Donnerstag, 28. Januar 2016

Friedrich Engels - Der Kommunist im Gehrock – The Frock-Coated Communist


Tristam Hunt

Rezension: Einar Schlereth

27. Januar 2016

Rezension ist vielleicht zu viel gesagt, denn ich habe nicht die Absicht, mich in die Denkweise von Tristam Hunt zu vertiefen. Diese Engels-Biographie hat Hunt 2009 veröffentlicht und wie Stefan Lindgren, der sie ins Schwedische übersetzte, mir versicherte, ist es eine der wenigen heute LESBAREN Engels-Biographien, die in der langen Zeit seit seinem Tod 1895 erschienen sind.

Marx/Engels Statue in Berlin
Das Buch ist flüssig und gut und teilweise witzig geschrieben. Hunt hat enorme Mengen Material gesichtet und verwertet und ausgiebig zitiert. Störend fand ich, dass er zuweilen recht geschwätzig wird und private/intime Details ausbreitet, auf die er gut und gerne hätte verzichten können. Etwa seine Spekulationen über Engels' angebliche sexuellen Übergriffe, wovon weder er noch sonst jemand etwas wissen kann. Oder wenn er den Umgang von Engels mit les grisettes in Paris als Verkehr mit Huren bezeichnet, so ist das schlicht falsch. Grisettes waren selbständige und lebenslustige Arbeiterädchen, die sich nett anzogen und gerne mal auf ein Abenteuer mit Künstlern oder Studenten einließen.

Da ich wenig über Engels' Leben wusste, waren für mich viele Dinge neu und da vor allem, wie Engels sich von bürgerlichen Fesseln und Konventionen befreit hatte, was Familie, persönliche Freiheit und den Umgang mit Frauen anging. Er ist niemals faule Kompromisse eingegangen; seine 20-jährige 'Zwangsarbeit' im Unternehmen der Familie  in Manchester hat er freiwillig als Notwendigkeit angesehen, um seinen Freund Marx über Wasser zu halten. Neu war für mich auch, dass Marx durchaus nicht so furchtbar arm war, wie ich immer dachte und wie man aus seinen Schreiben an Engels entnehmen könnte. Es war einfach nur so, dass Marx nicht mit Geld umgehen konnte und seine adlige Frau noch weniger, wofür Hunt, selbst auch adliger Geburt, Verständnis hat. Jedenfalls ist das Gerücht, er sei von Rothschildt finanziert worden, das gerne von ultrarechten Antisemiten kolportiert wird, völlig aus der Luft gegriffen.

Engels hat sehr früh eingesehen, dass Marx das Genie war und seine große Arbeit 'Das Kapital' unbedingt geschrieben werden musste, und deswegen har er sein Opfer gebracht. Das wird auch von Hunt so gesehen, obwohl er es nicht unterlassen kann, immer wieder auf den flotten Lebensstil 'auf Kosten der Arbeiter' zu verweisen. Was soll das? Hätte er von Wasser und Brot leben sollen? Auch dann hätte er auf Kosten der Arbeiter gelebt. Und Marx, dessen Familie, Kinder, ungezählte Menschen, denen er unter die Arme gegriffen hat, unzählige Clubs, Vereine, Parteien, Zeitschriften, Genossen in der ganzen Welt wären ohne Unterstützung geblieben. Zudem muss man bedenken, dass er auch zu jener Zeit praktisch einen zweiten Job machte, der für ihn besonders wichtig war, und zwar Artikel von Marx in eine der vielen Sprachen, die er konnte, zu übersetzen, zu korrigieren, ins Reine zu schreiben, eigene Texte zu schreiben, wesentliche Beiträge zu Marxens Arbeit beizutragen, Organisationsarbeit zu leisten usw.

Nun, das sind eher Belanglosigkeiten. Hunt leistet sich aber richtige Klöpse, etwa auf S. 116, wo er schreibt: „... Engels sagte voraus, dass moderne industrielle Techniken und eine Planökonomie bedeuten, dass kommerzielle Konzentrationen im städtischen Raum unnötig werden würden. Statt dessen würden die schlechte Gesundheit und Umwelt – 'die gegenwärtige Vergiftung von Luft, Wasser und Land' – durch die Verschmelzung von Stadt und Land aufgehoben werden. Und da haben wir die Ironie, dass Engels, der große Apostel des städtischen Radikalismus, seine Tage endete, indem er eine scheußliche technokratische kommunistische Zukunft ohne bürgerliches Leben propagierte.“ [Hervorhebung von mir.]

Ich bin Hunt zwar dankbar für das Zitat, finde seinen Ausbruch aber unverständlich. Zumal dieser Gedanke fast 100 Jahre später von Mao Tsetung – den er garantiert nicht gelesen hat – aufgegriffen wurde, um genau diesen Widerspruch zu lösen. Gerade dies wäre unter den heutigen Bedingungen durchaus möglich, sogar notwendig in Anbetracht der chinesischen Mega-Städte, ohne dass kleinere
städtische Einheiten von, sagen wir 100000 Menschen, Mangel an städtischer Kultur leiden müssten.

Verdienstvoll ist, dass Hunt auf die Dummheiten von Marx und Engels eingeht in Bezug auf die 'unterlegenen Völker', die 'Völker ohne Geschichte' – zu denen sie sogar Indien zählten – und alle indigenen Völker, dass diese quasi zwangsweise untergehen müssten – im Namen des Fortschritts. In dessen Namen unterdessen genug Verbrechen geschehen sind und immer noch geschehen. Aber, und das zeigt auch die Größe von M&E, sie konnten ihre Fehler immer anhand neuer Arbeiten und wissenschaftlicher Beweise einsehen und korrigieren. Auch ihre starken Vorurteile gegen slawische Völker haben beide später korrigiert. Marx wurde geradezu russophil, als er russische lernte. Nach seinem Tod fanden sich ca. vier Kubikmeter russische Statistik im Keller, die der arme Engels auch durchsehen und ordnen musste. M&E wurden beide laut Hunt von den Narodniki beeinflusst.
Hingegen hatte Hunt damit größere Schwierigkeiten. Man höre, was er hier sagt (S. 216): „Wie Hegel den Marsch des Geistes durch die Seiten der Geschichte verfolgte, so zeichneten jetzt M&E den Aufstieg und Fall des Klassenkampfes in einem ebenso teleologischen Rahmen. Geschichte war sowohl Knechtschaft und Befreiung: progressive Verelendung bis zum finalen, erlösenden Ende mit dem Triumph des Proletariats und dem Ende des Klassenkrieges. In der Tat, das Ende der Geschichte.“ Dies lässt er erst einmal so stehen, damit es gut in die Köpfe einsickern kann. Um am Ende sich selbst zu widersprechen und zu zeigen, dass Engels keineswegs so borniert war, sondern meinte, dass zwar der Klassenkrieg zu Enge gehen würde, nicht aber die Widersprüche. Genau darüber hat Mao einen längeren Essay geschrieben, der auch der Meinung war, dass Widersprüche immer bleiben würden, aber zu Widersprüchen im Volke würden, die friedlich gelöst werden könnten.

Diese, Hunts Vorgehensweise ist leider eine Konstante. Immer wieder lässt er sich aus über das scharfe Vorgehen von Engels gegenüber Genossen in England, Deutschland, Frankreich oder sonstwo. Angeblich aus Angst um seine Position, aus Eifersucht oder weil er jemand nicht leiden konnte. Nur um am Ende einzugestehen, dass Engels nur seine und Marxens wissenschaftliche Lehre verteidigte, an der von allen möglichen Leuten immer herumgebastelt, geschnipselt, verdreht und gefeilt wurde. Ein Beispiel findet sich S. 326, wo Henry Mayers Hyndman erst als großartiger Mann geschildert wird, um am Ende als übler Plagiator von Marx entlarvt zu werden.

Hunt führt außerdem einen Vorwurf gegen Engels an, und zwar, dass er bei seiner ungeheuren und sehr zeitraubenden Arbeit an den gar nicht vorhandenen Bänden 2 und 3 des Kapitals Fälschungen, Uminterpretierungen vorgenommen sowie eigene Texte hineingeschrieben habe. Das aber ist keineswegs verwunderlich, denn diese beiden Bände gab es praktisch nicht. Das waren nur Berge von Papieren, mit ungezählten Auszügen aus der unübersehbaren Literatur, die Marx zu Rate zog, auf Papierschnipsel hingeworfene Ideen, alles ungeordnet und in einem Gekritzel, das allein Engels entziffern konnte. Dass er das mit seinen Worten verständlich darlegen musste, versteht sich von selbst. Dass er Fälschungen im Werk seines Freundes angebracht haben sollte, habe ich noch nie gehört und halte es für Unterstellung.

Hunt kommt auch auf spätere Probleme der Marxinterpretation sowohl in der deutschen als auch der russischen sozialistischen Literatur zu sprechen, wobei er entweder vereinfacht oder übertreibt. Da wären eingehende Untersuchungen vonnöten. Korsch meinte z. B. dass der Verfall in der deutschen Arbeiterbewegung (Bernsteins Revisionismus, Kautzkis Verrat 1914) eine enge Affinität mit russischen Abweichungen aufweise (etwa die Aufgabe der Dialektik).

Aber ein wirklich übler Streich von Hunt folgt am Ende, wo er seinen trotzkistischen Gefühlen endlich freien Lauf lassen kann. Nicht umsonst beginnt er das Buch mit einer Reise nach Engels, der nach ihm benannten Stadt an der Wolga, wohin er am Ende des Buches zurückkehrt. Das gibt ihm den Anlass, noch einmal zu wiederholen, dass Engels quasi die Grundlagen für Stalins Terror-Regime gelegt hat, vor allem mit seiner 'Dialektik der Natur' und dem 'Anti-Dühring'. Zwar spricht Hunt am Ende Engels gnädigerweise frei von Schuld, aber es gibt ihm Gelegenheit sämtliche, auch die groteskesten Lügen über Stalin auszubreiten, Breitseiten gegen den machthungrigen Lenin sowie Maos China und Pol Pots Kambodscha.

Dass Hunts Buch Anklang gefunden hat, verwundert mich überhaupt nicht. Gewiss hat Hunt die großen Leistungen von Engels beschrieben, aber er hat ihn auch als einen Mann wie du und ich geschildert, der gesoffen und gehurt, die armen Arbeiter ausgebeutet und den furchtbaren Stalin ermöglicht hat. Und das ist es, was garantiert hängenbleiben wird beim Otto Normalverbraucher und auch bei sogenannten Linken, wie etwa der taz vom 29. Juni 2012, die gar nichts an dem Buch auszusetzen hat.

Auf deutsch gibt es den Band beim Propyläen Verlag unter
dem Titel: Engels - der Mann, der den Marxismus erfand

4 Kommentare:

  1. Wer eine aktuelle Würdigung der Verdienste Marx und Engels sucht dem kann ich nur " Wie unrecht hatte Marx wirklich" vom Ahriman-Verlag empehlen. Das Buch zeigt auch gut den Weg auf wie man die Erkenntnisse heute umsetzen sollte, will man Erfolg haben.

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  2. Eine verdammt gute Rezension mit differenziertester Wertung eines Buches mit viel Dichtung neben der Wahrheit von einem klugen Belesenen. MfG.

    Diesen Text sandte ich meiner Tochter zum Link.

    Chapeau, Einar. Eines Tages wirst Du mir gar noch sympathisch. Die meisten Rezensenten schwanken zwischen zwei Extremen und treten das Buch entweder in die Tonne oder erheben es in den Goldstaub ferner Sterne. Deine brillante Trennung zwischen stark und schwach, zwischen Gerücht und Wirklichkeit des Verfassers machen neugierig. Danke. Und vergiss nicht METFORMIN. Mir bekommt es ganz gut. Lebe immer noch.
    Herzlichst,

    Klaus-Peter

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    1. Danke Klaus-Peter, f+ur die Lorbeeren. Ich hatte vor einem Jahr einen Crash des email-Programms, wobei massenhaft Adressen verloren gingen. Ich glaube, dass da deine auch dabei war. Naja, nun schreibe ich halt hier. Alles Gute. Einar

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  3. Eine der wichtigsten Aussagen von Engels findet sich im "Anti Dühring" : Der Sozialismus ist eine Wissenschaft und will auch so gehandhabt werden!
    Dazu sollten Intressenten mal zuallererst das "Manifest der Kommunistischen Partei" (Marx 1848) studieren!!! Die Aussagen zu heute sind verblüffend, wenn man sich die Entwicklung der menschlichen Gesellschaft anschaut. (Wer ist denn nun "Proletariat" - eben alle, die Arbeit v3rrichten für ihren Lebensunterhalt,d.h. vom Straßenfeger bis zum Topmanager), Familien, Reichtumsverteilung, Globalisierung, etc.)
    Auch die von Marx angeregten ersten Schritte zur Lösung dieser gesellschaftlichen Schieflage klingen dort an.
    Die Hunt´sche Engelskritik tut sicherlich seinem Geldbeutel gut - ansonsten hat man nichts versäumt, wenn man es nicht gelesen hat.

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