Freitag, 20. März 2015

Yaşar Kemal: Durchdrungen von einem tausendjährigen Atem

Vor 45 Jahren kaufte ich den ersten Roman von Yaşar Kemal 'Lasst die Disteln brennen', der gerade auf Schwedisch erschienen war. Im Laufe der Jahre las ich 7 weitere Bücher - teils schwedisch und teils deutsch - seiner 19 Bände. Immer aufs neue war ich von seiner Sprache fasziniert. Die reine Poesie. Er nannte es 'magischen Realismus', lange vor García Márquez. In den 80-er Jahren erlebte ich ihn einmal bei einer Lesung in einer Bibliothek, rappelvoll mit Türken und Kurden, die friedlich und fasziniert nebeneinander ihm zuhörten. Anschließend gab es eine Diskussion, wo sich zeigte, dass Kemal viel Humor hat, denn es gab immer wieder dröhnendes Gelächter. Übersetzen ins Englische klappte leider nicht. 
Diese Übersetzung des Nachrufs von Mustafa Can ist meine Verbeugung vor einem der ganz großen Schriftsteller der Türkei und der Welt, der ebensowenig wie Nazim Hikmet, der große Dichter, befreundet mit Brecht, Majakowski, Neruda u. a., der sein halbes Leben in KZs verbringen musste, den Nobelpreis erhielt, denn beide waren nicht nur Atheisten, sondern obendrein Sozialisten.

Yaşar Kemal: Durchdrungen von einem tausendjährigen Atem

Mustafa Can

28. Februar 2015

Aus dem Schwedischen: Einar Schlereth

Mustafa Can - Bio s. unten
Mustafa Can erinnert sich an einen betrübten Yaşar Kemal in einem China-Restaurant am Fridhemsplan in Stockholm.

Yaşar Kemal starb, 91 Jahre als, in Istanbul.
Als ich die Botschaft von Yaşar Kemals Tod erfuhr, dachte ich an einen späten Abend zwei Tage vor dem Neujahrstag 2006 in Havanna.


Gabriel García Márquez saß mit einem Schwarm schöner Frauen und ernsten, breitschultrigen, in Kostüme gekleideten Männern auf den Sofas ganz hinten im Nachtclub "Die einäugige Katze" beim sagenumwobenen Hotel Nacional, wo Mafiabosse, Spione, Filmstars und andere Berühmtheiten einander drängten vor langer Zeit.


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Yaşar Kemal starb mit 91 Jahren in Istanbul.



Ermuntert von meinem Freund Lars Asklund ging ich hinüber zum Schriftsteller und dankte ihm für großartige Leseerlebnisse. Márquez nickte und fragte bedächtig, woher ich komme.<

"Schweden. Aber ursprünglich komme ich aus dem türkischen Kurdistan."
"Oh, aus demselben Land wie Yaşar Kemal," rief er vergnügt und hob sein Glas. Obwohl ich nicht erwähnte, dass ich ab und zu Yaşar Kemal traf, fuhr Márqez fort: ""Ein sehr feiner und inspirierender Kollege. Grüße ihn herzlich von mir, wenn du ihn triffst."

Fünf Monate danach saßen wir mit einem betrübten Yaşar Kemal in einem China-Restaurant am Fridhemsplan in Stockholm. Um ihn aufzumuntern - er war gekommen¸ um seinen todkranken Freund und Schriftstellerkollegen Mehmet Uzum zu besuchen - erzählte ich meine Begegnung mit Márquez.

"Hat er also 'inspirierender Kollege' gesagt?" lachte Kemal.  "Vielleicht ist das die Art vom guten Márquez anzuerkennen, dass ich mit dem magischen Realismus vor ihm lag."

Nun, zum Unterschied von seinem kolumbianischen Kollegen erhielt der Kurde Yaşar Kemal, der türkisch schrieb, nie den Nobelpreis für Literatur. Ein Preis, von dem er nicht gern sprach - obwohl er viele Jahre lang Kandidat war.

"Wenn man Erzählungen mit der Muttersmilch einsaugt, kann man nicht herumllaufen und an Preise denken, sondern man erzählt einfach," schnaubte er in einer Kneipe in Istanbul nach einem literarischen Seminar im schwedischen Konsulat 2004.

Kemal erzählte bildreich, wie seine kurdischen Eltern 1915 vom Vansee vor der russischen Armee geflohen waren. Wie die Kindheit in der einzigen kurdischen Familie in dem armen turkmenischen Dorf Hemite, im Tiefland zwischen dem Taurusgebirge und dem Mittelmeer, dazu führte, dass er Turkmenisch besser beherrschte als seine Muttersprache.

Yaşar Kemal senkte die Stimme, als er auf seine lebenslange Sehnsucht nach dem Vater zu sprechen kam, der in einer Moschee von seinem Adoptivbruder erstochen wurde, als er erst fünf Jahre alt war. Die Stimme und seine Laune stieg wieder, als er sagte, dass es die Barden waren, die mündlichen Erzähler, die ihn, bevor er überhaupt schreiben gelernt hatte, inspirierten, von Dorf zu Dorf zu wandern, um mehr oder weniger wahre Geschichten zu hören, sie auswendig zu lernen und in dramatisierter Form wiederzugeben. Erzählungen, die Tage dauern konnten. Und von der Arbeit, Bücher in der menschenleeren Bibliothek im Zentralort Adana zu sortieren, wo er auf Homer, Cervantes, Stendhal, Tschechow traf ...

"Die westliche Literatur schenkte mir eine neue Welt. Diese Verfasser ließen mich später einsehen, dass 'meine' Literatur der Geschichte meiner Familie und meines Volkes entsprungen sein muss und deren Schatz an Sagen, Volksliedern und Mythen."
Lasst die Disteln brennen

Bereits mit seinem ersten Roman 'Lasst die Disteln brennen' ('Ínce Memed', 1955) wurde er zur Portalfigur der türkischen Literatur. Die Inspiration für das Werk über den kleinen, mageren, vaterlosen Rebellen Mehmed, erklärte Kemal, kam von den Männern in der Familie seiner Mutter. Alle waren vogelfreie Revolutionäre und keiner starb auf Grund hohen Alters.

Seine Kindheitslandschaft in der fruchtbaren Çukorova-Ebene war sein Macondo. Yaşar Kemal schildert in seiner Epik die Lebensbedingungen der Unterdrückten und was mit Menschen und der Gesellschaft geschieht in Zeiten der Umwälzung. Wenn die bäurische Gesellschaft auf die Modernität trifft, die Armut auf den Kapitalismus trifft, stößt die Sehnsucht nach Befreiung auf ein noch rohes politisches System.

Obwohl sich Kemals Werk vor allem im 20. Jahrhundert abspielt, werden die Geschichten von einem tausendjährigem Atem durchzogen, wo jeder Gegenstand seine heimliche Geschichte hat und verschiedene Epochen ineinander ein- und ausgehen. In der Çukurova-Ebene gibt es immer noch uralte Siedlungen aus der neolithischen Zeit und dem antiken Cilisien. Mit Tempeln, Steininschriften und prophetische Grottendörfer. Hettiten und Babylonier, Perser, Armenier und Kurden, Römer, Griechen, Araber und Türken. Ein Chor von Herrschern und Sklaven, von Bauern und Feudalherren, die sich alle zwischen nächtlichen Schattenlandschaften und blendenden Traumwelten bewegen.

Die Romane klingen mit verschiedenen Stimmen gleichzeitig. Es gibt Aufbruch, Massenflucht und Neubeginn. Hass, Rache, Misstrauen und Gewalt sind alle gegenwärtig. Aber auch die Revolte, die Liebe, die Schönheit, die überhitzte Phantasie und das unbändige Streben des Menschen, von Licht und Frieden zu träumen, selbst inmitten einer zerrissenen Zeit.

Für den Atheisten Yaşar Kemal war der Mensch das Maß aller Dinge. Der Mensch ist jedoch ein leeres Gefäß ohne die Natur. Auf die Frage, warum er fast alle seine Romane mit langen lyrischen Naturschilderungen einleitet, antwortete er:

"Ich bin Atheist mit einer zuweilen lähmenden Todesangst. Die Natur ist weder gut noch böse, sie ist nur großartig und ihre Schönheit ist vielleicht mein bestes Argument gegen den Tod."

Als Kind konnte er stunden- und tagelang dem Flug eines Schmetterlings, dem Flug der Vögel, den blauschimmernden Wildbienen zuschauen, die in glitzernden Wolken über die Ebene surrten, den Formen der Wolken, den Lichtveränderungen des Taurusgebirges, den Distelbollen, der Blüte der Pfirsich- und Aprikosenbäume, wenn sie in rosa und purpur aufgingen. Er atmete den Duft des wilden Timjan ein und schloss die Augen, wenn er dem Wind lauschte, dem Laut der Bäche und dem Gesang der braun-rot-gesprenkelten Rebhühner.


Das Denkmal für den Mageren Mehmed im Geburtsdorf  Yaşar Kemals, das jetzt Gökçedam heißt.



Der Bauer, Traktorfahrer, Baumwollpflücker, Nachtwächter, Briefschreiber, Aushilfs-Lehrer, Aufrührer und Sozialist war viele Jahre lang eins der wenigen Gewissen der türkischen Nation. Widerwillig, wie sein Freund Orhan Pamuk.

Yaşar Kemal verabscheute es, über Politik zu reden, aber konnte sich trotzdem nicht von der Politik fernhalten. Vor allem, wenn es um Fragen der Redefreiheit und der systematischen Unterdrückung der Kurden ging.

"Ich bin Schriftsteller, kein politischer Kommentator. Meine Aufgabe ist es, so gut wie möglich zu schreiben, aber welche Wahl habe ich, wenn freiheitsdurstende Menschen auf der Straße verfolgt werden und sogar zu mehrhundertjähriger Gefängnisstrafe verurteilt werden, gefoltert und ermordet werden?"

Es war für ihn unsittlich, politisch neutral zu sein, sich einzuschließen und sich nur der Schönliteratur zu widmen, während die Welt rundherum brannte. Insbesonders in Diktaturen und in gebrechlichen Demokratien, wo nicht alle lesen und schreiben können, ist es die Pflicht des Intellektuellen, die Ethik vor die Ästhetik zu stellen, die Inflation im zivilisatorischen Wert der Gesellschaft zu beleuchten und die Gesellschaftsordnung zu stören.

Die türkischen Medien betrieben in vielen Jahren eine Hetzkampagne gegen Kemal. Im Laufe der Jahre wurde er angeklagt oder mit Anklage und Gefängnis bedroht, weil er den Terrorismus unterstütze und Propaganda für den Separatismus betreibe. [Er wurde tatsächlich dreimal zu Gefängnisstrafen verurteilt. D. Ü.] Ich erinnere mich an das traurige Gesicht von Kemal, als eine junge Frau bei einem Verfassertreffen in einer Buchhandlung fragte, was es für ein Gefühl sei, jetzt mehr als Menschenrechtskämpfer denn als Verfasser bekannt zu sein.

"Ich bin nicht mehr als ein Mensch unter Menschen. Mensch zu sein, beinhaltet vielleicht vor allem, Verantwortung zu empfinden für alles, was in der Welt geschieht und sich mit der Gegenwart und Vergangenheit herumschlägt. Besonders jetzt in der Markthysterie des freiheitlichen Pluralismus."

Jedesmal, wenn ich Yaşar Kemal traf, fragte er mich immer über Schweden aus - "meine zweite Heimat" - und nannte die Straße, wo er Ende der 70-er einige Jahre im Exil gewohnt hatte - Årstavägen 29.

Er beschrieb die Kälte, die Dunkelheit, die menschenleeren Straßen und die Einsamkeit. Und was die Sprachlosigkeit aus den Menschen macht, abgeschirmt zu sein von der übrigen Gesellschaft; da fühlt man sich als hilfloses Opfer. Was den Menschen am Ende rettet, ist sein Vermögen zu kommunizieren. Aber ....

"Ich bin nie so produktiv wie im Exil in Schweden gewesen. Ich schrieb mehrere Bücher in ein paar Jahren. Die Stille und die Ruhe, die ich dort fand, habe ich weder vorher oder nachher wiedergefunden. Obwohl ich meine Heimat vermisste, war ich in Schweden sehr glücklich."

Vor zwei Jahren, als wir uns kurz in einer Gallerie in Istanbul trafen, fragte ich Yaşar Kemal, ob er wüsste, dass er in den 70-er Jahren der am meisten ausgeliehene ausländische Verfasser in den schwedischen Bibliotheken gewesen sei.

Sein dröhnendes Gelächter erfüllte den Raum. "Das hat mir jedenfalls nicht den Nobelpreis eingebracht."



Wir danken dem Aftonbladet. Der Artikel wurde am 28.2. 2015 veröffentlicht.

Quelle zum Artikel auf Tlaxcala.


Mustafa Can, geboren 1969 in der Türkei, ist ein schwedischer Journalist und Schriftsteller. Mit sechs Jahren kam Can zusammen mit seiner Familie aus seinem Heimatdorf Kurekan im türkischen Kurdistan nach Schweden und wuchs in Skövde auf. 2001 wurde er mit dem Großen Journalistenpreis in der Kategorie 'Erzähler des Jahres' ausgezeichnet und 2006 empfing er die 'Goldfeder' vom Publizistenclub mit der Motivierung "aus einem kurdischen Dorf in der Türkei eroberte er eine neue Sprache". Danach kommentierte ein verwirrter Can: "Was hat mein Hintergrund damit zu tun? Ich war sechs Jahre alt, als ich hierher kam. Ich habe keine Sprache erobert, ich bin ja beinahe hier geboren."

1 Kommentar:

  1. Ein großer Geist hat Tschüß gesagt und zur Mutter allen Seins heimgekehrt.

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