigen Situation, wo man nur darin einig ist, was alle ablehnen. Eine Massenbewegung einer vereinten Front wird die Herzen und Köpfe der einfachen Soldaten gewinnen und verhüten, dass die MB neue Rekruten gewinnen kann.

Die dringendsten Bedürfnisse der Bevölkerung – Brot, Jobs, soziale Dienstleistungen – sind die Forderungen, die immer eine Revolution vorantreiben und am meisten Einigkeit schaffen. Wenn die politische Linke einen Plan vorlegt und revolutionäre Methoden benutzt, diese Forderungen auch zu erreichen – Umkehrung der Privatisierungen, Erhöhung der Steuern für die Reichen, öffentliche Arbeiten für Anstellung usw. - dann wird die ägyptische Arbeiterklasse sich hinter sie stellen, um diese Ziele zu erreichen, von denen einige unter Präsident Nasser durchgeführt und von Sadat und Mubarak abgeschafft wurden.

Die ägyptische Revolution hat nicht Jahre Zeit, um diese Probleme zu lösen. Die Wirtschaft steht vor der Katastrophe und drastische Maßnahmen müssen sofort ergriffen werden. Dies ist einer der Gründe, weshalb Morsi die Macht verlor: er dachte, er könnte mit der Haltung von Mubarak fortfahren und nichts Wesentliches für die Mehrheit des Volkes tun, von der die Hälfte in entsetzlicher Armut lebt und die andere Hälfte sich verzweifelt bemüht, dieses Schicksal zu vermeiden.

Die höheren Erwartungen und neuen Hoffnungen der Revolution müssen von kühnen revolutionären Aktionen begleitet sein, um diese Erwartungen zu erfüllen. Politik wie gehabt ist ein Ding der Vergangenheit in Ägypten. Die Revolution kann das Schicksal eines fest verwurzelten Bonapartismus nur vermeiden, wenn sie unmissverständlich die dringendsten ökonomischen Bedürfnisse der großen Mehrheit der ägyptischen Bevölkerung anpackt.


Shamus Cooke ist Sozialarbeiter, Gewerkschaftler und schreibt für die WorkersAction (www. workerscompass.org). Er ist hier erreichbar shamuscooke@gmail.com


Quelle - källa - source

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