Sonntag, 5. Januar 2014

Der Mythos von der aufkommenden Supermacht Indien

John Pilger
3. Januar 2014

Am Strand vor den 5-Sterne-Hotels in Mumbai spielen die Kinder der Reichen vergnügt und schreiend 'Verstecken und Suchen'. Ganz in der Nähe, im Nationalen Theater für Darstellende Kunst, strömen Leute zum Literatur-Festival Mumbai – berühmte  Autoren und die Prominenz aus Indiens Raj-Klasse – herbei. Sie steigen gewandt über eine Frau, die quer auf dem Gehsteig liegt und ihre Birkenfeger zum Verkauf ausgebreitet hat und deren Kinder in einem Banyan-Baum, der ihr Zuhause ist, schwach zu erkennen sind.

Es ist der Tag der Kinder in Indien. Auf Seite neun der Times of India berichtet eine Studie, dass in jeder Sekunde ein Kind schlecht ernährt wird. Beinahe zwei Millionen Kinder unter fünf Jahren sterben jedes Jahr an verhütbaren Krankheiten wie etwa gewöhnlicher Diarrhöe. Von denen, die überleben, ist die Hälfte unterentwickelt mangels Nährstoffen. Der Schulabbruch in den nationalen Schulen liegt bei 40 Prozent. Statistiken wie diese strömen hier ständig vorbei. Kein anderes Land kommt nur in seine Nähe. Die kleinen, dünnen Beine, die im Banyan-Baum baumeln, sind der ergreifende Beweis.

Das strahlende Indien
Der Leviathan, einst als Bombay bekannt, ist das Zentrum für den größten Teil des indischen Außenhandels, die globalen Finanzgeschäfte und persönlichen Reichtum. Doch bei Ebbe sind die Menschen am Mithi-Fluss, in Straßen-Gräben und am Wegesrand gezwungen zu defäkieren (auf gut deutsch scheißen). Die halbe Bevölkerung der Stadt hat keine sanitären Anlagen und lebt in Slums ohne elementare Dienstleistungen. Sie hat sich seit 1990 verdoppelt, als das „Strahlende Indien“ von einer amerikanischen Reklame-Firma erfunden wurde als Teil der Propaganda der Hindu-nationalistischen BJP-Partei, dass sie Indiens Ökonomie und „way of life“ endlich „befreien“ werde.

Die Schranken zum Schutz der Industrie, des Handwerks und der Landwirtschaft wurden niedergerissen. CocaCola, Pizza Hut, Microsoft, Monsanto und Rupert Murdoch betraten das einst verbotene Territorium. Grenzenloses „Wachstum“ wurde nun das Maß menschlichen Fortschritts, was sowohl die BJP als auch den Congress, die Partei der Unabhängigkeit, packte. Das 'Strahlende Indien' würde China einholen und eine Supermacht werden, ein „Tiger“, und die Mittelklasse würde die ihr zustehende Stellung finden in einer Gesellschaft, wo es keine Mitte gab. Wie auch die Mehrheit in der „Welt größten Demokratie“ würde sie wählen und unsichtbar bleiben.

Für sie gab es keine 'Tiger'-Ökonomie. Das Tamtam um das High-Tech-Indien, das die Barrikaden der ersten Welt erstürmte, war hauptsächlich ein Mythos. Es ist nicht zu leugnen, dass es Indien in der Komputer-Technologie und dem Ingenieurswesen zu Erfolgen brachte, aber die neue städtische Technokraten-Klasse ist relativ winzig und die Auswirkungen ihrer Gewinne auf das Schicksal der Mehrheit ist zu vernachlässigen.

Als das nationale Stromnetz 2012 zusammenbrach und 700 Millionen Menschen ohne Elektrizität waren, hatte die Hälfte nur so wenig Strom, dass es von ihr „kaum bemerkt“ wurde, wie ein Beobachter schrieb. Bei meinen vergangenen zwei Besuchen brüsteten sich die ersten Seiten der Zeitungen damit, dass Indien „den super-exklusiven Klub der ICBM (Interkontinentalraketen) mit Bravour gestürmt habe“, den „bisher größten“ Flugzeugträger zu Wasser gelassen und eine Rakete auf den Mars geschickt habe – was von der Regierung als „ein historischer Moment (gelobt wurde), den wir alle mit Freuden begrüßen“.

Die Freudenrufe waren in den Reihen Teerpappen-Baracken nicht zu hören, die man sieht, wenn man auf dem internationalen Flughafen von Mumbai landet, und auch nicht in den ungezählten Dörfern, denen elementare Technologie verweigert wird, wie etwa Strom und Trinkwasser. Hier ist das Land gleich Leben und der Feind ist ein zügelloser „freier Markt“. Die Dominanz ausländischer Multis für Nahrungsmittel, genetisch modifiziertes Saatgut, Dünger und Pestizide hat die kleinen Bauern in den brutalen globalen Markt gerissen und zu Schulden und Elend geführt. Mehr als 250 000 Bauern haben sich selbst getötet seit Mitte der 90-er Jahre – eine Zahl, die wohl nur ein Bruchteil der Wahrheit darstellt, da die örtlichen Behörden bewusst über „Unfall“-Tote falsch berichten.


„Kreuz und quer in Indien“, sagt die berühmte Umweltaktivistin Vandana Shiva, „hat die Regierung seinem eigenen Volk den Krieg erklärt.“ Unter Verwendung von Kolonial-Gesetzen wird fruchtbarer Boden den armen Bauern für nur 300 Rupien pro Quadratmeter abgenommen; Stadtentwickler verkaufen den Quadratmeter dann für 600 000 Rupien. In Uttar Pradesh bedient eine neue Schnellstraße „Luxus“-Siedlungen mit Sportanlagen und einer Rennbahn für Formel Eins-Wagen, wodurch 1225 Dörfer weichen mussten. Die Bauern und ihre Gemeinden haben dagegen angekämpft, wie sie es überall in Indien tun; 2011 wurden vier getötet und viele in Zusammenstößen mit der Polizei verwundet. [Woher Pilger diese Zahl hat, würde ich gerne wissen. Auf unserer Webseite Indiensolidarität finden sich viele Beispiel für Übergriffe vor allem gegen die Dalits und die Minoritäten D. Ü.]

Für England ist Indien jetzt ein „Markt erster Ordnung“ – um die Waffen-Verkaufsabteilung der Regierung zu zitieren. 2010 hat David Cameron die Bosse der großen britischen Waffenproduzenten mit nach Delhi genommen und unterschrieb einen 700 Mill. $ Vertrag für die Lieferung von Hawk Kampfbombern, die schon, getarnt als „Übungsflugzeuge“  gegen die Dörfer in Osttimor eingesetzt worden sind. Sie sind sicher der größte Einzel“beitrag“ der Cameron-Regierung für das Strahlende Indien.

Der Opportunismus ist verständlich. Indien ist ein Modell des imperialen Kultus des Neoliberalismus geworden – beinahe alles muss privatisiert und verkauft werden. Die weltweite Attacke auf die soziale Demokratie und das geheime Einverständnis der großen parlamentarischen Parteien – was in den USA und in England in den 80-er Jahren begann – hat in Indien eine Antiutopie der Extreme und ein Gespenst für uns alle hervorgebracht.

Während Nehrus Demokratie es schaffte, das Stimmrecht einzuführen – heute gibt es 3.2 Mill. gewählte Repräsentanten – versagte sie mit dem Aufbau von so etwas Ähnlichem wie sozialer und ökonomischer Gerechtigkeit. Weitverbreitete Gewalt gegen Frauen ist erst jetzt zögernd auf die politische Tagesordnung gekommen. Säkularismus mag Nehrus große Vision gewesen sein, aber die Moslems in Indien gehören nach wie vor zu den ärmsten und am meisten diskriminierten und brutal behandelten Minderheit auf Erden.

Der Sachar-Kommission des Elite-Instituts für Technologie von 2006 zufolge gibt es unter 100 Studenten nur vier Moslems und in den Städten haben Moslems weniger Chancen auf eine Festanstellung als die „unberührbaren“ Dalits und indigenen Adivasis. „Ironischerweise,“ schrieb Khushwant Singh, „gab es die höchste Anzahl von Gewalt gegen Moslems und Christen in Gujarat, dem Heimatstaat von Bapu Gandhi.“

Gujarat ist auch der Heimatstaat von Narendra Modi, Gewinner von drei aufeinander folgenden Wahlen zum BJP Ministerpräsidenten und der Favorit, um den schüchternen Rahul Gandhi bei den Wahlen im Mai auszustechen. Mit seiner xenophobischen Hindutva-Ideologie spricht er direkt die besitzlosen Hindus an, die glauben, dass die Moslems „privilegiert“ seien. Gleich nachdem er 2002 an die Macht gekommen war tötete ein Mob hunderte Moslems. Eine Untersuchungskommission fand heraus, dass Modi den Beamten befohlen hatte, die Randalierer nicht zu stoppen – was er leugnet. Bewundert von mächtigen Industriebossen, prahlt er mit dem höchsten „Wachstum“ in Indien.

Angesichts dieser Gefahren regt sich in Indien der große Volkswiderstand, der Indien auch seine Unabhängigkeit brachte. Die Gruppenvergewaltigung einer Studentin in  Delhi 2012 hat große Menschenmengen auf die Straßen gebracht, was eine Unzufriedenheit mit der politischen Elite widerspiegelte und Wut, dass sie Unrecht und einen modernisierten Feudalismus akzeptiere. Die Bewegungen des Volkes werden oft geführt oder inspiriert von ungewöhnlichen Frauen – wie etwa Medha Patkar, Binalakshmi Nepram und Arundhati Roy – und sie zeigen, dass die Armen und Schwachen nicht schwach sein müssen. Dies ist Indiens dauerhafte Gabe an die Welt und jene korrupten Mächtigen ignorieren sie zu ihrem Schaden.


Quelle - källa - source

3 Kommentare:

  1. Haben die Inder keinen Ärger mit den Indonesiern bekommen weil sie Dörfer in Osttimor angriffen ?

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  2. Du hast Recht, das ist missverständlich ausgedrückt von Pilger. Aber es handelt sich darum, dass die Engländer, wie die Schweden, wie die Deutschen auch, Kriegswaffen an Länder liefern, die sich im Krieg befinden, wie damals an Indonesien, obwohl das dem Gesetz nach verboten ist.

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  3. Als ich in Indien war, hieß ein beflügeltes Wort etwa, "von den Indern lernen". Und da ist was dran. Kann nur einer nachvollziehen, der in Indien gearbeit und gelebt hat.
    Und es ist völlig egal , ob da Kinder mit spindeldürren Beinen rumhampeln. Sagen wir mal "nur" 200 Millionen Inder äffen uns nach und machen auf Industriestaat, dann haben sie uns in Null,nix ein und überholt. 1. weil sie ein Riesenheer von billigsten Arbeitskräften haben und 2. weil sie einfach mehr sind und zudem eben auch clever.

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