UNSER LENINGRAD
André Vltchek
Aus dem Englischen und Spanischen:
Einar Schlereth
„Niemand ist vergessen und nichts ist vergessen.“ Dies ist in Gold in den Granitstein graviert, direkt hinter der Statue des Mutterlandes (im Russischen heisst es statt Vaterland eben Mutterland und nicht wie bei Wikipedia 'Mutter Heimat'. D. Ü.), die ihre Arme in Kummer ausbreitet.
Im 2. Weltkrieg hat die Stadt Leningrad 900 Tage lang (zweieinhalb Jahre) standgehalten und einer der furchtbarsten Belagerungen in moderner Geschichte getrotzt
Sie stoppte den Vormarsch der Nazi-Truppen, widerstand dauernden Luftbombardements, bitterer Kälte, Hunger und dem Mangel an dem Allernotwendigsten. Beinahe die Häfte der Bevölkerung verschwand – von Bomben verbrannt, in Schützengräben erfroren und in ungeheizten Wohnungen oder verhungert.
Die kulturelle Hauptstadt Russlands gab ihr Äußerstes: sie erhob sich trotzig und mutig und spielte eine bedeutende Rolle bei der Besiegung des Nazismus und damit der Rettung der Welt.
Und das, während der größte Teil des Westens entweder mit dem Nazismus kollaborierte oder ihn zu „beschwichtigen“ versuchte.
Natürlich hat die UdSSR im allgemeinen und Leningrad im besonderen nicht die Welt gerettet, die der weißen Rasse gehört; sie retteten die Welt der 'Nicht -Menschen' laut den deutschen Faschisten, der auszulöschenden Wesen: Menschen des indischen Sub-Kontinents, Afrikaner, Juden, Roma, Slawen, Araber und die meisten der Asiaten.
Und durch die Zerschmetterung des Faschismus erhielt auch der Kolonialismus einen entscheidenden Schlag (da Faschismus und Kolonialismus aus demselben Stoff sind), was dutzenden Ländern in Asien und Afrika ermöglichte, die Unabhängigkeit zu gewinnen und die Freiheit. Zumindest für eine Zeit; zumindest, bis es den westlichen Längern gelang, sich neu zu formieren.
Dies wurde natürlich in den europäischen und nordamerikanischen Hauptstädten niemals verziehen. Die Sowjetunion und alle ihre Ideale und Prinzipien mussten durch den Dreck gezogen und verteufelt werden. Obwohl sie die Welt vor dem Nazismus rettete, wurde es üblich, sie mit dem faschistischen Deutschland zu vergleichen, und viele progressive westliche Intellektuellen übernahmen dieses verdrehte und beleidigende Urteil.
Als ich mich auf eine Bank nahe der Statue des Mutterlandes setzte, war ich in Gesellschaft von Artem Kirpichenok, einem der führenden russischen Historiker; ein Jude, der 15 Jahre lang in Israel lebte, aber beschloss in seine Heimatstadt St. Petersburg zurückzukehren, nachdem er desillusioniert wurde durch den Rassismus und die institutionalisierte Diskriminierung der Minoritäten in dem jüdischen Staat.
„Es ist unglaublich, dass es der westlichen Propaganda gelang, die meisten Menschen in der Welt glauben zu machen, dass der Nazismus und der sowjetische Kommunismus vergleichbar sind“, sagte ich. „Selbst einige progressive Intellektuelle sprechen beide 'ismen' in einem Atemzug aus.“
„Nazi-Deutschland, genau wie England, die USA und Frankreich basierte auf der rassistischen und kolonialistischen Denkweise, den weithin akzeptierten Prinzipien in der westlichen Bourgeoisie in den 30-er Jahren“, äußerte Artem Kirpichenok. „Hitler baute sein Imperium in Osteuropa nach dem britischen kolonialen Muster in Indien. Die Nazi-Rassen-Theorien unterschieden sich nicht allzusehr von dem Rassismus in dem Süden der USA oder von den Rassentheorien der französischen, belgischen, britischen oder holländischen Imperien, die in den Kolonien errichtet wurden. Der Kollaps des Dritten Reiches hat all diesen Idealen des Kolonialismus und Rassismus einen harten Schlag versetzt. Und der Sowjetunion konnte man hauptsächlich „die Schuld“ an diesem Kollaps geben. Die ideologische Basis der europäischen Dominanz über Asien, Afrika und Lateinamerika war beschädigt worden.“
Das konnte natürlich nie verziehen werden.
***
Während der Belagerung hob
meine Großmutter in den Vorstädten der Stadt Schützengräben aus.
Sie kämpfte gegen die Deutschen und wurde für ihren Mut mehrere
Male ausgezeichnet. Ich habe keine Idee, wie sie es anstellte, wie
sie es schaffte, zu kämpfen und zu überleben – sie war so
liebevoll, zerbrechlich und sehr scheu. Viele Jahre nach dem Krieg,
Jahre nach meiner Geburt, wenn sie mir Gedichte und Märchen vorlas,
fand ich es schwierig, mir vorzustellen, dass sie eine Kalashnikov in
der Hand hielt, Handgranaten oder selbst nur eine Schaufel. Aber das
tat sie; sie kämpfte und sie war bereit zu sterben für das, was sie
damals für eine epische Schlacht für das Überleben der Menschheit
hielt. Und sie war sehr nahe dran, bei mehreren Malen zu sterben.Sie war eine christlich-orthodoxe Dame, aber auch eine überzeugte Befürworterin des Kommunismus, eine seltene Kombination. Sie heiratete meinen Großvater, ein brillanter Moslem aus der chinesischen Minorität in Kasachstan, namens Husain Ischakov, ein Linguist und ein Gesundheitskommissar und später für die Nahrungsmittelversorgung (im Grunde ein Minister-Posten in der alten Zeit) zuständig.
Was folgte, war ein Abschnitt, der direkt aus der westlichen Propaganda hätte geholt sein können. Mein Großvater fiel bei Stalin in Ungnade, wurde verhaftet und erschossen. 1937 (die früheste Erinnerung, die meine Mutter aus ihrer „Kindheit“ hatte) beugte sich dieser große und elegante Mann über die Wiege, nahm meine Mutter in seine Arme und drückte sie an seine Brust, bevor er von den staatlichen Agenten weggeführt wurde, in die Vergessenheit und die Ewigkeit. Er weinte, als er in ihr Gesicht schaute; er wusste genau, was ihm bevorstand. Er kam niemals wieder.
Meine Großmutter kämpfte. Sie wurde dekoriert. Aber nichtsdestoweniger wurde sie, als der Krieg vorbei war, verhaftet und ins Gefängnis geworfen, weil sie „einen Staatsfeind geheiratet hatte“. Sie verbrachte Jahre im Gefängnis, während meine Mutter, praktisch ein Waisenkind, die Hölle durchmachte. Als meine Großmutter entlassen wurde, sagte sie zu meiner Muter: „Es war so furchtbar, dass ich dachte: noch zwei Wochen und ich hänge mich dort auf.“ Aber sie betrog niemals meinen Großvater: sie hätte nur unterschreiben brauchen, dass sie „bedauerte“, ihn geheiratet zu haben. Das tat sie nicht. Offensichtlich war ihr ihre Treue zu ihm wichtiger als ihr Leben.
Sie verließ das Gefängnis, immer noch eine orthodoxe Christin und immer noch Kommunistin!
Der Name meines Großvaters wurde schließlich „rehabilitiert“; er wurde postum wieder zu einem „Helden“ gemacht. Über ihn wurden Bücher geschrieben und meiner Mutter wurde erlaubt, Architektur zu studieren.
***
Was meiner Familie
passierte, war natürlich brutal und furchtbar. Und zu behaupten,
dass die UdSSR eine Art Paradies auf Erden war, würde verrückt
sein.
Aber wir sprechen
über die 30-er und 40-er Jahre. Und in dem Zusammenhang war die
UdSSR definitiv humaner als das westliche Europa und die USA. Das zu
bestreiten, hieße, die elementarsten Statistiker zu leugnen.
„Lass uns
vergleichen“, wurde mir mehrfach von dem größten
südostasiatischen Schriftsteller Pramoedya Ananta Toer gesagt, der
ungezählte Male für den Nobelpreis nominiert wurde, aber ihn nie
bekam, weil er, anders als Solschenizyn, im falschen, pro-westlichen
KZ eingesperrt war. „Lass uns daran denken, dass alles in einem
historischen Kontext passiert.“
Der westlichen
Propaganda gelang es, einige ungeheuer effektive Lügen,
Halbwahrheiten und direkte Erfindungen in Gang zu setzen, die weder
geprüft noch diskutiert werden konnten (nicht, dass die meisten
Leute es überhaupt versuchten): die Zahl der Opfer in den Gulags
wurden übertrieben und die Zahlen der politischen Insassen und der
gewöhnlichen Verbrecher wurden regelmäßig in einen Topf geworfen
(in der Stalin-Ära mussten alle Verurteilten arbeiten in einer Art
Arbeitslager mit furchtbaren Bedingungen, da das Land noch arm war.
Viele Gefangene kamen nie wieder.)
Manche Mitglieder
der sowjetischen und militärischen Elite (einschließlich mein
Großvater) wurden erschossen. Aber geschah das wegen
„Stalinistischem Terror“? Viele Analytiker (russische,
chinesische u. a.) behaupten jetzt, dass der Nazi-Spionage-Apparat
die sowjetische Spionage stark unterwandert hatte. Deutschland wollte
die talentiertesten, loyalsten und tolerantesten Sowjet-Führer und
Generale los werden. Sie identifizierten sie und begannen dann die
schädlichsten, aber erfundenen Informationen über ihre
Abtrünnigkeit zu verbreiten. Mein Großvater z. B. wurde unter der
Anklage, „für Japan zu spionieren“ erschossen, eine lächerliche,
aber irgendwie „logische“ Anklage, da er Linguist war und mehrere
asiatische Sprachen sprach.
Darüberhinaus
hatten Stalin und seine Umgebung genug, worüber sie „paranoid“
werden konnten: die Feindschaft des Westens gegenüber dem jungen
kommunistischen Staat war offensichtlich. Die UdSSR wurde von den
USA, England angegriffen und von brutalen tschechischen Legionen und
anderen Invasionsmächten verwüstet.
***
Jeder mit einer
Spur von Objektivität müsste zugeben (wenn er oder sie nicht das
grundlegende Prinzip des Humanismus leugnet, das besagt, dass alle
Menschen gleich sind, egal welcher Rasse und/oder Nationalität),
dass die kommunistische Sowjetunion viel weniger Verbrechen als die
westlichen Länder unter dem Banner „konstitutioneller Demokratien“
oder „Viel-Parteien-Demokratien“ begangen hat.
Während die
Sowjets damit beschäftigt waren Dutzende Millionen aus der Armut zu
reißen (und wir sprechen z. B. über die Moslems im Nahen Osten, die
Gebiete, wo der Lebensstandard am Ende dem des europäischen Teils
Russland entsprach, aber auch von den zahllosen Minoritäten, die im
riesigen Russland lebten), in einem Gebiet etwa von der Größe
Kongos, wo die Belgier es fertig brachten, 10 Millionen Menschen zu
töten, die Hände abzuhacken und Frauen und Kinder lebendig in ihren
Hütten zu verbrennen.
Die
Deutschen begingen einen monströsen Genozid (oder nennt es
Holocaust) an den Hereros in Namibia, aus keinem anderen offenbaren
Grund, als dass sie ihnen nicht passten. Die ersten
Konzentrationslager auf Erden wurden vom britischen Imperium in
Afrika gebaut; und der französische koloniale Ansturm in
Südostasien, in West- und Nordafrika und sonstwo ist gut
dokumentiert. Die Holländer plünderten, vergewaltigten, töteten
und bereicherten sich in dem großen Archipelago, der jetzt
Indonesien genannt wird.
Die Genozide,
Massenmorde und der Terror, die vom Westen in der übrigen Welt
verübt wurden sind zahllos, aber natürlich wenig berichtet, da
„Auslandshilfe“ für Erziehung und Medien es fertigbrachte,
Kollaborateure in der armen Welt zu trainieren und zu disziplinieren,
um sicherzustellen, dass die Wahrheit über die Vergangenheit im
allgemeinen unter den Tisch fällt.
Selbst das Ende
des 2. Weltkrieges brachte kein Ende der bestialischen Behandlung der
„Eingeborenen“ durch die europäischen und nordamerikanischen
Kolonialisten. Man sollte sich erinnern an die Behandlung der
Menschen im Nahen Osten durch Winston Churchill und andere
verherrlichte britische Führer. All dies ist natürlich gut
dokumentiert, selbst in den Büchern von Winston Churchill, aber wird
selten erwähnt von den disziplinierten und verlässlichen
Mainstream-Medien und der Akademikerwelt, sowohl in den
kolonisierenden als auch den kolonisierten Ländern.
Es gibt ungezählte
Statuen von Winston Churchill oder dem belgischen König Leopold II
in allen Hauptstädten Europas.
In der zweiten
Häfte des 20. Jahrhunderts, während des sogenannten „Kalten
Krieges“, stand die Sowjetunion fest an der Seite der Unterdrückten,
auf der Seite der Befreiungskämpfe für Freiheit in Afrika, Asien
und Lateinamerika. Man fragt sich, wie mächtig die Propaganda
gewesen sein muss, die all dieses in Vergessenheit fallen ließ?
Während Europa
und die Vereinigten Staaten (und ihre konstitutionellen Monarchien
und Viel-Parteien -“Demokratien“) Despoten im Iran, Ägypten, dem
Golf, dem Nahen Osten, Südvietnam, Kambodscha, Südkorea, Chile,
Argentinien, Guatemala, Nicaragua, Uruguay, der Dominikanischen
Republik, Haiti, Brasilien, Kenya, Südafrika, Indonesien und vielen
anderen unglücklichen Plätzen kultivierten, stand die Sowjetunion
an der Seite der kubanischen, nicaraguanischen, tansanischen und
nordvietnamesischen Revolutionen, unterstützte deren Führer, wahre
Helden und Befreier wie Patrice Lumumba und Präsident Salvador
Allende.
Und wir beide –
Noam Chomsky und ich – kamen zu dem Schluss bei unserer jüngsten
Diskussion am MIT, dass der Lebensstandard in Riga, Prag oder
Ostberlin höher als in Moskau sein durfte, während der in Taschkent
oder Samarkand nur geringfügig niedriger war. Der Lebensstandard in
den Kolonien und den Klienten-Staaten des Westens war zehnmal,
zwanzigmal, selbst hundertmal niedriger als der in Washington, Paris
oder London, was oft zum Verlust von Millionen Menschenleben führte.
Ich schätzte,
dass etwa 55 Millionen Menschenleben seit dem 2. Weltkrieg als
Ergebnis des westlichen Kolonialismus, Neo-Kolonialismus, direkten
Invasionen, gesponserten Staatscoups und anderen Akten
internationalen Terrors verloren gingen. Ich unterschätze
wahrscheinlich sehr stark die Zahl, da es ja auch verlorene
Menschenleben durch Hungersnöte, furchtbares Mismanagement und das
direkte vom westlichen Imperialismus verursachte Elend gibt.
Dutzende
Millionen Menschenleben gingen ferner verloren als Ergebnis der
furchtbaren Saat, die vom Imperialismus und dem Kolonialismus gesät
wurde, wovon das sichtbarste Beispiel die Teilung des indischen
Subkontinents ist.
Ich würde
vorschlagen, dass, statt Faschismus mit dem sowjetischen Kommunismus
zu vergleichen, die Linke und die ganze denkende Welt anfangen solltre, das zu vergleichen, was wirklich vergleichbar ist: der Faschismus,
der westliche Kolonialismus und der Markt-Fundamentalismus (der
gewalttätigste und fundamentalistischste Glaube heute auf Erden),
der von westlichen Multi-Parteien-Systemen und „konstitutionellen
Monarchien“ bedient und repräsentiert wird.
***
Wenn ich eine neue
Person treffe, was sehr häufig vorkommt, dann ist für mich die
gefürchtetste Frage die einfachste und natürlichste Frage: „Wo
kommst du her?“
Ich weiss nicht,
was ich sagen soll, ich kann nicht antworten und selbst wenn ich
könnte, würde die Antwort zu unscharf, zu komplex und zu
philosophisch sein. Und obendrein, falls ich mich entscheiden würde
für eine lange und detaillierte Antwort, würde die Information, die
ich gäbe, nicht sehr genau sein.
Ich bin ein
geschworener Internationalist, aber das wird von der Mehrzahl der
Leute, dic ich treffe, nicht als eine Identität angesehen.
Meine Interviewer
und Rezensenten wählen häufig Prag, die ehemalige Tschechoslowakei
oder das heutige Tschechien als meine Identität, aber das ist
gründlich falsch. Prag war niemals meine Heimat. Die Tschecholowakei
war das, wo ich eine höllische Kindheit verbrachte, wo im Winter mir
meine Schuhe mit Urin gefüllt wurden und sie die Kerle
vor der Schule oder dem Gymnastiksaal gefrieren ließen, eine der
zahllosen Strafen dafür, dass ich eine „asiatische Mutter“
hatte. Das ist der Ort, wo ich nach jeder Klasse um mein Leben
kämpfen musste, ab dem Alter von sechs Jahren, weil meine Mutter
nicht nur halb asiatisch war, sondern auch noch halb russisch.
Meine wahre
Identität ist überall verstreut: sie liegt tief und hoch in den
Anden von Peru und Bolivien, wo ich mehrmals dem Tod ins Auge
schaute, als ich über den „schmutzigen Krieg“ Perus schrieb. Sie
liegt in Chile, wird reflektiert von den engen, sich windenden und
oft heimgesuchten Gassen der Hafenstadt Valparaiso, sie liegt bei den
chilenischen Dichtern und den Liedern der Fischer an der Küste. Mein
Identität ist zerstreut in den gewaltigen Gewässern des
Süd-Pazifik, der übersät ist mit winzigen Landflecken – jetzt
Insel-Länder – die von den traditionellen Kolonialmächten
kolonisiert und gründlich zerstört wurden.
Meine Identität
reicht von der Swahili-Küste Afrikas bis rund um die großen Seen
des Kontinents, zu all den Plätzen, die den schlimmsten Genozid der
modernen Geschichte durchmachten, ein Genozid, der von den
europäischen und nordamerikanischen politischen und ökonomischen
Interessen entfacht wurde. Meine Identität liegt auch in den Wüsten
des Nahen Ostens, und wenn ich nur den Sub-Kontinent etwas besser
kennte, würde sie auch dort liegen. In bin zuhause in Havana,
Caracas, Buenos Aires, Onomichi, Beijing, Kapstadt und Kuala Lumpur.
Und ich lebe auch in Japan, Indonesien und Kenya.
Es ist ein totales
Durcheinander, ich weiss, es ist sehr verwirrend und ich kann es
nicht erklären, aber es ist so.
Jahrelang, selbst
Jahrzehnte lang, war meine Heimat dort, wo der Kampf für
Gerechtigkeit und Unabhängigkeit tobte; ich habe Bücher und Artikel
geschrieben, Filme gemacht oder wurde direkt in den Kampf verwickelt.
Ich kann kaum meine Rasse, Kultur oder nationale Identität
ausmachen, und ich versuche es auch gar nicht erst. Ich gehe hin, wo
ich gebraucht werde. Und am Ende auch, wie Garcia Marquez schrieb:
mein Heim ist, wo man meine Bücher liest.
***
Geboren wurde ich
in Russland, in Leningrad (tut mir leid, aber ich kann es einfach
nicht St. Petersburg nennen, wie es jetzt genannt wird, es wird für
mich immer Leningrad bleiben). Ich habe niemals dort gelebt, weil
meine Eltern mich mit in die Tschechoslowakei nahmen, als ich erst
wenige Monate alt war. Aber jedes Jahr setzte mich meine Mutter in
ein Flugzeug, eine jener alten sowjetischen Tupolew-Maschinen mit
Mahagoni-Tischen, Lampenschirmen und schwarzem Kaviar, der auf allen
internationalen Flügen serviert wurde, mit nur einer einzien Klasse,
um mich nach Leningrad zu schicken, wo meine Großmutter auf mich
warten würde, mit einem Schlüsselbund für ein einfaches gemietetes
Zimmer an der Finlandbucht, ein Zimmer, das für mich wie ein
Paradies war. Meine Großmutter hatte immer einen Packen mit
Eintrittskarten und Pässen für die Oper, das Ballet und
Kunstausstellungen. In den kommunistischen Zeiten kosteten sie
nichts, waren aber schwer zu bekommen.
Und sie hatte
Berge von Büchern, die auf mich warteten. Sie musste sie mir
vorlesen, obwohl ich selbst lesen konnte. Sie las bis spät in die
Nacht und wenn es draußen regnete, waren das besonders magische
Augenblicke.
Vom Moment an, wo
ich Leningrad verließ, begann ich die Tage zu zählen, die bis zu
meiner Rückkehr vergingen. Ich hatte mein besonderes geheimes Buch,
in dem ich jeden Tag, der ging, verzeichnete. Das kalte tiefe Wasser
der Newa, ihre Brücken, die offenen Plätze, die Schönheit dieser
ehemaligen russischen Hauptstadt, die so oft in Nebel gehüllt war,
das Pathos der russischen und damals sowjetischen Geschichte, das
Pathos der Geschichte meiner eigenen Familie – all das fesselte
meine Sinne, ließ mich träumen, machte mich frühzeitig erwachsen.
In der
Tschecholowakei vermisste meine Mutter Russland furchtbar. Sie weinte
fast jede Nacht. Auch sie las mir Bücher vor und eine Menge
Gedichte.
So hatte ich keine
eigentliche Kindheit, aber beide Frauen schafften es, aus mir einen
Schriftsteller zu machen und in einem sehr frühen Alter. Ich erbte
ihren Kampf, ihre 900-tägige Belagerung, ihren Krieg, ihr Russland.
Beide Frauen
reichten alles an mich weiter, aber nicht einfach nur das Leiden, die
Gefängnisse und die Kriege sondern auch große Hoffnung, die
Fähigkeit zu träumen, Enthusiasmus, Optimismus und eine große
Solidarität. Sie lehrten mich, dass man immer aus dem Nichts
aufbauen konnte oder aus der Asche neu bauen konnte. Und diese
Liebe, wenn sie wahre Liebe ist, ist nicht etwas, was verschwindet,
es verflüchtigt sich nicht in einem Monat und nicht in vielen
Jahren.
Sie reichten mir
auch ihre Liebe für ihre Stadt weiter; ihre verlorene
aber niemals vergessene Liebe.
***
Jetzt, nach all
diesen Jahren, kam ich zurück nach Leningrad. Mittlerweile war ich
mehr Lateinamerikaner oder Asiate als Russe. Meine Muttersprache
fühlte sich plötzlich so schwer und rostig an: meine Aussprache war
zwar immer noch perfekt, aber die Sprache war archaisch und
über-höflich.
Ich kam erschöpft
zurück, nachdem ich mein großes Buch in London vorgestellt hatte –
das Buch über Indonesien und wie der Westen das Land nach dem
US-gesponserten Coup von 1965 ruiniert hat. Ich kehrte zurück,
nachdem ich gerade meinen 160 Minuten Dokumentarfilm über den
Genozid in der Demokratischen Republik Kongo beendet hatte und
nachdem ich in Uganda und dann an der türkisch-syrischen Grenze
gearbeitet hatte.
Ich fühlte mich
einsam und sehnte mich verzweifelt nach jemandem, den ich mochte, um
meine Geschichte zu erzählen. Aber es ergab sich, dass niemand in
Leningrad zu mir stieß.
Ich wanderte durch
die Straßen, so vertraut und so fremd.
Ich lief zur alten
Bucht in Zelenogorsk, aber sie hatte sich verändert; die Marina war
voller Privatboote und Yachten, statt meinen alten Schleppern und
Patrouillen-Booten.
Ich ging den Wald
besuchen, wo der tote Körper meines Großvaters aus dem Zug geworfen
worden war. Jetzt ist es der Gedenkfriedhof, tatsächlich ein
Gespenster-Wald, in dem Namen und Fotos an Bäume genagelt sind. Ich
wollte gar nicht hierher kommen aus der Stadt, in der ich geboren
war, von Leningrad, sondern von Helsinki aus, von einem neutralen
Ort, aber es sollte nicht sein.
Der Wald war
still. Es gab ein paar Trauernde, aber ansonsten war alles still.
Mein Moslem-, Kommunisten-, Chinesen-Großvater war hier. Mein
Großvater, der Linguist, der Gesundheits-Minister für Kasachstan,
ein Mann, der sein ganzes Leben der Revolution gab, aber in Ungnade
fiel und getötet wurde, in diesen ruhigen Wald geworfen, ohne
Respekt und ohne Ritual.
Es war leicht,
Schlüsse zu ziehen, alles zu verurteilen. Aber ich hatte genug über
ihn gehört, um zu wissen, dass er niemals seine Überzeugung
verraten hat, genau wie meine Großmutter es niemals tat.
Bevor sie starb,
fragte ich meine Großmutter: „Du hast nie wieder geheiratet. Du
bist jahrzehntelang so schön geblieben, nachdem mein Großvater
starb. Warum?“
Sie lächelte
ihr schlichtes Lächeln. „Dein Großvater, „sagte sie, „war ein
sehr großer Mann. Es ist äußerst selten, einen Mann wie ihn zu
treffen. Andere reichten ihm nicht einmal bis zur Schulter.“ Und
sie meinte nicht die Größe meines Großvaters.
Er war ein
Kommunist, was für ihn einfach der Prozess bedeutete, eine viel
bessere Welt aufzubauen als jene, die er aus seiner Kindheit kannte.
Im Wald setzte ich
mich ins Gras. Es war kalt. Nach all den Kriegen, über die ich
geschrieben habe, nach 145 Ländern, die ich besucht habe, den
Dutzenden von Büchern, die ich geschrieben habe und den Filmen, die
ich produziert habe, nach all diesem Kampf, hatte ich plötzlich das
Bedürfnis, mich an jemanden anzulehnen, nur für diesen Moment; ich
wollte sprechen, gehalten werden, meine Geschichte erzählen, von
Anfang bis Ende. Ich habe mir nie was aus Autobiographien gemacht,
aber jetzt wollte ich verstanden werden. Aber am Ende kam ich allein,
nur mit meiner Leica und einem dünnen Buch mit Gedichten von Antonio
Guerrero Rodriguez, einer der fünf kubanischen Patrioten, die brutal
in Miami eingesperrt wurden.
Meine ganze
Familie mütterlicherseits war zerbrochen und zerstreut. Aber wir
waren alle Kämpfer.
Wie mein Großvater
und meine Großmutter musste ich weitermachen: ich musste kämpfen
und für das streiten, woran ich glaube. Wie sie auch, weiss ich, wie
kurz das Leben ist, wie wenig Zeit man hat, wie wertvoll es ist und
wie mächtig der Feind ist.
***
Später fuhr ich
mit der legendären Leningrader Metro mit all ihren
Untergrundpalästen und den alten baufälligen Wagen aus der
Sowjet-Ära.
Ich las weiter
Antonio Guerrero Rodriguez, in der 2-sprachigen spanisch-russischen
Ausgabe, die mir der Übersetzer meiner Bücher in Kiew geschenkt
hatte.
El amor que expira
no es amor
Die Liebe, die
erlöscht ist keine Liebe
El verdadero amor
pertenece
Die wahrhaftige
Liebe überdauert
A todo el tiempo,
a la tierra toda
Alle die Zeiten
und auch die ganze Erde
Sin Temor enfrenta
tempestades
Ohne Furcht
widersteht sie Stürmen
Resiste hasta el
filo de la muerte
Widersteht bis
über den Tod hinaus
Y, como la natura,
es eterno.
Und, wie die
Natur, ist sie ewig.
In diesem
erstaunlichen Gedicht, geschrieben in einem Gefängnis in Miami,
meint Rodriguez, dass Liebe, die vergeht, keine wirkliche Liebe ist.
Dass wahre Liebe selbst dem Tod widersteht und wie die Natur ewig
ist.
Ich bemerkte,
dass eine junge Dame über meine Schulter hinweg mitlas. Nach einer
Weile fragte sie mich in gutem Spanisch: „Ist es wahr, was er
sagt?“ - Auch auf Spanisch antwortete ich: „Ja, sie sind im
Gefängnis, sie alle. Es ist furchtbar.“
„Das ist es
nicht, was ich meine“, sagte sie mit einer gewissen Dringlichkeit.
„Ist es wahr, was er sagt? Dass Liebe ewig ist oder es ist keine
Liebe?“
Ich war verblüfft,
da dies nicht einmal in Buenos Aires passiert wäre. So ein Austausch
konnte nur in Havana stattfinden – und hier. Dann wurde mir klar,
dass dies schließlich meine Stadt war, die Stadt, in der Dichter von
Millionen gelesen werden, und dass diese Stadt mich zum
Schriftsteller gemacht hat. Ich schaute das Mädchen an, schaute ihr
gerade in die Augen und erwiderte auf Russisch: „Meine Großeltern
dachten so. Ich weiss nicht, ob es die Wahrheit ist, aber ich habe
immer gelebt, als wäre es so.“
Das Mädchen
nickte. Sie sagte nichts, aber als sie den Wagen an der nächsten
Station verließ, schenkte sie mir das strahlendste Lächeln, das ich
seit Jahren erhalten habe. Offenbar hatte die Stadt ihre eigene Art,
mir Stärke zu verleihen.
Draußen, am Ufer
der Newa, lehnte ich kurz meine Stirn an die Granitmauer, die den
Gehsteig von der großen Wasserstraße trennt. Der Stein war kalt,
erfrischend.
Leningrad
versuchte nicht, mich zu halten. Es war zu stolz, zu riesig. Aber ich
fühlte, dass es mich umarmte, bevor es mich zurück in den Krieg
schickte, in die Schlacht. Ich musste das Erbe jener weiterführen,
die für das Überleben der Menschheit in den 40-er Jahren gekämpft
hatten. Ich kannte alle die Plätze, die belagert wurden; ich kannte
so viele Plätze auf dieser Erde, die schlimmer als irgendeine Hölle
waren, die religiöse Theorien erdenken können. Ich kannte wirklich
so viele von ihnen. Ich bin verpflichtet zu kämpfen und zu arbeiten,
Tag und Nacht.
Wie Rodriguez und
andere klar sahen, muss man kämpfen, wenn Männer, Frauen und Kinder
gemetzelt werden, wenn ganze Nationen und Kulturen zerstört werden.
Wenn Ungerechtigkeit Gerechtigkeit genannt wird und in ihrem Namen
die Grausamkeit herrscht.
Mit den tiefen
Wassern der Newa vor mir flüsterte ich, wie ich es als Kind machte,
wenn ich zur Stadt sprach: „Jetzt werde ich gehen, aber ich werde
zurückkommen. Bitte, warte auf mich.“
André Vltchek ist
Romanschriftsteller, Filmemacher und untersuchender Journalist. Er
hat über Kriege und Konflikte in Dutzenden von Ländern geschrieben.
Sein Buch über den westlichen Imperialismus im Südpazifik 'Oceania'
wurde bei Lulu verlegt. Sein provokatives Buch über Indonesien nach
Suharto und das markt-fundamentalistische Modell heisst 'Indonesia –
Der Archipel der Angst' erschien bei Pluto. Nachdem er viele Jahre in
Lateinamerika und Ozeanien gelebt hat, wohnt und arbeitet Vltchek
gegenwärtig in Ostafrika und Asien. Er kann auf seiner Webseite
erreicht werden. Phänomenal, was dieser Mann alles gemacht hat.
Ist das eine Menge Futter!
AntwortenLöschenAber das gefällt mir, die Verknüpfung von geschichtlichen Meilensteinen und Feinheiten, wie Vaterland und Mütterchen Russland!
Afrika schreibe ich fortan so "Afreeka"!
Darauf gebracht wurde ich durch einen Song der Gaddafi gedenkt:
http://www.youtube.com/channel/UCjDxsD3Sop9TcCbdP8nzBSQ?feature=watch
Vielen Dank, Mad mad --- ein wundervolles Lied. Kann ich nur allen empfehlen.
AntwortenLöschenVielen Dank. Ich habe noch nicht alles gelesen, aber ich muss mich erst einmal bedanken.
AntwortenLöschenHoffentlich begreifen es genug Menschen, gerade jetzt wo dieser Kapitalismus des Markt-Fundamentalismus sich selbst zu verschlingen scheint mit Krisen inklusive ungehemmter Umverteilung von Fleißig nach Reich oder besser Super-Reich in der Zeit des steil nach oben steigenden Teils dieser exponentiellen Zinseszins-Kurve als Ausdruck der Verschuldung ganzer Völker an die ständig zu "Rettenden", jetzt auch der Völker, die bisher die Kolonialherren beherbergten.
Ich mag ihn wirklich fast bin ich ein wenig sein deutschsprachiges Gegenstueck . Dass er eine etwas naïve Einstellung vom Kommunismus hat der tausendfach seine eigenen Leute auch im II WK ermordete um die Russen gegen die deutschen aufzubringen sei ihm verziehen . Auch dass er nicht Weis das Molotov Hitler de facto ein Ultimatum stellte dass einer Kriegserklaehrung gleich kam und erst dann die deutsche Angriffsvorbereitung anlief. Aber gut jeder hat aus guten Grund seine Helden, die Belagerung Leningrads war der schwerste Fehler der deutschen Armeefuehrung die fuer ganz Russland und dem Osten kein brauchbares Konzept hatte und so Stalin faktisch die Iniziative ueberliess.
AntwortenLöschenAls man umzudenken began war es laengst zu spaeht.
Was er nicht versteht der I nd II WK war das Vorplay des Westens und Russland spielte in diesem Spiel den Idioten der die Macht des Westens durch das Blut seiner Menschen ermoeglichte. Bis heute haben sich weder Russland noch Deutschland davon erhohlt.
Der Faschismus haette nicht einmal so lange in Deutschland ueberlebt wie der Kommunismus in Russland spaetens 1960 waere damit schluss gewesen.
Also diese dummen anti-kommunistischen Sprüche, die man hunderttausend Male gehört hat, gehen mir gewaltig auf den Keks. Und immer den Faschismus entschuldigen und schönmalen. Passt zusammen.
Löschensie werden sie wohl wieder und wieder hören, bis sie sich mit ihrem inhalt auseinandergesetzt haben. niemand redet den faschismus schön, wenn er auf die zahlreichen und zum großen teil systemisch bedingten verbrechen des kommunismus hinweist, die sich aus seinem nicht-funktionieren ergeben (empfehle das buch "die gemeinwirtschaft"). jemanden zu beschuldigen, er würde den faschismus schönreden, ist nach veröffentlichung IHRES artikels "die größte verleumdungskampagne der weltgeschichte" eine UNERHÖRTE DREISTIGKEIT und auch ein guter beweis, dass roter und brauner sozialismus weniger unterschiede haben als ihnen bewusst ist!
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