Paul Kellogg
1. November 2012
Es gab gute Gründe für das große Interesse an den Wahl-Ergebnissen „südlich der Grenze“. Die Präsidentschaft von Chávez ist im Zentrum der Sicherstellung der Souveränität in Lateinamerika und der Karibik gewesen, eine Sicherstellung der Souveränität, die eine Mauer gegen die ökonomischen, politischen und militärischen Übergriffe des Globalen Nordens errichtet hat. Um ein Beispiel für diese drei Sphären zu nehmen, hat die Mauer des Widerstands bewirkt:
- den Kollaps der Freien Handelszone der beiden Amerika (FTAA)
im Jahr 2005, die damals durchgesetzt werden sollte, jetzt aber
vollständig im Sterben liegt;
- die Entscheidung der Organisation der amerikanischen Staaten
von 2009, den Ausschluss Kubas aus der Organisation zu beenden;
- die Suspendierung 2009 der Mitgliedschaft von Honduras wegen
des rechten Staatsstreichs gegen Präsident José Manuel Zelaya.
Nichts davon wäre noch vor einigen Jahren denkbar
gewesen. Die Tatsache einer wachsenden Gruppe von Staaten, die bereit
ist, den USA zu trotzen, ist eine riesige Veränderung gegenüber
1990. Nichts davon wäre möglich gewesen ohne den Amtsantritt von
Chávez 1999, die erste Regierung seit vielen Jahren (abgesehen
natürlich von Kuba), die offen gegen die US-Hegemonie war.
Die Errungenschaften der Präsidentschaft von Chávez
werden beinahe immer von der Presse des Globalen Nordens
herabgesetzt. Dyer ist typisch, wenn er zwar zugibt, dass „die
Präsidentschaft von Chávez den Armen in vieler Weise von Nutzen
war“, was aber nur dem Öl zuzuschreiben sei. Chávez, so sagt er,
„kam in den Genuss der großen Erdölexporte und einer zehnfachen
Erhöhung des Ölpreises auf dem Weltmarkt“, so dass „fast das
ganze Wachstum der Ökonomie Venezuelas seit dem Machtantritt von
Chávez den höheren Ölpreisen zu verdanken ist“. (Dyer)
Dies ist irreführend. Alberta in Kanada hat Öl
und ist eins der entwickeltsten Gebiete der Welt. Nigeria in Afrika
hingegen hat Öl und ist in einer tiefen, lähmenden Armut und
Unterentwicklung versunken. Eine Ressource wie Erdöl für die
nationale Entwicklung zu nutzen, ist keine unfehlbare Frage, sondern
eine politische Frage, und die Situation, die Chávez bei seinem
Amtsantritt 1999 geerbt hat, war politisch gegenläufig.
Seit 1976 stand die Ölgewinnung, Raffinierung und
Verteilung unter dem Schirm einer staatseigenen Ölgesellschaft,
Petróleos de Venezuela, S. A. (PDVSA). Aber die PDVSA operierte
nicht im Interesse weder der venezolanischen Ökonomie noch der
venezolanischen Armen. Sie war in Wirklichkeit eine Front der
Erdöl-Gesellschaften des Globalen Nordens, die die meisten ihrer
Privilegien behielten und extrem geringe Royalties und Steuern
zahlte. In dem Orinoco-Ölsand zum Beispiel „reduzierte die PDVSA
die Royalties für ihre Projekte auf 1 Prozent und die venezolanische
Regierung wurde reich, aber die Ökonomie blieb in schlechter
Verfassung, die Armut wuchs und der Ölreichtum floss aus dem Lande".
Diese Situation zu ändern, erwies sich als
außerordentlich schwierig. 2006 nannte Chávez seinen Plan für die
Öl-Wirtschaft „Volle Souveränität über das Erdöl“ mit dem
Ziel, die Mehrheitskontrolle über die 32 gemeinsamen Öl-Unternehmen
zu gewinnen, indem er die Einkommenssteuer auf 50 % erhöhte und die
„Royalties für die Regierung, die nur 1 % betrugen, auf 33 %
anhob“ (Carreño 2006, Collier 2006, McNew 2008, O'Grady 2005). Im
Jahr 2000 waren die Ziele sehr viel bescheidener. Im November 2001
brachte er das Hydrocarbon-Gesetz durch, das vor allem zum Ziel
hatte, die Royalties gleitend von 20 auf 30 % zu erhöhen.
Die Quelle der Details über das
Hydrocarbon-Gesetz, ansonsten eine trockene Lektüre, ist „The Oil
Daily“. Aber interessanterweise hebt dieselbe Ausgabe dieses
Blattes einen weiteren Aspekt der Reformen von Chávez hervor, der
als problematisch angesehen wird. „Ebenfalls kontroversiell ist die
Gesetzgebung der neuen Landreform, die die Enteignung von Ländereien
erlaubt, die von der Regierung als unproduktiv angesehen werden“.
(Oil Daily 2011) Es gibt eine faszinierende Beständigkeit dieser
Befürworter der Multis, die so eifrig sind, die Interessen des
Globalen Nordens und der Privilegierten des Globalen Südens, der
Großgrundbesitzer zu verteidigen.
Es war dieser bescheidene Versuch, die Privilegien der
Öl-Industrie zu beschneiden, durch den die soziale Krise von 2002
und 2003 verursacht wurde. Die Korruption in der venezolanischen
Gesellschaft war nicht auf die Unternehmen beschränkt. Die Führer
der größten Zentral-Gewerkschaft, die 'Arbeitervereinigung von
Venezuela (CTV)' mitsamt der wichtigen Fedepetro – der
Erdöl-Gewerkschaft – vereinigte sich mit den Bossen der
Organisation, Fedemarcas, gegen Chávez. Diese perverse Front von
privilegierten Managern und korrupten Gewerkschaftlern unternahm
alles, um die Reformen zu stoppen.
Die Höhepunkte dieses Kampfes sind gut bekannt. Im
April 2002 gab es einen versuchten Staatsstreich gegen Chávez, der
durch die massive Mobilisierung der ärmsten Teile von Caracas und
eine Spaltung in der Armee vereitelt wurde. Im Winter 2002-2003 gab
es einen Streik (in Wirklichkeit einen Lockout) mit dem Zentrum in
der Ölindustrie, der die Wirtschaft in die Knie zwang. Er wurde erst
beendet, als die Arbeiter, die Chávez unterstützten, die
Angestellten, die die Opposition unterstützten, beiseiteschoben und
die Produktion wieder ankurbelten. Am Ende wurden 18 000 PDVSA
Angestellte – die Hälfte der PDVSA-Belegschaft, aber 90 % der
Angestellten“ entlassen. (Collier 2006, Clough 2008)
Erst nach einem massiven sozialen Umbruch, der fast
zwei Jahre dauerte, war Chávez in der Lage, das grundlegende Recht,
die Royalties für die Ölproduktion im Lande zu erhöhen,
sicherzustellen. Der springende Punkt is, dass es keineswegs
automatisch verläuft, in der Lage zu sein, die Profite aus der
extraktiven Industrie in die Entwicklung des Landes zu lenken, von
der sozialen Hilfe für die Armen ganz zu schweigen. Sehr starke
Klassenkräfte waren dagegen, diese wichtigen Schritte zu unternehmen. Es
brauchte zwei Jahre scharfer Klassenkämpfe, um diese bescheidenen
Reformen durchzusetzen.
Diese ganze Geschichte spielt für Kommentatoren wie
Dyer keine Rolle. Er verurteilt Chávez, weil er ein geringeres
ökonomisches Wachstum erzielt hat als Brasilien oder Kolumbien.
Natürlich ist das ökonomische Wachstum in Venezuela langsamer
gewesen. Erstens ist Brasilien die größte Ökonomie auf dem
südamerikanischen Kontinent mit einem heimischen Markt, der um das
Vielfache größer als der Venezuelas ist. Zweitens war das Wachstum
Kolumbiens die Folge, eine Marionette der USA zu sein, und der Preis seines
Wachstums war die Vertreibung von Millionen von ihrem Land, der Tod
von hunderttausenden Menschen durch die rechten Todesschwadronen.
Drittens konnte Venezuela zwar 2003 die Kontrolle über sein Öl
erlangen, aber die Ölindustrie hat sich noch nicht völlig erholt
von dem Verlust von 18 000 Fachkräften. Es ist völlig verständlich,
weshalb sie gefeuert wurden – ihre Allianz mit den Bossen der
Gewerkschaften brachte das Land an den Rand des Chaos. Aber die
moderne Erdölindustrie ist außerordentlich komplex und deren
Fähigkeiten und Expertise müssen erst nach und nach ersetzt werden.
Der erfahrene Kommentator Lateinamerikas Mike Gonzales
identifiziert in seiner Analyse der Wahlen einige echte Probleme im
zeitgenössischen Venezuela: „Wer immer mit offenen Augen durch
Venezuela reist, kann nicht umhin den auffälligen Konsum der
Bourgeoisie zu bemerken, mit ihren Shopping-Zentren und 4W-Autos mit
gefärbten Scheiben, die durch die Straßen düsen“. (Gonzales
2012) Er hat Recht. Es entwickelt sich eine neue Elite um den
Staatsapparat. Und die Privilegien der alten Elite sind immer noch
bemerkenswert intakt.
Aber Gonzales macht seine Kritik weniger überzeugend,
indem er eine verwirrende Einschätzun der Wahlergebnisse abgibt:
„Obwohl offizielle Sprecher der Regierung darauf bestehen, dass die
Stimmen für Chávez zunahmen, waren seine Stimme in Wirklichkeit,
trotz eine großen Kampagne mit immensen Mitteln, viel geringer als
jemals seit 1998“ (Gonzales 2012).
Es gibt mehrere bemerkenswerte Aspekte an dieser
Tabelle. Erstens: Die Zahl der Wählerstimmen ist explodiert. Die gesamte
Stimmenabgabe betruf 1998 nur knapp 7 Millionen. Sie stieg 2006 auf
fast 12 Millionen und auf mehr als 15 Mill. im Jahr 2012. Mehr als
doppelt so viel Leute haben 2012 gewählt wie 1998.
Dies beruht nur zum Teil auf Bevölkerungszunahme. Der
zweite Schlüsselfaktor ist die Zunahme der gesamten Wahlbeteiligung.
1998 wählten 63.76 % der Bevölkerung. 2006 stieg diese Zahl auf
74.69 % und in diesem Jahr auf die erstaunliche Zahl von 80.52 %.
Diese Wahlbeteiligung ist höher als in Kanada und weitaus höher als
in den USA. Vielleicht brauchen wir Leitartikel in der Globe and
Mail und der New York
Times, die den Mangel an
Demokratie im Globalen Norden beklagen und Venezuela für seinen
hohen Anteil an Bürgerbeteiligung bei den Wahlen loben.
Dann schaut euch die
Gesamtzahl der Stimmen für Chávez an. Er wurde 1998 mit 3.7 Mill.
Stimmen gewählt. Dies verdoppelte er fast im Jahr 2006 auf 7.3 Mill.
Und in diesem Jahr erhielt er fast 8.2 Mill Stimmen – eine Zunahme
von fast 900 000 Stimmen.
Aber die Wahlen von
2012 haben einen geringeren Gewinn für Chávez gebracht angesichts
der massiven Wahlbeteiligung. Es gab eindeutig eine
massive Mobilisierung der Rechten, um Chávez auszubooten. Dass seine
Stimmen zunahmen trotz der Flut an rechter Organisierung ist
beeindruckend.
In der Tat war es
diese Anstrengung der Rechten, die das politische Verhalten in
Venezuela prägte. Die einzige Haltung, die man bei diesen Wahlen
einnehmen konnte, bei welcher Kritik auch immer, war, Chávez zu
unterstützen, was, wie Jeffrey Webber betonte, „von fast der
Gesamtheit der venezolanischen Linken in den vergangenen Monaten
erkannt wurde, selbst in jenen Sektoren, die besonders kritisch
gegenüber den Grenzen des politischen ökonomischen Programms der
Regierung sind und dem schleichenden Einfluss einer bedeutenden
konservativen bürokratischen Schicht innerhalb der herrschenden
Partei“ (Webber 2012).
Außerhalb Venezuelas
sehen wir uns einer anderen Herausforderung gegenüber. Das große
Verbrechen von Chávez in den Augen der USA, Englands und Kanadas ist
es, dass er einer Bewegung vorsteht, die ihre Fähigkeit
eingeschränkt hat, die Ölprofite aus dem Land zu ziehen; eine
Bewegung, die stattdessen diese Profite in soziale Programme gelenkt
hat. Die Folge ist, dass die multinationalen Ölgesellschaften und
der Globale Norden nur allzu bereit sind, jede Mobilisierung des
rechten Flügels gegen Chávez zu unterstützen, und wir müssen
bereit sein, unseren Teil zu tun, sie zu bekämpfen, wenn sie derlei
Aktionen in Gang setzen werden.
Fußnoten
- Carreño, Rafael Ramírez. 2006. “Full Sovereignty Over Oil.” Sitio Web PDVSA.
- Clough, Langdon D. 2008. “Energy Profile of Venezuela.” The Encyclopedia of Earth.
- CNE. 2006. “Elección Presidencial – 3 De Diciembre De 2006.” Poder Electoral.
- 2012. “Divulgación Elección Presidencial – 07 De Octubre De 2012.” Poder Electoral.
- Collier, Robert. 2006. “Chavez Drives a Hard Bargain, but Big Oil’s Options Are Limited.” San Francisco Chronicle, September 24.
- Dyer, Gwynne. 2012. “Hugo Chavez’s Swan Song in Venezuela?: He Could Lose; He Could Die. But What He Has Built Will Survive Him.” The Spectator, October 2
- González, Mike. 2012. “Venezuela: El Chavismo Contra Un Candidato No Tan Nuevo.” En Lucha, October.
- IFES. 1998. “Election Profile for Venezuela – Results.” Election Guide.
- McNew, B. Seth. 2008. “Full Sovereignty over Oil: A Discussion of Venezuelan Oil Policy and Possible Consequences of Recent Changes.” Law and Business Review of the Americas 14: 149–158.
- O’Grady, Mary Anastasia. 2005. “Americas: Oil Wells Refuse to Obey Chavez Commands.” Wall Street Journal, May 20, sec. A.
- OAS. 2010. “Member States.” OAS – Organization of American States: Democracy for Peace, Security, and Development.
- 2012. “Member States.” OAS – Organization of American States: Democracy for Peace, Security, and Development.
- The Oil Daily. 2011. “Venezuelan Strike Poses Big Challenge.” The Oil Daily, December 10.
- Webber, Jeffrey R. 2012. “Latest Step in a Long Road: The Venezuelan Elections.” The Bullet, October 12.
Quelle - källa - source
Viva El Presidente
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