Mai 2006
Diese ältere Reportageserie, die es bisher nur auf Schwedisch gab, habe ich nun endlich auch ins Deutsche übersetzt, weil sie einerseits immer noch aktuell ist und weil es andererseits außerordentlich wenig Vernünftiges über Venezuela gibt.
Mit offenen Augen durch Venezuela
Nach knapp fünf Wochen in
Venezuela kann man ehrlicherweise nicht eine umfassende Analyse
schreiben. Selbst wenn ich spanisch kann und 3000 km durch das Land
gereist bin, viele Kilometer zu Fuß und mit sehr vielen Menschen
gesprochen und eine ganze Menge von den Presseorganen gelesen habe.
Das Land ist einfach zu groß – mit 916500 km² fast dreimal so
groß wie Deutschland – hat 27 Mill. Einwohner, ist belastet mit
einem schwierigen historischen Erbe, mit enormen sozialen Problemen
und muss sich mit gewaltigen außenpolitischen Schwierigkeiten in
einer immer komplizierteren globalen Lage herumschlagen.
Bevor ich reiste,
habe ich eine ganze Menge an schrecklichen Geschichten gehört und
gelesen über die Gewalt im Land, von Straßengangstern, Aggressionen
und Diebstählen. Ungefähr dieselben Geschichten, wie ich sie über
Daressalaam oder Peshawar, die Bronx und Harlem in NY hörte. Dummes
Gerede hier wie da. Ich habe nicht eine einzige Situation erlebt, die
nur annähernd bedrohlich oder aggressiv war. Keine Schlägerei und
keinen Zank. Nicht einmal in den sogenannten gefährlichen Vierteln.
Die Menschen sind
freundlich und behilflich. Man kommt leicht mit ihnen ins Gespräch –
mit Männern und Frauen. In Geschäften und Restaurants wird man
anfangs oft recht knapp und zurückhaltend bedient. Aber das hängt
wohl mit dem afrikanischen Erbe zusammen (der größte Teil der
Bevölkerung hat afrikanische Vorfahren). Reserviert und diskret zu
Anfang, aber schon beim zweiten Treffen taucht auf den Gesichtern ein
breites Lächeln auf.
Mein Interesse,
Venezuela zu besuchen, galt Hugo Chávez und der Verwirklichung
seiner Politik auf der untersten Ebene. Ich habe bewusst auf Treffen
und Interviews mit Partei- und Regierungsleuten verzichtet. Habe also
die Froschperspektive gewählt.
Deshalb
wohnte und aß ich in einfachen und billigen Hotels (posadas)
und Restaurants, wo es sehr gute Möglichkeiten gibt, mit den
Menschen ins Gespräch zu kommen.
Auf meinen
Streifzügen durch Caracas – eine Riesenstadt mit mindestens sieben
Millionen Einwohnern – wird man von unerhörten Widersprüchen
überrascht. Verkommene Straßen, wo Müll zu Bergen gehäuft ist,
und Straßen, die sauberer sind als in Hamburg. Häuser aller
Kategorien und Größen. Ausgedehnte Slumgebiete und gepflegte
Viertel mit kleinen Villen und Viertel mit Luxusvillen, umgeben von
Mauern mit Stacheldraht oder Zäunen unter Strom. Eine supermoderne
und extrem saubere U-Bahn und Busse und Taxis, die echte
Schrotthaufen sind. Parks, die verkommen und verdreckt sind und
andere, die sehr gepflegt und sauber sind. Menschen in Lumpen oder
nach der neuesten Mode gekleidet.
Aber es gibt kein
einheitliches Muster. Ein ungepflegter Park kann in einem besseren
Viertel liegen und ein gepflegter Park in einem weniger angesehenen
Viertel wie jenes an der U-Bahnstation Gato Negro. Auf den Hügeln um
die Stadt im Tal kann ein gutes Viertel neben einem armen liegen. Und
da die allermeisten Menschen sehr auf ihr Aussehen und ihre Kleidung
achten – die Haare immer frisch gewaschen und die Kleider gebügelt
– sind die Klassenunterschiede im Straßenbild nicht so krass.
A propos
Straßenbild: es wird beherrscht von tausenden und aber tausenden
Straßenhändlern, einem enormen Gedränge und Autos. Man kann auf
der Straße beinahe alles bekommen: Essen und Trinken, Werkzeuge,
Schuhe, Parfüm und Telefongespräche an den zahlreichen
festgeketteten Handies und nicht zu vergessen Millionen CDs und DVDs
mit Musik und Filmen aus der ganzen Welt – allerdings sind
US-Produkte vorherrschend. Da sie ungeheuer billig sind, kann man
davon ausgehen, dass es Kopien sind. Und die Musik wird immer in
höchster Lautstärke gespielt und ergibt seltsame Kakophonien.
Die
Essens- und Getränkeverkäufe beginnen gleich um sechs Uhr früh an
Bushaltestellen, wo Männer und Frauen Kaffee pur, mit Milch oder mit
Milch und Zucker aus großen chinesischen Thermokannen in winzigen
oder großen Plastikbechern für 20 bis 50 Cent anbieten. Die leeren
Becher werden auf die Straße geworfen. Später kommen Bierbüchsen,
Cola- oder Limonadeflaschen und die Hunderttausende Papiere, Tüten,
Becher hinzu, in denen das Essen verpackt wird. Gut für die Hygiene,
schlecht für die Umwelt.
Auf Hygiene wir
sowohl auf der Straße als auch in Geschäften scharf geachtet. Das
geht so weit, dass in den Supermärkten selbst das Gemüse von den
Angestellten mit Handschuhen aufgehäuft wird. Aus Hygienegründen
werden auch keine Fliegen geduldet. Erst nach ein paar Tagen, als ich
im Hotel die erste Fliege entdeckte, wunderte ich mich. Wieso gibt es
nicht mehr Fliegen bei all dem Mist auf den Straßen und Plätzen?
Fliegen treiben die Menschen zur Hysterie. Hingegen können hunderte
Wespen und Bienen um die Leckerbissen in den Konditoreien schwirren,
ohne dass es die Leute kümmert. Die Leute wissen, dass sie Fliegen
und anderes Ungeziefer beseitigen und gönnen ihnen dafür auch ein
bisschen Süßigkeiten.
Erster Eindruck in Caracas
Zu meiner großen
Verwunderung ist die Fettsucht ein mindestens ebenso großes Problem
wie bei uns.
Schuld daran haben
zum Teil das gute Essen und teils die schlechten Trinkgewohnheiten.
Die beliebtesten Gerichte sind arepas und empanadas,
die man überall an den Straßen und in tausenden Straßenküchen
kaufen kann, wo es oft sogar Sitzplätze gibt. Beide Varianten werden
aus Maismehl hergestellt. Arepas sind fertige Küchlein, die
geöffnet werden und mit Hack, Hühnchen, Gemüse oder Käse
vollgestopft werden. Und empanadas sind ein Maisteig, der zu
Taschen geformt wird und dann mit etwa den gleichen Ingredienzen
gefüllt wird und danach fritiert wird. Obendrauf werden reichlich
die verschiedensten Soßen gekippt. Sicher schmeckt es. Und als
Getränke sind Coca Cola und Limonaden (die ebenfalls von Coca Cola
hergestellt werden) die großen Favoriten. Und diese Kombination ist
natürlich weder gut für die Linie noch für die Gesundheit.
Hingegen ist das Essen in Restaurants keineswegs fett und schmeckt
ebenfalls sehr gut. Und dort hat man eine große Auswahl an
phantastischen, frisch gepressten Natursäften: Mango, Ananas,
Apfelsine, Tamarinde, Zuckerrohr, Melone, Passionsfrucht usw. Die
kann man auch auf der Straße kaufen und kosten etwa 40 Cent. Hier
wären die unbezahlbar!
Das Gedränge auf
den Straßen, in der U-Bahn und in Bussen ist – ja, wie soll ich
sagen – zivilisiert. D. h. man wird fast nie gestoßen und an Zügen
und Bussen stehen die Menschen in der Schlange und schlagen sich
nicht um die Plätze. Es geht niemals so brutal zu wie in der Pariser
Metro oder in afrikanischen Bussen. Auf Busreisen gilt im übrigen,
dass jede Person einen Sitzplatz haben muss.
Große Volksmassen
versammeln sich auch regelmäßig auf allen Bolívar-Plätzen, die es
noch in dem kleinsten Dorf gibt. Die Plätze sind immer sehr schön,
sehr gepflegt und sauber, da Simon Bolívar gleich nach seinem Tod
beinahe zum Heiligen wurde. Und durch Chávez wurde er zum Held und
Symbol der Freiheit erklärt, was er auch in Wirklichkeit gewesen
ist. Und zum ersten Mal in der Geschichte versucht man, nach seinen
Worten zu leben und Freiheit für alle Menschen und alle die
verschiedenen Völker des Landes zu schaffen. Auf diesen Plätzen
versammeln sich vor allem gegen Abend wahre Menschenmassen, Alte und
Junge und Kinder, um sich unter den riesigen Bäumen und an blühenden
Beeten zu erfrischen, um zu reden, Gesängen zuzuhören, Theorien
politischer oder religiöser Eiferer zu lauschen, mit den Kindern zu
spielen oder den Eichhörnchen oder Iguanen zuzuschauen. Büsten und
Statuen von Bolívar sind oft mit Blumen und Kränzen geschmückt. Es
herrscht immer eine etwas ruhige und festliche Atmosphäre in den
Parks, selbst wenn Kinder Tauben jagen oder Jungens ein bisschen
bolzen.
Auf die Plaza
Bolívar in Caracas kam jeden Mittwoch und Sonntag Abend ein
richtiger Troubadur, der bessere Tage gesehen hatte. In den 70-er
Jahren hatte er in Ost-Berlin den dritten Platz bei einem großen
Musikwettbewerb gewonnen. Jetzt war er schon recht alt und hatte eine
Reihe Vorderzähne verloren, sah aber immer noch gut aus und war sehr
charmant. Er hatte ein großes Repertoire von Liedern und Balladen
verschiedenster Art, die er mit schöner Stimme vortrug und auf der
Guitarre begleitete. Es waren Volkslieder und politische Lieder,
Lieder von Parra, Sosa und anderen. Immer hörten viele zu und
applaudierten. Er bekam eine Kleinigkeit selbst von Leuten, denen es
offensichtlich selbst nicht besonders gut ging.
Im übrigen
ist Venezuela das Land der Büsten und Statuen. Ich habe niemals so
viele gesehen, nicht einmal in Spanien. Nicht nur Bolívar wird
gehuldigt, sondern auch seinen Mitkämpfern Sucre, Paéz, Brion usw.,
seinem Lehrer Rodriguez,seinem Freund Alexander v. Humboldt; ich fand
sogar eine Statue von Charlie Chaplin und Ibn Chaldun, dem großen
maghrebinisch-arabischen Historiker, Verfasser der ersten
Weltgeschichte. Welches europäische Land würde auf die Idee kommen,
einem großen Araber ein Denkmal zu setzen?
Als ich durch
Caracas wanderte, dachte ich oft an Humboldt, der vor über 200
Jahren über die Stadt schrieb:
Wir bleiben,
geliebter Bruder, ein paar Monate in Caracas. Wir sind hier in dem
göttlichsten und reichsten Lande. Wunderbare Pflanzen, Zitterale,
Tiger, Gürteltiere, Affen, Papageien und viele wirkliche, halbwilde
Indios, eine schöne, interessante Rasse. Caracas hat auf Grund der
nahe liegenden Schneeberge das kühlste und gesündeste Klima in
Amerika …
Heute sind wir
nicht mehr so verblüfft wie er über die Flora und Fauna, da wir
viele der schönen Blumen, auch Orchideen im Blumengeschäft um die
Ecke kaufen können. Und Papageien im Zoogeschäft. Aber sicher kann
man immer noch staunen, z. B. über die gewaltigen Bäume mit großen
roten, gelben, violetten, weißen Blüten, die Caoba- oder
Mahagonibäume, andere wieder mit großen Dornen oder Dornenbüscheln
entlang des ganzen Stammes, 30 m hohe Bambushaine und all die bunten
Vögel, die wir nicht kennen. Dasselbe Gefühl hatte ich in Afrika –
wie ein Kind, das ständig Mama fragen will: Was ist das? Wie heisst
das?
Aber eine Mama
gibt es seit langem nicht mehr.
Der Schuss in den Fuß
Im Gewimmel der
Straßen in Caracas bemerkt man schnell die zahllosen Kinder und
Jugendlichen mit hellblauen Hemden oder Blusen und dunkelblauen Hosen
oder Röcken. Alle auf dem Weg von oder zur Schule oder Instituten.
Die Regierung setzt stark auf Ausbildung und ist sich sehr wohl
bewusst, dass beinahe die Hälfte der Bevölkerung 19 Jahre oder
jünger ist. Diese Politik bekam einen extra Kick, als Venezuela als
„vom Analphabetismus befreit“ erklärt wurde (Beschluss der
UNESCO). Ich erinnere mich meines ersten Frankreich- Besuchs in den
50-er Jahren und mein Erschrecken über alle die Schuluniformen, die
ebenfalls blau waren. Ich versöhnte mich einigermaßen mit den
hässlichen Uniformen, als ich erfuhr, dass es im Namen der
Gleichheit geschah. Hier kleiden die Uniformen allerdings die
Mädchen und Jungen sehr gut, so dass ich den Verdacht habe, man habe
einen französischen Couturier angeheuert.
Das Gedränge auf
den Straßen, Avenuen und Autobahnen ist, wie gesagt, chaotisch. Alle
fahren, wie es ihnen passt. Trotzdem sah ich nicht ein einziges, noch
so kleines Unglück. Man nimmt praktisch Rücksicht und die Hupe wird
selten benutzt. Wie oft sah ich nicht einen Bus mitten auf der Straße
halten, weil der Chauffeur eine empanada oder Limonade kaufen
musste oder jemand aussteigen wollte. Dafür hat man Verständnis.
Und sie weichen sogar Hunden aus. In kleineren Orten können die
mitten auf der Straße liegen und alle Autos fahren um sie herum. In
Paragua sah ich, wie ein Auto ziemlich dicht an einem Hund
vorbeifuhr, ihn vielleicht sogar berührte. Jedenfalls wurde der Hund
so wütend und jagte das Teufelsauto bis hinunter zum Hafen und
bellte den Chauffeur wie verrückt an.
Im übrigen las
ich in einem ziemlich neuen Reisehandbuch (2004), dass die
Venezolaner wie besessen rauchten. Wenn das stimmt, dann ist es ihnen
innerhalb von zwei Jahren gelungen, die Leute dazu zu bringen, mit
dem Rauchen aufzuhören. In Restaurants, Cafés, Bussen, U-Bahn,
Flugplätzen und sogar in dem riesigen Nationalpark El Ávila
oberhalb von Caracas ist das Rauchen streng verboten.
Zigarettenreklame habe ich nirgends gesehen. Da ich wusste, dass im
Land Tabak angebaut wird, nahm ich keine Zigarillos mit. Das habe ich
sehr bereut, weil sie dort doppelt so teuer und schwer zu bekommen
sind.
Da ich die
Angewohnheit habe, nicht vor dem Frühstück zu rauchen und außerdem
immer sehr früh aufstehe, war es selbst in Großstädten ein
Problem, wenigstens eine Tasse Kaffee zu bekommen. Aber ich liebe die
Morgenstunden in Großstädten, wenn das Leben sachte erwacht, der
Nachtnebel steigt, die Vögel zu zwitschern beginnen und die
Menschen, teils munter, teils verschlafen an den Busstationen und
U-Bahn- Stationen zusammenströmen. In Caracas tauchten die ersten
Kaffeeverkäufer frühestens um 5.30 auf und um 6.00 kamen die ersten
Zeitungsverkäufer zu ihren festen Verkaufsplätzen, wo die
Lieferwagen schon die großen Zeitungsballen hingeworfen hatten, um
sie auszupacken und wie in Frankreich und Spanien auf dem Gehweg
auszubreiten. Dann drängen sich allmählich die Leute um sie, nehmen
sich ihre Zeitung, werfen ein paar Münzen auf einen Haufen oder
halten Scheine hin und warten auf das Wechselgeld.
Erst am sechsten
Tag bekam ich die einzige Regierungszeitung VEA zu fassen.
Ultimas Noticias, El Naconal, La Voz, die ich zuerst gekauft
hatte, gefielen mir nicht. Die unterschieden sich kaum von unsereren
Blättern des Mainstream. Dass ich die VEA erst so spät
entdeckte, liegt daran, dass viele Kioske die Zeitung boykottieren
und sie oft erst spät geliefert wird. In Paragua, dem sehr großen
Dorf bzw. Kleinstadt, weit unten im Süden, war sie nirgends zu
erhalten. Als ich einen Typ in einem Geschäft fragte, sagte er, dass
man sie nicht bekam. Das war natürlich eine faustdicke Lüge!
Es ergab
sich, dass ich Zeuge wurde von mehreren großen Skandalen in
schneller Folge. Am 2. April wurde der ermordete Unternehmer Filippo
Sindoni gefunden, der ein paar Wochen zuvor gekidnapt worden war. Nur
zwei Tage später fand man die drei Söhne des Unternehmers Faddoul
und deren Chauffeur ermordet, nachdem sie eine längere Zeit als
Geiseln gehalten worden waren. Und am folgenden Tag wurde der
bekannte Pressefotograf Aguirre ermordet.
Da sah die
Oligarchie natürlich ihre Chance. Deren Schmierblätter erschienen
mit JUSTITIA (Gerechtigkeit!) in Riesenbuchstaben auf der ersten
Seite. Auch am 4. April, als die Faddoul-Kinder gefunden wurden,
organisierte die Reaktion eine Demonstration mitten in Caracas, dort,
wo die 8-spurige Autobahn und die Hauptschlagader an den feinen
Vierteln vorbei-kommen. Ein paar hundert Personen legten sich mitten
auf die Straße. Und die Polizei ließ sie machen. Man wagt gar nicht
dauszudenken, was geschähe, wenn regierungsfeindliche Demonstranten
sich in Deutschland so aufführten.
Über Nacht
tauchten überall Anschläge auf mit LUTO ACTIVO! (Aktive Trauer!),
auf Laternenpfähle, Bäume, Mauern, auf Autos und Taxis außen oder
innen geklebt, selbst in den Dörfern rund um Caracas. Mit dem Ruf
nach Gerechtigkeit hatte man also insinuiert, dass die Regierung die
Verantwortung für die Schandtat habe oder zumindest Teil daran habe.
Und mit Aktiver Trauer! meinte man nichts anderes als Sabotage.
Daraus wurde
nichts. Schnell hatte man die Mörder ergriffen. Im Fall Sindoni
waren es mehrere portugiesische Geschäftsleute in Zusammenarbeit mit
korrupten Polizisten. Vielleicht hatte Sindoni – Freund von Hugo
Chávez – ihnen irgendwelche dunklen Geschäfte vermasselt. Im Fall
Faddoul waren es bewaffnete Mitglieder der kolumbianischen
Todesschwadronen, die nach Venezuela eindringen, um neue
Arbeitsaufgaben zu suchen. Die Motive sind noch nicht klar. Nicht
einmal Lösegeld wurde verlangt.
Und nun saßen die
Kapitalisten da mit dem Fazit in Händen: ihre eigenen Leute hatten
in Maskopie mit Mafiosis gekidnapt, erpresst und gemordet. Und für
diese Typen hatten sie sich engagiert - und sich wieder einmal selbst
entlarvt. Die „Massendemonstrationen“ sind eine klägliche
Veranstaltung mit ein paar hundert Leuten geworden, wo man doch ein
paar Hunderttausend erwartet hatte. Ein Schuss in den eigenen Fuß
sozusagen.
Ebenso übel ging
es ein oder zwei Wochen später zu, als ein hoher Priester in einem
Hotel mitten in der Stadt ermordet aufgefunden wurde. Mein erster
Gedanke war: Was hatte der Satan dort mitten in der Nacht in einem
Viertel zu suchen, das nicht gerade übel beleumdet war, aber naja.
Mitten ins Schwarze. Es kam heraus, dass er unter Drogen stand und
sein Arsch übel zugerichtet war. Der Mörder wurde auch schnell
gefunden, aber kein Motiv. Mit dem lahmen Versuch, aus der
Angelegenheit einen Vorteil zu ziehen, hatte die Reaktion auch kein
Glück.
Von Seite der
Regierung wurden ein paar schnelle Schachzüge gemacht. Als erstes
wird der gesamte Polizeiapparat reorganisiert und gründlich
durchleuchtet. Zweitens wurde eine Maßnahme ergriffen, die
vielleicht einmalig in der ganzen Welt ist: Alle Polizisten und
Militärs, die in der Öffentlichkeit auftreten, müssen ein
Schildchen tragen, auf dem deutlich ihr Name, ihre Einheit und ihre
Stationierung zu erkennen ist. Dies sind die Dinge, die Chávez vor
allem auszeichnen: er handelt schnell, effektiv und mit einem Gefühl
für das Richtige.
Aber er kann auch
warten und sehr vorsichtig zu Wege gehen. Als die Beziehungen zur
Kirche sehr angespannt wurden, nachdem Dupuy, der päpstliche
Nuntius, und mehrere Bischöfe sich tief in den Staatsstreich 2002
verwickelt hatten. Ich glaube, dass Chávez in diesem Fall Hilfe vom
neuen Papst erhalten hat. Denn der setzte als neuen Kardinal und
Kirchenfürsten nicht einen der ultrareaktionären Bischöfe ein,
sondern Jorge Urosa Savino, ein gewiss konservativer, doch
vernünftigr Mann, der auf Zusammenarbeit mit Chávez setzt und der
ein gewisses Verständnis für dessen Politik zeigt. Er ist
„intelligent und schlau (und) zieht es vor, eine Politik in
Übereinstimmung mit den Umständen zu führen und sich mit Geschick
und Takt zu bewegen“, wie Marciano schreibt, VEAs glänzender
Kommentator (2006-04-21). Und allmählich glückte es Chávez, dem
gläubigen Katholiken, mehrere wichtige Figuren aus der katholischen
Hierarchie auf seine Seite zu ziehen.
Der nächste
Skandal war eine ernste Provokation des amerikanischen Botschafters
Brownsfield, der sich auf ein Sportzentrum begab, ohne die
venezolanischen Behörden zu unterrichten und ohne sich anzumelden,
sondern er fing einfach an, Jugendliche zu agitieren und kleine
Geschenke zu verteilen. Am Ende wurde er davongejagt, und er bekam
wohl auch ein paar Bälle ab oder Tomaten. Natürlich empörten sich
die Yankees und redeten von einem ernsten Zwischenfall. Chávez
konterte und warnte den Botschafter, dass er seine Koffer packen
könne, wenn er sich nicht den diplomatischen Gepflogenheiten
entsprechend verhielte.
Kurz bevor ich
abreiste, ereignete sich ein wirklich ernster Zwischenfall – und
mehr als das. Ohne Vorwarnung, wie es üblich ist, begannen die
Amerikaner ein großes Manöver der Kriegsmarine vor der
venezolanischen Küste mit Flugzeugträgern und allem durchzuführen.
Über die Absicht damit schrieb die VEA (2006-04-25) unter dem
Titel 'La intimidación como arma' (Die Einschüchterung als Waffe):
„Einschüchterung ist in der Politik oft als Waffe eingesetzt
worden … Die Nazis stellten im 1. Weltkrieg die Kommunisten als
Verursacher der Hungersnot und allem sonstigen Elend dar, womit man
Stimmung schuf für die Invasion ausländischer Mächte in Russland,
um die sozialistische Revolution Lenins und die Bolschewiken
auszuschalten. Gleichzeitig trieb diese Einschüchterungspropaganda
die deutsche Mittelklasse in die Arme der Nazis, um sich vor den
Bolschewiken zu retten.
Vor der
Pråsidentenwahl im Herbst zielt die Einschüchterungspolitik der
Bush-Regierung darauf ab, eine Wiederwahl von Chávez mit den
Schrecken eines Krieges mit den USA, einer Invasion venozolanischen
Territoriums durch amerikanische Truppen und einer aufgezwungenen
blutigen Militätdiktatur in Verbindung zu bringen.
Aber niemand soll
sich von dieser apokalyptischen Vision in die Irre führen lassen.
Die Bush-Regierung ist nicht in der Lage, noch einen Krieg zu führen.
Die sitzt im Sumpf in Irak ohne Aussicht auf einen Sieg und kann sich
nicht auf andere internationale Abenteuer einlassen (Iran, Syrien,
Korea) ohne Unterstützung des Volkes im eigenen Land; deren
Einschüchterungspolitik ist nichts anderes als Arroganz, die niemals
Venezuelas Volk, seine revolutionäre Regierung und Streitkräfte
einschüchtern kann.“
Als Gegenmaßnahme
führte die venezolanische Armee zusammen mit der Miliz eine große
militärische Übung zur Verteidigung der Küste durch. Die Miliz
umfasst bereits mehr als eine Million freiwillige Männer und Frauen,
die sich der amerikanischen militärischen und ökonomischen
Verheerungen in der Welt und seit 200 Jahren in Lateinamerika sehr
wohl bewusst sind. Außerdem hat Chávez die USA gewarnt, dass alle
Erdölanlagen bei einer Invasion gesprengt werden.
Südwärts
Es kam die
Osterwoche, Semana Santa, die heilige Woche, wie man auf
spanisch sagt. Da fuhr ich nach Süden, um dem größten Trubel in
Caracas zu entgehen. Zuerst mit einem drei Wochen alten Volvo
Doppeldeckerbus – wie ich ihn in Schweden noch nicht gesehen hatte
– 600 km nach Ciudad Bolívar am Orinoco-Fluss. Dank der
Klimaanlage im Bus bekam ich eine fürchterliche Erkältung, die mich
für beinahe 2 Tage lähmte. Als ich Ciudad Bolívar ankam, war alles
bereits voll, aber durch reines Glück erhielt ich ein Zimmer in
einer sehr schönen posada im alten Stadtteil, die zum
Weltkulturerbe erklärt worden ist.
Am ersten Tag
schleppte ich mich zum Platz Bolívar, um wenigsten einen Blick auf
das große Haus werfen zu können, wo Bolívar 1819 mitten im Krieg
Venezuelas Unabhängigkeit erklärte. Dann ging ich zu der schönen
Promenade Orinoco, eine breite Allee längs des Orinoco, der gerade
seinen niedrigsten Wasserstand erreicht hatte. In der Regenzeit
steigt er um 15 m. Die Kolonialhäuser mit ihren Arkaden waren meist
im Besitz von großen Kaufleuten, die alle die Waren in Empfang
nahmen, die aus Europa per Schiff eingeführt wurden. In einem dieser
Häuser befindet sich heute ein Museum mit der kleinen Druckerpresse,
auf der die erste Zeitung Venezuelas 1818 gedruckt wurde. Auch gibt
es dort ein paar schöne Skulpturen und Gemälde zu sehen.
Nach zwei Tagen
war ich einigermaßen wiederhergestellt, um einen Bus (ohne
Klimaanlage) nach Paragua nehmen zu können, 200 km weiter südlich
an einem von Orinocos vielen Nebenflüssen, der ebenfalls Paragua
heisst. Auf dem Weg dorthin konnte ich zumindest einen Schimmer von
den Tepuis – den gewaltigen, bis zu 3000 m hohen Tafelbergen - in
der Ferne erhaschen. Sie gehören zu den ältesten Bergen der Erde –
es gab sie bereits auf dem ersten und einzigen Kontinent Gondwana. In
Jahrmillionen sind die Berge in unterschiedliche Teile zerrissen
worden, die im Süden Venezuelas landeten. Dort liegen sie mitten im
Dschungel und erheben sich senkrecht aus der Ebene. Und dort oben –
die Plateaus sind meistens in Wolken gehüllt – gibt es, abgetrennt
von der übrigen Welt ein Leben an Flora und Fauna, das häufig
endemisch ist, d. h. es gibt sie nur dort und nirgend anderswo. Dort
gibt es auch den höchsten Wasserfall der Welt – fast 1000 m hoch.
Paragua liegt
mitten in einem großen Anbaugebiet von Mais mit riesigen
Weideflächen für Rinder, und dort erlebte ich auch einen der ersten
zeitigen Wolkenbrüche der Säson. Man glaubt, da oben öffnet ein
Kerl ein paar Schleusen, so dass die Wassermassen auf einmal
herunterklatschen. Obwohl der Wolkenbruch nicht zu den schlimmsten
gehörte, verursachte er doch recht große Überschwemmungen.
Paragua, der ca.
600 m breite Fluss ist reich an Fisch, Gold und Diamanten. Unten am
Hafen liegen eine ganze Reihe von Baggerschiffen, die Gold und
Diamanten fördern. Den Fisch fangen Männer mit ihren schnellen von
Yamahamotoren getriebenen Pirogen (so nennen die Leute selbst ihre
Boote und das Wort stammt auch aus der Karibik. Allerdings wird
gemeinhin heute unter Piroge ein Einbaum verstanden, dessen Seiten
durch Bretter erhöht werden, was die Indios nicht machen. Der
Oberbegriff ist Kanu.). Und was für Fische! Ich aß jeden Tag einen
anderen Fisch in den kleinen Restaurants am Hafen, ohne sagen zu
können, welcher am besten war.
100 km weiter
flussabwärts mündet der Fluss in das zwweitgrößte Wassermagazin
der Welt – ein riesiger See vom 4250 km². Achtmal so groß wie der
Bodensee. Flussaufwärts gibt es nur noch kleine Dörfer der Indios,
die oft herunter nach Paragua zum Einkauf kommen. Scheu, schön und
liebenswert erledigen sie ihre Angelegenheiten.
Als ich eines
Morgens im Fluss badete, als das Wasser noch etwas erfrischend war,
traf ich ein paar Burschen, die gerade mit einem großen Kübel voll
Fisch zurückkamen. Da gab es einen großen, der einem Hecht ähnelte,
und eine Menge kleinere, die Barschen ähnelten. Der Fisch wurde
geputzt, ein riesiger Topf herbeigeschafft, ein kleiner Junge zündete
ein Feuer an und natürlich wurde ich eingeladen. Aber da es schon
Mittagszeit war, ging ich zu einem Restaurant, versprach aber, am
Nachmitttag wiederzukommen.
Und das tat ich
auch. Es war der Abend vor Ostern und die Jungs, deren Kinder und ein
Großvater hatten gut gegessen und waren in Feststimmung. Eine
gewaltige Gefriertasche stand in der Mitte und alle, außer den
Babies, hatte seine Bierebüchse in der Hand. So bald sie leer war,
griff man nach der nächsten. Auf der anderen Seite des Flusses
hatten hunderte von Menschen ihre Zelte oder einfach Plastikplanen
gegen die Sonne aufgeschlagen, es gab eine Band und es wurde getanzt.
Auf einem Hügel ein Stück entfernt lag ein großes Militärlager,
und deshalb gab es auch eine Fähre, die sogar Autos transportieren
konnte. Sie lief an einem Stahlseil entlang und wurde von einer
Piroge mit Yamahamotor geschoben.
Wir saßen und
tranken und machten Scherze, als plötzlich ein Schrei 50 m entfernt
zu hören war: Das Mädchen! Wo ist das Mädchen! Alle rannten
dorthin. Ein älterer Mann, bei dem die Jungs zu Besuch waren,
schwamm bereits im Fluss. Eine Frau schrie: Nein, nicht dort! Dort!
Und zeigte auf eine Stelle weiter weg. Er tauchte und fand nichts.
Das Wasser war trübe von dem vielen Regen und er konnte nur den
Boden abtasten. Er schwamm zurück zu der Stelle, wo er zuerst
gewesen war. Und kam hoch mit dem Mädchen. Die Mutter schrie auf.
Ein junger Mann packte das Kind und rannte 100 m bis zur Straße und
dem Auto und die Mama hinterher.
Wir saßen noch
eine Weile und diskutierten und fuhren dann mit zwei Pirogen auf die
andere Seite. Meine Kumpel kannten den Sänger der Band und stellten
mich vor: Ein Freund aus Schweden! Und alle applaudierten. Dann
spielten sie. Meine Freunde forderten ein junges Mädchen auf, das
bereits tanzte, mit mir zu tanzen und das tat sie auch. Wir tanzten
etwas frech zum Vergnügen aller. Der zweite Tanz war zu Ende und ich
auch. Da trat ein Soldat ans Mikrofon und sagte, dass er vom
Krankenhaus die Nachricht erhalten habe, dass man das Mädchen
wiederbeleben konnte. Jubel brach aus und alle klatschten in die
Hände und man hob die Gläser, d. h. die Bierbüchsen. Nach einer
Viertel Stunde begann erneut die Musik. Da kam ein Offizier und
teilte mit, dass das Mädchen leider gestorben sei. Und er schlug
vor, das Fest aus Solidarität mit der Familie zu beenden. Das wurde
einstimmig angenommen und innerhalb einer halben Stunde war alles
zusammengepackt und dutzende kleine und große Pirogen jagten zurück
nach Paragua. Ein trauriges Ende zum Auftakt für Ostern. Und ich war
erstaunt, mit welcher Selbstverständlichkeit hier Solidarität geübt
wurde – sogar von den Soldaten.
Das Endergebnis
der Osterfeiertage war, das von 27 Millionen Venezolanern 14
Millionen ein paar Tage Ferien gemacht hatten. Alle Hotels waren
ausgebucht, hunderte Extrabusse waren eingesetzt worden. Und
erfreulicherweise hatte es nur sehr wenig Verkehrsunfälle gegeben.
Nur Tage vor dem
großen Trubel hatten die Oppositionszeitungen mit Großbuchstaben
berichtet: DAS VOLK HUNGERT. Lachhaft. Ich wunderte mich oft, wie
viel Essen die Leute auf ihren Tellern an Essständen und in
Restaurants zurückließen, und wieviel Essen im Müll landete,
selbst in einfachen Vierteln. Ich habe keine Bettler gesehen oder
getroffen und die zwei Obdachlosen in einer Nische neben dem Hotel –
jung, gesund und immer guter Laune – hatten oft große Esstöpfe
vor sich stehen. Ich glaube, sie waren auf die Essensreste der
Restaurants rundherum abonniert.
Aber meine
Beobachtungen bedeuten nicht, dass das Problem der Armut gelöst sei.
Weit entfernt. In der VEA vom 21. April 2006 wurden die
Entbehrungen der Obdachlosen auf einer ganzen Seite behandelt. „Arme
und Drogenabhängige sind eine andere Seite der Armut, die heute
beinahe die Hälfte der Bevölkerung betrifft“, hieß es. Gewiss
ist die Armut seit 2003 von 80% (andere Quellen sprechen von 60%) auf
weniger als 37% gesunken (Lippmann am 7. Juli 2006), aber für die
übrigen Obdachlosen ist das ein geringer Trost. Die Casa-Hogar El
Conde ist eine von vier Einrichtungen, die Obdachlose aufnehmen.
Dort befinden sich jetzt 80 Personen, die Essen, ein Bett und
Behandlung ihrer Krankheiten erhalten. Wer kann, hilft in der Küche,
im Garten oder beim Putzen mit.
Eine andere
Organisation ist die Misión Negra Hipólita, die im Januar
2005 gegründet wurde und in diesem Jahr spezielle Unterstützung
durch den Präsidenten erfuhr. Allein in Caracas hat sie bereits vier
Stellen, wo man Obdachlose aufnimmt und ihnen auf verschiedenste
Weise behilflich ist. Das Hauptziel ist, diese Leute wieder in die
Gesellschaft zu integrieren.
Am 26.4.2006
schrieb die VEA über eine Werkstatt, die von mehreren
Organisationen in Zusammenarbeit mit dem Ministerium für die
Mitarbeit des Volkes und soziale Entwicklung gegründet wurde, um
„Educadores de Calle“ - auf neudeutsch streetworker
oder Straßenerzieher oder Informatoren auszubilden, als Stütze und
Hilfe für Obdachlose, um dafür zu sorgen, dass sie wieder in die
Gesellschaft integriert werden.
Im übrigen habe
ich selbst sowohl in Caracas als auch in Mérida zwei Restaurants für
Leute gesehen, denen es schlecht geht. Ordentlich, sauber und luftig.
Keine Suppenküchen im Keller. Und in den Schulen erhalten alle
Kinder dreimal Essen täglich.
Mercál-Gechäfte,
die an die alte kooperative Konsum-Idee anknüpfen, wo man bis zu 50%
billiger als in normalen Geschäften einkaufen kann, habe ich eine
ganze Menge in armen Vierteln, im Dorf Tabay westlich von Mérida und
in Mérida selbst sogar zwei gesehen. Allerdings war der eine Laden
geschlossen und als ich im anderen fragte Warum, da konnte man nicht
darauf antworten. In vielen Artikeln bekommt man die Vorstellung,
dass dort alles 50% billiger sei. Das stimmt nicht. Markenwaren gibt
es nur billiger, da sie in großen Mengen eingekauft werden.
Die Misión
Mercál ist keine isolierte Erscheinung, sondern hängt mit den
anderen misiones zusammen, vor allem mit der Misión
Zamora, der großen Landverteilung. Beinahe 2 Millionen Hektar
Land sind an 1,5 Millionen Familien verteilt worden. Das Ziel ist
nicht nur, die Armut zurückzudrängen und für viele Leute ein
anständiges Leben zu schaffen, sondern auch die Erhöhung der
einheimischen Produktion an Nahrungsmitteln. Dadurch soll die
Abhängigkeit von Importen verringert werden, die Qualität erhöht
werden und sollen Milliarden Dollar eingespart werden. Mercál bietet
nicht nur den neuen Produzenten sondern auch den vielen Kooperativen,
die im Zusammenhang mit der Misión Zamora entstanden sind,
sichere und gerechte Aufkaufspreise.
All dies hört
sich ziemlich einfach an, aber so ist es leider nicht. Jede einzelne
Verbesserung, jedes neue Gesetz, jede Misión muss gegen
reaktionäre Politiker durchgesetzt werden (viele Dörfer, Städte
und selbst einige Teilstaaten befinden sich immer noch in der Hand
der Opposition), gegen Bürokraten und nicht zuletzt gegen korrupte
Elemente in Chávez' eigener Partei, die obstruieren, sabotieren und
unterschlagen. D. h. genau die gleichen Elemente, mit denen sich
bereits Lenin, Mao und andere Revolutionäre herumschlagen mussten.
Und dann wird jedes Misslingen, jeder Fehler und jede Verzögerung zu
einem Knüppel im Arsenal der Reaktion, um höhnisch auf das
Unvermögen der Regierung zu verweisen.
Die Presse in und über Venezuela
Am 2. Juli 2006 lese ich im Expressen (größte rechte Tageszeitung in Schweden) folgendes: „Was Chávez, Argentiniens Kirchner und Boliviens Morales vereint, ist der Populismus und Nationalismus, mehr als die notwendigen sozialen Reformen, derer die ärmsten Bewohner so dringend bedürfen. Besonders im Fall Chávez ist auch der mangelnde Respekt für Demokratie und Meinungsfreiheit ein Eckpfeiler seines politischen Handelns.“
Am 2. Juli 2006 lese ich im Expressen (größte rechte Tageszeitung in Schweden) folgendes: „Was Chávez, Argentiniens Kirchner und Boliviens Morales vereint, ist der Populismus und Nationalismus, mehr als die notwendigen sozialen Reformen, derer die ärmsten Bewohner so dringend bedürfen. Besonders im Fall Chávez ist auch der mangelnde Respekt für Demokratie und Meinungsfreiheit ein Eckpfeiler seines politischen Handelns.“
Worauf gründet
dieser Demokratieombudsman vom Expressen seine Meinung?
Dass es nicht reicht, wenn die Reaktion nur 90% aller Zeitungen
besitzt, nur 90% aller Radio- und Fernsehstationen kontrolliert, nur
258 Bücher mit Hetze gegen Chávez herausgeben konnte, während
ganze 3 (DREI) pro-Chávez-Bücher erschienen sind? Ist er in
Venezuela gewesen? Spricht er nur ein Wort spanisch? Hat er gelesen
und gesehen, was die Oligarchie täglich ausspuckt? Dass 95 % ihrer
Anklagen und Anzeigen auf Lügen beruhen und jeder Grundlage
entbehren, das spielt gar keine Rolle. Und seit wann sind die armen
Leute der Expressen ans Herz gewachsen? Pfui Teufel!
Was solche Typen
wie ihn (oder sie – der Artikel ist nicht signiert – auch
typisch) zur Weißglut bringt, ist nur, dass Chávez gegenhielt, als
er von dem Weißen Haus und seinem ausgewählten Präsidenten
beleidigt wurde. Dass er nicht gehorsam seine Petrodollar den USA
überlässt, wie es die Araber tun. Dass er – das Schlimmste von
allem – die ALCA (Asociación Latinoamericano de Libre Comercio –
Freihandelsabkommen mit den USA) versenkt hat, das
Freihandelsflaggschiff der USA, und stattdessen ALBA (Alternativa
Bolivariana para las Americas – Bolivarische Alternative für
Amerika – eine demokratisch aufgebaute Handelsorganisation zwischen
lateinamerikanischen Staaten. Außerdem hat alba auf spanisch die
Bedeutung 'Morgenröte'.) zielstrebig aufbaut.
Dass er Telesur
aufbaut – ein Gegengewicht zum westlichen Medienlügenmonopol. So
etwas tut man einfach nicht, wenn man Mitglied im feinen, westlichen
Demokratieklub sein will.
Nach diesem einen
Beispiel von CIA-inspirierter Lügenpropaganda reicht es mir. Man
könnte stundenlang weitermachen, jede einzelne Zeitung, Zeitschrift,
Radio- oder Fernsehstation aufzulisten und sich mit deren Lügen
herumschlagen und man würde dennoch nie fertig werden. Als
Faustregel kann man sagen, dass derjenige, der von der Westpresse
gelobt wird, ein Stinkstiefel ist und andersherum. Wen es
interessiert, der kann bei MediaLens hier hineinschauen
http://medialens.org/index.php?option=com_content&view=section&layout=blog&id=1&Itemid=8
, wo die britischen Medien regelmäßig auf ihren Wahrheitsgehalt
untersucht werden, und die auch ausgezeichnete Analysen über die
Hetze gegen Chávez haben.
Ich will nur ein
kleines Beispiel von den Ansichten geben, die Venezolaner über diese
Vorwürfe haben. Zum Beispiel, dass Chávez autoritär sei. In der
VEA vom 19.04.06 lesen wir: „Chávez hat weder mehr oder
weniger sondern genau dieselbe Autorität, wie sie Rómulo Betancourt
und Rafael Caldera zu ihrer Zeit hatten. Trotzdem haben die aktuellen
Kritiker sie vorbehaltlos unterstützt. Was ist der Unterschied? Der
Unterschied ist, dass Betancourt und Caldera die staatliche
Autorität anwandten, um das ungerechte und ungleiche System zu
verteidigen, das auf der Herrschaft der Reichen und der
Großgrundbesitzer und den Bedingungen der USA basiert, während
Chávez die Autorität benutzt, um einen revolutionären Prozess zu
befördern mit der Perspektive, die Herrschaft der alten sozialen
Klassen zu vernichten.“
Oder Chávez
selbst im Interview mit Greg Petras zum Vorwurf, er sei
„undemokratisch“:
„Ich lade alle Bürger der ganzen
Welt ein zu kommen und frei durch alle Straßen Venezuelas zu laufen,
zu reden mit wem man will, Fernsehen zu schauen, Zeitungen zu lesen.
Wir bauen eine wirkliche Demokratie auf mit Menschenrechten für
alle, mit sozialen Rechten, Ausbildung, Gesundheitsfürsorge,
sozialer Sicherheit und Arbeit.“ (The
Progressive, Juli 06)
Und genau so habe
ich auch Venezuela erlebt.
Ich kann ehrlich
sagen, dass ich noch nie in einem Land gewesen bin, wo eine solche
Freiheit herrscht wie in Venezuela - wo man Freiheit atmen, geradezu
spüren kann.
Zum Schluss noch
eine Auffassung über ALCA von Osvaldo Martínez in Patria Grande
vom Mai 2005: „ALCA ist nicht ein einfaches Freihandelsabkommen,
das man unterschreiben kann oder auch nicht, sondern Ausdruck von
höchster Bedeutung für ein Projekt kontinentaler Herrschaft, ein
Plan für die systematische Ausplünderung, ein Konzept für die
sozio-ökonomische Entwicklung, das die Souveränität und die
Funktionen des Nationalstaates beeinflusst.
ALCA ist der Name,
unter dem dieses Projekt in gewissen Zusammenhängen auftritt, aber
sein wesentlicher Inhalt nimmt verschiedene Formen und Methoden an,
um sich gewaltsam durchzusetzen. Deshalb ist man gezwungen zu einem
vielfältigen und umfassenden Kampf, um zu verhindern, dass, auch
wenn ALCA von der Bühne verschwindet, sich dieses imperialistische
Projekt nicht trotzdem in der Wirklichkeit mit anderem Gesicht und
unter anderem Namen aufzwingt.“
Gewiss haben die
Völker in Lateinamerika eine ganze Menge über die Schliche und
Finten des Imperialismus gelernt. Ich war überrascht von dem großen
Raum im Regierungsblatt VEA, der dem Internationalismus (von
wegen Nationalismus!) gewidmet wurde, aber auch in den Reden des
Präsidenten und seinen TV-Auftritten. Und das ist es in der Tat –
der INTERNATIONALISMUS – der die wirklichen Sozialisten
auszeichnet, eine Wahrheit, die von Marx bis Mao betont wurde.
Verschwindet er, dann verschwinden auch schnell alle Gedanken an eine
wirklich gerechte Gesellschaft, was leider allzu viele Beispiele
beweisen.
Aber der
Internationalismus zeigt sich nicht nur in Worten, sondern vor allem
in der Praxis. Gewiss ist die große Leidenschaft von Chávez
Lateinamerika, d. h. von Mexiko bis Argentinien genau wie für Simon
Bolívar. Der Kontinent, der als allererster unter dem Ansturm des
weißen Kolonialismus zu leiden hatte und wo die allergrößten
Völkermorde der Geschichte verübt wurden (allein die Spanier
töteten ca. 60 Mill. der Ursprungsbevölkerung!). Der Kontinent der
Armut, der Kontinent der unnötig Kranken, der Kontinent des
Analphabetismus. Deshalb ist Chávez so viel an ALBA gelegen, am
Aufbau eines gemeinsamen Energieprojektes mit Bolivien, Paraguay,
Brasilien und liefert Öl zu solidarischen Preisen an die armen
karibischen und mittelamerikanischen Länder, die beinahe von den
hohen Erdölpreisen erdrosselt werden. Aber die Gedanken von Chávez
umfassen auch die Armen in der ganzen Welt, in den USA, in England,
wo er bei seinem vergangenen Besuch auf Einladung von Londons
Bürgermeister Livingstone ähnliche Hilfsaktionen bekanntgab wie für
die Armen in den USA.
Ich hatte die
Gelegenheit, das Fernsehprogramm zu sehen, wo Chávez 100 Menschen
aus den USA empfing, die gekommen waren, um ihm für das billige Öl
im Winter zu danken. Es waren Leute aus den Gebieten Vermont, Maine
und Rhode Island, die mit Hilfsprojekten arbeiten, es waren Schwarze
und ein Indianerhäuptling und ein Priester war auch dabei. Sie alle
waren sichtlich angetan von seiner einfachen und offenen Art, seinen
aufrichtigen Worten über Freundschaft mit dem amerikanischen Volk
und wie er spontan und ungekünstelt Menschen umarmte, die ihm kleine
Geschenke überreichten. Und wie es – auch sichtlich – ihm lästig
war, wenn man ihm zum hundertsten Male dankte. Da sagte er: „Ihr
braucht mir nicht zu danken. Ihr habt es doch selbst bezahlt.“
Verblüffte Mienen. Und da erklärte er, dass Venezuela ja
Raffinerien in den USA besäße, die zuvor niemals Gewinn abwarfen,
weil die Oligarchie das Geld in die eigene Tasche steckte, aber
jetzt, nach der Reorganisation bereits nach zwei Jahren 73 Millionen
$ auf das Pluskonto einbrachte. „Mit diesem Geld ist das Programm
bezahlt worden. Gefundenes Geld,“ sagte er zur Freude der
Versammlung.
Es heisst, dass er
es um der Macht willen tut und um seinen Einflußbereich auszudehnen.
Es ist ja ganz klar, dass ein Kapitalist und alle
Kapitalist-Presstituierten einfach nicht begreifen können, wie man
Geld verschenken kann und außerdem an das Pack. Man lässt gelten,
Geld an eine Stiftung um der eigenen Ehre willen zu schenken. Aber an
das Pack?
Hier folgt der zweite Teil.
Hier folgt der zweite Teil.
Wunderbarer Bericht, danke, Einar Schlereth!
AntwortenLöschenDanke für die uebersetzung, Einar!
Ich setze den Bericht in unsern Blog bumi bahagia (Erde glücklich, glückliche Erde - wie Indonesien - Kenner - Autor natürlich weiss :-)
http://bumibahagia.com/2014/08/21/elnar-schereth-mit-offenen-augen-durch-venezuela/
Ist das in Ordnung?
Ich bin Käseschweizer - Altknacker, der in Bali seit einem Jahr Blog macht.
Lieber Thomas, habe jetzt erst deine Seite gesehen. Sehr schön. Habe dort einen Kommentar hinterlassen. Ich sehe gerade, dass ich hier keinen link zum 2. Teil der Reportage angegeben habe. Werde ich gleich nachholen. Du kennst dann wahrscheinlich auch meine Indonesienbücher. Und vor über einem Jahr habe ich das Buch von André Vltchek 'Archipelago of Fear' übersetzt, das endlich demnächst im Zambon-Verlag erscheinen soll. Er hat auch ausführlich über Bali geschrieben. ciao
LöschenSehr schöner Bericht, Predikat: Absolut lesenswert!
AntwortenLöschenAber ich habe eine Frage zu der VEA: Warum wird sie teilw. boykottiert? Wie ist sie einzuordnen, sozialistisch, liberal oder konservativ?
In Deutschland haben wir auch das Problem der CIA-Presse: DIE ZEIT, die FAZ, DER SPIEGEL, die Springer-Medien, ARD, ZDF etc. berichten nicht neutral!
Und bei den Bilderberg-Meetings, wo die NATO-Agenda verbreitet wird, sind auch immer (angeblich neutrale, objektive) JournalistInnen dabei.